Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

116

Helmut Draxler

Wo stehst du, Kollege?

Jörg Immendorff, „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?", 1973 Jörg Immendorff, „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?", 1973

Der Titel dieser Konferenz, „Wo stehst du, Kollege?“, erscheint in einem Bild, das Jörg Immendorff 1973 gemalt hat. Es zeigt einen Mann, wohl den Maler selbst, der in das Atelier eines anderen männlichen Künstlers tritt, um ihn „zu den Waffen“ zu rufen: Er soll sich dem Kampf der Arbeiter anschließen, der auf der Straße tobt. Das Bild weist einen klaren Gegensatz zwischen einem Innen- und einem Außenraum auf, zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Atelier und Straße, zwischen Kunst und Politik. Und sämtliche damals aktuellen Tendenzen in der Kunst, vom Neorealismus bis zur Konzeptkunst und Land Art – sie alle befinden sich dem Innenraum des Ateliers, das heißt dem Privaten und der Kunst zugeordnet. Die Tür zwischen den beiden Welten zu öffnen, ist daher ganz offensichtlich eine anti-ästhetische Geste, die nach einer Verwandlung der Kunstwerke in Spruchbänder oder Plakate im Dienste des Klassenkampfs ruft. So weit, so gut. Bei genauerer Betrachtung allerdings stellen sich zwei Irritationsmomente ein: 1. Was wir sehen, ist ohne Zweifel ein Gemälde und kein Spruchband. Es wurde nicht durch die Straßen getragen, sondern in einer Galerie ausgestellt, und war so zuallererst Gegenstand einer Art von ästhetischer Erfahrung: Wie verhält sich die Malerei hier zum Text, wie der Stil zum Inhalt? Was das Werk zu sehen gibt, ist nicht schlicht ein anti-ästhetischer Ruf zu den Waffen; stattdessen artikuliert es einen performativen Widerspruch zwischen der Anti-Ästhetik auf der inhaltlichen und der ästhetischen Erfahrung auf der formalen oder Medienebene. Und genau dieser Widerspruch ist das Interessante an der Arbeit. 2. Die zweite Irritation liegt darin, dass die individuelle künstlerische Praxis eindeutig im Innenraum, auf der Seite von Privatheit und Kunst, verortet ist. Die Frage stellt sich also: Welche Art von Subjektivität führt Immendorff selbst vor, indem er von außen hereintritt und auf die Straße, auf den Kampf der Arbeiterklasse weist? Es muss sich offenbar um eine andere Art von Subjektivität, eine politische oder militante Subjektivität handeln, eine, die nicht für sich selbst, nicht für ein Individuum oder die Kunst spricht, sondern für das Volk. Sie macht sich zum Subjekt, indem sie im Namen des Volkes spricht. Genau diese Art „großartiger Subjektivität“ ist von feministischen und postkolonialen Kritikern und Kritikerinnen heftig kritisiert worden, insbesondere von Gayatri Spivak in ihrem legendären Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ aus dem Jahr 1985. Spivak reflektiert auf die Tatsache, dass radikale Kritik zwei Seiten hat, indem sie meist Subjektivität verurteilt und zugleich vorführt; die merkwürdige Konsequenz ist, dass dieser Akt des Sprechens im Namen anderer (Spivak verweist auf ein Gespräch zwischen Deleuze und Foucault über Straftäter) letztlich genau diese anderen zum Schweigen verurteilt.

Ich will diese Kritik nun keineswegs auf alle Formen radikaler Subjektivität verallgemeinern, aber sie könnte zumindest ein neues Licht auf die Implikationen unseres Konferenztitels werfen. Jedenfalls ist, was wir auf diesem Bild sehen, keine unmittelbare Artikulation des Volkes und seiner Stimme, sondern eine Meistererzählung des Künstlers Jörg Immendorff, der sich in erster Linie mittels der „Stimme des Volkes“ in Konkurrenz zu seinen Künstlerkollegen positioniert.

