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Paul Chan

Miracles, Forces, Attractions, Reconsidered

Insane Clown Posse, "Miracles", 2010, Videostill Insane Clown Posse, "Miracles", 2010, Videostill

1.

„Miracles“ lautet der Titel eines Songs aus dem Jahr 2010 der Gruppe Insane Clown Posse (ICP), einer amerikanischen Horror-Metal-Hiphop-Band. Bereits seit über einem Jahrzehnt produzieren Violent J und Shaggy 2 Dope, das Duo, aus dem ICP besteht, einen steten Strom von mittelmäßigen Rap-Songs, die Gewalt („I stab people“, 1999, und der Nachfolgesong „Still stabbin“, 2000), Sexualität von Jugendlichen („I stuck her with my wang“, 1994) und Horrorfilmgrotesken („Carnival of carnage“, 1992, und der Klassiker „Amy´s in the attic“, 1994) verherrlichen. Auf der Bühne und auf Fotos sind sie als Clowns geschminkt. Wenn man an Bruce Naumans „Clown Torture“ (1987) als George-Romero-Film zu einem 4/4-Takt denkt, hat man eine ganz gute Vorstellung.

Der Song „Miracles“ war für ICP ein großer Hit, obwohl er keine der üblichen lyrischen Theatralik enthielt, für die die Gruppe bekannt ist. Es gibt keine Leichen, keine Schlampen. Niemand wird erstochen. In Wahrheit ist „Miracles“ ein zutiefst religiöser Song. Ein Ausschnitt:

„Take a look at this fine creation
And enjoy it better with appreciation
Crows, ghosts, the midnight coast
The wonders of the world, mysteries the most“

Der Song zählt dann noch einige weitere Dinge auf, für die die Gruppe dankbar ist: Kinder, Regenbogen, Pelikane und so weiter. Der Song ist ein Pop-Gebet an die Herrlichkeit der Schöpfung und darüber hinaus an die Macht des Schöpfers, der die alltäglichen Wunder ermöglicht. ICP scheinen Gott gefunden zu haben, wenigstens meinen sie, dass die Lobpreisung Gottes gut fürs Geschäft ist. Dies ist keine unübliche Wandlung für Entertainer in der Pop-Branche, insbesondere in Amerika, wo die Verstrickung von Religion, Profit und Macht eine ehrwürdige Tradition hat.

Für ICP sind alltägliche Dinge aufgrund ihrer bloßen Existenz Wunder. Doch die wundersamsten Dinge sind jene, die einen besonderen Einfluss auf den Verlauf unseres Lebens ausüben. Musik zum Beispiel:

„And music is magic, pure and clean
You can feel it and hear it, but it can´t be seen“

Musik veranschaulicht das Wundersamste, da sie uns in die eine oder andere Richtung lenken kann, ohne physisch zu existieren. Sie wirkt wie eine unsichtbare Kraft: magisch, wie aus einer anderen Welt und scheinbar jenseits des menschlichen Verstands. So wie ein Magnet.

„Water, fire, air, and dirt
Fucking magnets, how do they work?
And I don´t wanna talk to a scientist
Y'all motherfuckers lying, getting me pissed„

In der Mahnung „Gegen Eitles und Weltliches Wissen“ (1418) vertritt Thomas von Kempen eine ähnliche Position. Er schreibt, in der „Nachfolge Christi“: „Zu wem ich spreche, der ist bald weise und macht große Fortschritte im Innenleben. Weh denen, die sich bei den Menschen alle möglichen Kenntnisse einholen, aber sich nicht für meine Dienste interessieren, sie werden nur Leid erfahren.“ Für Thomas von Kempen befleckt empirisches Wissen das Göttliche und schmälert den Ruhm Gottes, wodurch dessen Einfluss auf die Menschheit geschwächt werde. Violent J und Shaggy 2 Dope sind der gleichen Überzeugung in Bezug auf das Mysterium von Wundern. Wie bei Magneten.

2.

Die Beziehung zwischen Magneten, dem Wundersamen oder Göttlichen sowie dem Einfluss, den sie auf das Leben der Menschen ausüben, wird in einem frühen Dialog Platons erörtert. In „Ion“ diskutiert Sokrates mit einem gleichnamigen Schauspieler, der ein großer Bewunderer Homers ist. Tatsächlich rezitiert Ion auf der Bühne ausschließlich Werke von Homer und behauptet, dass dieser der einzige Dichter von Belang in der antiken Welt sei. Sokrates hört Ion zu, um dann über das Wesen dieser seiner poetischen Inspiration zu spekulieren. Er meint, es sei „eine göttliche Kraft, welche dich dabei treibt, gerade wie sie in dem Steine liegt, welchen Euripides den Magneten nannte, während er gewöhnlich der herakleische heißt. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe an, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft mit, dass sie eben dieses tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe anzuziehen“.

