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Josef Strau

Untersuchung des Selbst Über Birgit Megerle

Birgit Megerle, "Das Phantom", 2006 Birgit Megerle, "Das Phantom", 2006

Die Gemälde von Birgit Megerle zeichnen sich durch einen kalkulierten Effekt der Immersion aus, der sich aus den Figurenkonstellationen ihrer subjektiv gefärbten Gemälde ergibt. Modisch gekleidet und doch wie entrückt, aufeinander bezogen und doch in sich gekehrt, klar konturiert und doch wie hinter einem Grauschleier gefangen, treten sie dem Betrachter wie auf einer Bühne entgegen. Das Gefühl, die Motive seien trotz ihrer zeitgenössischen Bezüge aus der Zeit gefallen, wird dabei durch surreal anmutende Details noch befördert.

Eine geradezu berauschende Wirkung entfalten diese Gemälde im Kontext der sozialen und ökonomischen Realität einer Kunstmesse – Josef Strau war auf jeden Fall hin und weg.

Immer, wenn ich auf diesen bestimmten Tag meines Lebens zurückblicke, erscheint er mir nun wie ein ganz besonderer Tag. Mit einem Mal betrachtete ich eine Kunstmesse nicht mehr als sich bewegender Besucher – als nomadischer Kommentator in endlosen Gängen –, sondern als unbeweglicher Gastgeber, der an sein eigenes Territorium gebunden war, da ich nun selbst Galerist war und eine mir leicht unheimliche Rolle spielte. Die anfängliche Aufregung aufgrund meiner subjektiven Verwandlung legte sich allmählich, und ich kam mir nur noch wie eine Kamera vor, die aufgehört hat, bewegt und herumgetragen zu werden, die nicht mehr durch die Wahrnehmung von mannigfaltigen bühnenartigen räumlichen Einheiten bestimmt ist, in denen unaufhörlich strömende Diskurse gezeigt werden. Ich fühlte mich, als sei ich stattdessen wie auf einem Stativ fixiert, in einer Ecke abgestellt und zur mentalen Unbeweglichkeit degradiert. Als Eigentümer der Galerie Meerrettich war ich an meinen Tisch gekettet und statt Kunstwerke zu betrachten, musste ich nun plötzlich die bewegten Betrachter betrachten. Ich schaute durch den Gang mit den langsam dahinströmenden Besuchern zum Stand auf der anderen Seite, und mein Blick richtete sich mit einer Beharrlichkeit, die selbst mir zuvor unbekannt war, stets auf ein kleines dunkles Gemälde, das entfernt an der gegenüberliegenden Wand hing. Dieses Bild zeigte einige in grauen und braunen Farben gehaltene Figuren, die sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Messebesuchern hatten – mit denen nämlich, die ihren Schritt für einen Augenblick verlangsamten, die oft paarweise auftraten, ihre Augen in verschiedene Richtungen gewandt, als wären sie selbst wie Kameras, als bewegten ihre Augen sich automatisch für den späteren Schnitt, in der Hoffnung, besondere Objekte mit einer bestimmten Anziehungskraft aufzuspüren, einer Anziehungskraft, die höchstwahrscheinlich ihre subjektiven, vorgefertigten Vorlieben reflektiert. Es schien fast, als sei das Gemälde genau für diese besondere Beobachtersituation auf einer Kunstmesse gemacht, um zunächst einfach als Spiegel der Besucher selbst zu fungieren, indem es gewisse Gesten für einen Moment festhielt, als wären sie Schauspieler, die sich aus dem Weg gehen, wie leicht unbehagliche Besucher einer profanen Kirche. Aber zweitens, und dies ist wichtiger, schien das Bild für le condition artfairean gemacht, da es die Blicke anzog. Es war eines der wenigen, die eine gewisse magnetische Kraft auf den umgebenden Raum ausübten. Es dirigierte den Betrachter, näherzukommen und vor ihm zu verweilen. Es war magisch. Ich ging davon aus, dass im Fall des „Kunstmesse“- Gemäldes von Birgit Megerle die Macht über den Blick ein Ergebnis der verwirrenden und in hohem Maße kodifizierten Beziehung zwischen den dargestellten Figuren war, doch dies kann nicht der einzige Grund gewesen sein, denn ich erinnerte mich, dass mir das Gleiche einmal bei einer Party im Haus eines Galeristen passiert ist, wo ein sehr kleines abstraktes Gemälde von Mondrian hing, ebenfalls ein Magier in der Sphäre der weltlichen Religion.