Sokrates nimmt an, dass Ion auf dieselbe Weise von Homer angezogen wird, wie ein herakleischer Stein (der heute als Ferromagnet bezeichnet wird) Eisenringe anzieht. Und sobald er von Homer „magnetisiert“ ist, besitzt Ion eine ähnliche – wenn auch schwächere – Kraft, um andere durch sein Werk anzuziehen. Inspiration funktioniert nach Sokrates wie die unsichtbare Kraft, die Magneten in der natürlichen Welt aufweisen. Aber die Kraft selbst ist nicht natürlich, sondern göttlich. Sokrates sagt, dass „diese schönen Gedichte nichts Menschliches haben, noch von Menschen gemacht sind, sondern Göttliches und von Göttern, wobei die Dichter aber nichts sind als Sprecher der Götter, besessen jeder von seinem eigenen Gott“.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs behauptet Sokrates, dass Dichter überhaupt keine Fähigkeiten und keinen freien Willen besäßen, sondern lediglich als Vehikel für die Botschaften der Götter dienten. Inspiration ist tatsächlich eine höhere Form der Unfähigkeit. Aber das ist der Preis, den die Dichter Sokrates zufolge zu zahlen haben, um Werke schaffen zu können, die den Magnetismus ausstrahlen, der vonnöten ist, um Aufmerksamkeit und Bewunderung anzuziehen.

3.

Mit einer befreundeten Malerin stritt ich einmal darüber, ob Kunst lebendig sein könne oder nicht. In ihren Arbeiten erhält sie verschiedene Traditionen der malerischen Abstraktion künstlich am Leben. Umrisse von Formen, die an einen Schuh erinnern, wie Guston ihn gezeichnet haben könnte, schweben über sattem Olivgrün und Ocker wie auf einer unfertigen Bildecke von Josh Smith. Und so weiter. Dadurch, dass sie diese Elemente auf der Leinwand neben- und gegeneinandersetzt, findet ihrer Ansicht nach eine – materielle wie konzeptuelle – Reaktion statt, die fast alchemistisch zu nennen sei, da sie neue Formen des Lebens erschaffe. Sosehr ich ihr Werk respektiere, widersprach ich ihr doch. Ich erwiderte, dass ihre Bilder nicht lebendig sein können, weil Bilder nicht im eigentlichen Sinne sterben können. Sie können zerstört oder verworfen, ja sogar aufgegessen werden, aber Bilder können ihre irdische Verstrickung nicht lösen, da sie keine Sterblichkeit erfahren können. Und überhaupt (so fügte ich hinzu) läuft die Vorstellung eines lebendigen Werkes im Wesentlichen auf die Gleichsetzung eines Dings mit einem Lebewesen hinaus. Und wenn das der Fall ist, was hinderte einen dann daran, den Zauberspruch des magischen Denkens umzukehren und eine Person als bloßes Objekt zu behandeln? Gefährliches Fahrwasser.

Was ich sagte, war nicht falsch, aber ich habe inzwischen verstanden, dass es auch nicht richtig war. Oder vielmehr, dass dieser vor Jahren ausgetragene Streit eigentlich nichts mit der Frage zu tun hatte, ob Kunst lebendig sein kann oder nicht. Meine Künstlerfreundin kennt den Unterschied zwischen einem lebenden Wesen und einer unbelebten Sache. Sie vertritt keinen künstlerischen Animismus. Wofür sie sich vielmehr stark machte, so glaube ich, war die Möglichkeit der Kunst, wie ein Magnet zu funktionieren, indem sie Elemente aus der empirischen Welt heraus- und zu sich heranzieht, so dass ihre Komposition deren übliche Konfiguration aufzuheben und sie neu zu ordnen vermag und dadurch neue Anziehungskräfte erzeugt. Ihre Ansicht, dass Kunstwerke leben können, scheint mir nun eine andere Art der Beschreibung der unerklärlichen und unsichtbaren Macht zu sein, die manche Werke haben, die uns zu sich heranziehen und unsere Aufmerksamkeit gewinnen, als seien sie lebendig und als forderten sie uns dazu auf, das Mysterium ihrer eigenen Schöpfung zu erfahren. Es geht weniger darum, unorganisches Leben zu schaffen, als um die Annahme eines materialistischen Kélan vital.

4.

Aber ein Kunstwerk besteht mitnichten nur aus einer Anziehungskraft. Die Macht der Kunst rührt ebenso sehr daher, wie sie die Welt von sich fernhält. Indem sie Annäherungsversuche derjenigen zurückweist, die nichts weiter wollen, als sie vereinnahmbar, relational und verständlich zu machen, gewinnt Kunst eine gewisse Autonomie sowie die Macht, in den Betrachtern – wie flüchtig auch immer – jene Momente ihres Lebens hervorzurufen, in denen ein Sinn und eine Erfahrung von wirklicher Freiheit gegeben war. Und indem in der Kunst die ungelösten Konflikte der Wirklichkeit beharrlich als immanente Probleme der Form wiederkehren, unterbricht sie die Kette eines Denkens, das seine Bedeutung an eine ästhetische Tradition knüpft, in der das Bild von Gesamtheit und Geschlossenheit als Ausdruck von Heiligkeit und Versöhnung vorgestellt wird. Wenn die Kunst ihre Elemente in eine Ordnung von Unvereinbarkeiten bricht, dann kehrt sich ihre innere Polarität um: Sie ist dann nicht mehr etwas, das anzuziehen sucht, sondern etwas, das zurückweisen muss. Dank dieser Aura der Zurückweisung kann Kunst sich über ihre eigene Grundlage erheben.

5.

Diamagnetismus nennt man die Eigenschaft, die ein Objekt erwirbt, wenn ein in der Nähe befindliches Magnetfeld die Erzeugung einer gegensätzlichen magnetischen Kraft bewirkt, um der Anziehung des Feldes zu widerstehen. In jüngster Zeit ist es Wissenschaftlern in Experimenten gelungen, Wassertropfen, eine Haselnuss sowie lebende Frösche zum Schweben zu bringen, indem sie die natürlichen, in jeder Materie vorhandenen diamagnetischen Eigenschaften ausnutzten.