Der dritte Grund für meine (fälschliche) Annahme, das Bild müsse eine besondere Eigenschaft haben, um als Objekt zu dienen, das sich der besonderen Welt der Präsentation auf einer Kunstmesse widmete, lag darin, dass es ein Angriff auf die Phänomenologie gewisser vorherrschender Modelle der visuellen Zeitgenossenschaft, die in den Räumen der Galerien dominieren, zu sein schien. Insbesondere in Europa äußert sich dies oft entweder in einem elitären Institutionalismus, verbunden mit einer Haltung konzeptueller Anspruchskunst – der tatsächlich oftmals als von jedem originellen Geist befreiter Konzeptualismus oder Intellektualismus auftritt –, oder als spaßiger Neo-Pop, dem jede Absicht einer Demontage der „Meisterwerk-Ware“ abgeht. Birgit Megerle schafft einen neuen Kontext, indem sie den Blick, die Haltung und sogar die Gedanken eines bestimmten Publikums bestimmt. Auf gewisse Weise resultiert ihre Wirkung aus der Entscheidung, Menschen aus ihrer Umgebung als Modelle für die dargestellten Szenen und Geschichten zu nehmen. So geht sie in den theaterhaften Szenen den Möglichkeiten von psychologischen Verwandlungen nach, die den Modellen innewohnen.

Während der folgenden Tage kam ich morgens auf die Kunstmesse und grüßte, nach Einnahme des unvermeidlichen Kunstmesse-Aspirins, das spiegelartige Bild auf der gegenüberliegenden Wand. Meine ehemaligen Genossen – die Künstler – hatten die Stadt bereits verlassen, es war also Zeit, sich mit anderen Galeristen auszutauschen. Auch Sammler standen herum, um sich gegenseitig ihre „Entscheidungen“ zu zeigen, während ich weiterhin von „meinem“ besonderen Bild besessen war und so, statt der Aufgabe nachzukommen, den Handel auf meinem eigenen Stand anzukurbeln, nun verwirrenderweise erpicht darauf war, ein für alle Mal ihre Art der Wertschöpfung zu verstehen. Also begann ich, die Sammler zu meinem Lieblingsobjekt am Stand auf der anderen Seite zu führen.

Viele von Birgit Megerles figurativen Bildern lassen erkennen, dass sie nicht lediglich irgendeine Person porträtieren, sondern dass sie in der Darstellung deren augenscheinliche, natürliche Eigenschaften abändern, um die inhärenten, jedoch nicht realisierten Eigenschaften der porträtierten Person zu untersuchen. Diese Personen sind häufig Freunde von ihr, Mitglieder ihres künstlerischen Umfelds. Aus dieser Untersuchung des Selbst – ein riskanter, radikaler psychoanalytischer Prozess – ergeben sich transformative visuelle Erzählungen. Es handelt sich nicht nur um die Anwendung einer Form des Rollenspiels; es bedeutet die Einführung von Mitteln der Literatur in die Kunst durch den Einsatz eines wirksamen Mechanismus der Fiktionalisierung. Das Aufgreifen von Elementen der Fiktion ist im Kunstkontext, wo schnell Fragen gestellt werden wie die, ob dies nicht tatsächlich Schöpfungen der sexuellen Fantasie der Malerin seien, ein gefährliches Spiel. Sie erschafft eine echte Person neu, indem sie deren Erscheinung abwandelt, durch die Aneignung eines anderen Kleidungsstils, einer anderen Frisur oder durch artifizielle Gesten sowie durch die als Verweise dienenden Objekte in der Hintergrundszene. Früher hatte ich angenommen, dass Megerles Bilder in einer Art Mimikry narrativer Malerei eher eine allgemeine Atmosphäre der Bedeutung oder der „Narrativität“ schaffen, statt echte Erzählungen im literarischen Sinne zu bieten. Der Betrachter, so dachte ich, würde lediglich dazu verführt zu sehen, dass eine Geschichte erzählt werde, die Beziehung zwischen der Figur und den Gegenständen im Hintergrund würde mögliche Erzählungen bloß andeuten. Das wäre für sich bereits aufregend genug, um den Betrachter zu fesseln, doch der Punkt ist, dass sie alle mit etwas verbunden sind, das in der realen Person angelegt ist, durch fiktionale Transformation aber erweitert wird. Genau diese fiktionale Änderung des Realen im Feld der Kunstpraxis durchzuführen, bedeutet, dass auch ein objektives Problem der Kunstproduktion gelöst werden will. Megerle muss sich mit dem allgemeinen Mangel an Bewusstsein für die Fiktionalisierung realer Subjekte in der allgemeinen Praxis anspruchsvoller Kunst oder mit der üblichen Zurückweisung psychoanalytischer Modelle auseinandersetzen. Der Modus der Fiktionalisierung des Realen muss klar von dem weit verbreiteten narrativen Modus der reinen Referenzialität unterschieden werden. Sowohl fiktionale wie psychoanalytische Modelle werden daher oft als zweitrangig oder als niedere Kunstformen kategorisiert.

Die häufige Anwendung des klassischen Begriffs „Dandy“ auf Birgit Megerle und ihr Werk bezieht sich wahrscheinlich auf die offensichtlich dandyhaften Motive und die Inhalte ihrer Bildwelt, aber vielleicht passt er noch viel genauer auf ihre riskanten Operationen, die literarischen Absichten hinter einem Malstil zu verstecken, der üblicherweise als sekundäre Ausdrucksform wahrgenommen wird. Sie mag sogar noch dandyhafter bis zur Grenze der Fehlinterpretation erscheinen, da sie ihre Arbeit mit einer Geste der bewussten Verweigerung, einfache Kategorien zu akzeptieren, zugunsten jedweder Art von Ambivalenz ausstellt. Ambivalenz charakterisiert die gemalten Figuren, und sie bestimmt, was weniger offensichtlich ist, ihre verschiedenen Malstile. Das Bild, das ich auf der Kunstmesse sah, ist eines dieser ambivalenten Gemälde. Auf den ersten Blick scheint es rein „funktional“ gemalt zu sein, die Farben scheinen sich lediglich der Repräsentation der Figur unterzuordnen. Doch diese Farben ordneten sich keineswegs den Ansprüchen der Figuren unter, sondern vielmehr der Repräsentation oder den Ansprüchen der Malstile, was in der flach gemalten Polizistenfigur resultiert. Es hat etwas Komisches, wie diese mit klaren Konturen, aber ohne jedes Licht oder jeden Schatten dargestellt wird, auf gewisse Weise irreal, als trete sie aus einer undefinierten Dunkelheit hervor. Die Figur in der Mitte ist beleuchtet, dreidimensional. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sie die Nähe des Polizisten überhaupt wahrnimmt, sie schaut nicht einmal von ihm weg, ihr Blick ist auf etwas außerhalb des Bildes gerichtet, ohne es jedoch fokussieren zu wollen, und hinter ihr befindet sich ein modernistisches Raster minimalistischer Architektur. Doch zufällig ähneln beide Figuren der sie umgebenden realen Welt, in der sie ausgestellt waren, der Kunstmesse, deren Besucher neben dem Bild ihre Erscheinung fast spiegelten. Die magnetische Anziehungskraft des Bildes bestimmte nicht nur meinen Blick, sondern auch die Transformation meiner Handlungen in der neuen Rolle eines Galeriebesitzers während der Tage auf „meiner“ ersten Kunstmesse. Es beherrscht noch immer den Großteil meiner Erinnerungen an die vielen angenehmen Treffen und unvergesslichen zufälligen Begegnungen während der gesamten Zeit, während ich vieles über die Rollen und die Gedanken sehr unterschiedlicher Besucher der Kunstmesse lernte. Einmal standen wir, ein (deutscher) Sammler und ich, vor dem Blicke einfangenden Bild der zwei Menschen. Paradoxerweise schaute er jedoch kein einziges Mal auf das Bild. An diesem Tag musste ich zu meiner großen Enttäuschung oft beobachten, dass die Besucher sich gegenseitig andere kleine Zeichnungen zeigten, die links daneben an der Wand hingen, nicht aber das magische Gemälde. So wie der (deutsche) Sammler stattdessen nur mich anschaute. Er blickte sogar auf meine Schuhe und wieder hoch. In der kurzen Zeit dieser besonderen Begegnung wollte ich ein Gespräch über die Qualitäten des Bildes führen. Er aber interessierte sich nur für die Frage nach meiner Identität, dafür, was ich jetzt war, und fragte mich: „Bist du jetzt ein Künstler oder ein Galerist?“ Ich antwortete, dass ich jetzt, wie er sehen könne, im Raum der Galerie als Galerist arbeite, bei anderen Gelegenheiten aber auch ein Künstler sein könne. Das jedoch akzeptierte er nicht und setzte nach, indem er sagte, dass ich wissen müsse, was er meine; dass er gefragt habe, ob ich wirklich ein Galerist sei oder ob ich wirklich ein Künstler sei. Ich machte einige Gesten in Richtung des Gemäldes. Wie wir so eng und nah beieinanderstanden, versuchte ich das Gemälde ins Zentrum unserer Blicke zu rücken, es zum Beweis meines Arguments zu machen, aber es wollte nicht funktionieren. Er betrachtete erneut meine Schuhe, und ich zögerte erneut mit meiner Antwort, dass wir manchmal das sind, was wir darstellen; dass wir manchmal sogar zu den Rollen werden, die wir uns selbst zuschreiben; dass wir in der Transformation inhärente unrealisierte Eigenschaften sichtbar machen. Unausgesprochene Aggression eines Widerstands kam auf. Er sagte, dass er nicht glaube, dass ich wirklich ein Galerist werden könne, und schloss dann bedächtig, dass ich dann wahrscheinlich auch kein guter Künstler sein könne, und wir beide verließen den Ort neben dem Gemälde mit der Anziehungskraft.

(Übersetzung: Robert Schlicht)