Wäre das die depressive Schlussfolgerung, die wir unausweichlich aus Spivaks Diagnose ziehen müssen; läuft es stets auf eine endlose Reihe von Sprechakten hinaus, die auf eine privilegierte Position Anspruch erheben und andere zum Schweigen bringen? Gibt es keine Aussicht auf Gegenseitigkeit oder Anerkennung irgendwelcher Art, das heißt schlicht Politik in meinem Verständnis? In Hito Steyerls hervorragender Einführung zur deutschen Übersetzung von Spivaks Essay fand ich eine klare Antwort: Unter den gegebenen Bedingungen besteht keine solche Aussicht. Aber: „Ein politisches Subjekt jenseits von Staat, Kultur und Identität zu konstituieren ist genau das, was heute strukturell unmöglich scheint und gerade deshalb umso dringender ist.“ [1]

Von Immendorff ist in dieser Richtung natürlich keine große Hilfe zu erwarten: Er steckt bis zum Hals in Identität, Kultur und Staat (auf den Spruchbändern draußen auf der Straße macht er Propaganda für die DKP). Andererseits stieß Steyerls Satz bei mir beim ersten Lesen auf emphatische Zustimmung – beim Wiederlesen kamen dann doch einige Zweifel auf: Was, wenn die Unmöglichkeit, die Steyerl und Spivak nahelegen, ihren Grund nicht in den heutigen gesellschaftlichen Beziehungen hat? Wenn sie stattdessen strukturelle Ursachen hat? Vielleicht gibt es wesentliche Gründe, warum keine Politik und keine Subjektivität und jedenfalls keine politische Subjektivität abseits aller Spuren von Identität, Kultur und dem Gemeinschaftlichen (was nicht unbedingt dasselbe ist wie der Staat) möglich ist. Ich würde sagen, dass politische Subjektivität sich nicht absolut jenseits dieser Kategorien selbst, sondern nur in oder genauer gesagt zwischen ihnen findet, in den Zwischenräumen der einander überschneidenden gesellschaftlichen Felder. Mit anderen Worten, nur indem wir das Risiko eines subjektiven Standpunkts, eines auktorialen, intentionalen und auf ein wie immer geartetes Gemeinschaftliches gerichtetes Sprechen auf uns nehmen, wird eine politische Subjektivität möglich sein. Politische Subjektivität ist keine Frage der reinsten und radikalsten Position – man muss sich ganz im Gegenteil immer schon auf bestehende Bedingungen einlassen, sich die Hände schmutzig machen und letztlich die eigenen Handlungen der Kritik anderer aussetzen.

Das ist der Grund, warum es politische Subjektivität nie ohne kompetitive Elemente geben wird, nie ohne dass das eigene Sprechen mit dem Schweigen anderer erkauft wird. Gerade deshalb erscheint es mir wichtig, nicht zu versuchen, diese kompetitiven Elemente im Namen einer fantasmatischen, absoluten Realität zu überwinden, sondern sie stattdessen besser in ihren Auswirkungen innerhalb der jeweiligen politischen Kämpfe zu reflektieren und zu verhandeln.

Lassen Sie mich diese Argumentation nun an einem zeitgenössischen Beispiel überprüfen. Wer wäre der Immendorff von heute? Da gäbe es zweifellos eine Reihe von Kandidaten; mein Favorit ist eindeutig Slavoj Žižek, der Žižek seit seiner leninistischen Wende, die er vor wenigen Jahren vollzogen hat. Sie werden vielleicht einwenden, dass er kein Künstler, sondern ein Philosoph und eine seltsame Art von Psychoanalytiker sei. Ich aber würde darauf bestehen: Doch, er ist auch ein Künstler. Und sein theoretisches Projekt lässt sich sogar hervorragend innerhalb der anti-ästhetischen Tradition verorten.

Ich beziehe mich auf mehrere seiner neueren Bücher, von „Die Revolution steht bevor: Dreizehn Versuche über Lenin“ bis hin zu „Der Mut, den ersten Stein zu werfen“ sowie „Das Genießen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, das im Original als neues Vorwort zur zweiten Auflage von „For They Know Not What They Do. Enjoyment as a Political Factor“ erschienen ist, vor allem aber auf einen Artikel, den er jüngst in Le Monde diplomatique veröffentlicht hat [2] und in dem er eine brillante Zusammenfassung seines Standpunkts gibt.

In diesen Büchern und Aufsätzen tritt Žižek mit einem Gestus auf, der dem Immendorffs tatsächlich sehr ähnlich ist. Er ruft uns zu den Waffen, nur mit literarischen statt malerischen Mitteln, und sein Aufruf ist noch eindringlicher und direkter: Gewalt gegen den Kapitalismus, so argumentiert er, ist stets defensive Gewalt, und da der Kapitalismus alles vergiftet und verdirbt, ist, so scheint es, mehr oder weniger jede Gewalt als politisches Mittel gerechtfertigt.

Aber dieser Ruf zu den Waffen ist nicht nur eindringlicher; auch das Szenario hat sich gewandelt: Es gibt kein Draußen, keine Straße, keine Öffentlichkeit, kein Volk, keine Spruchbänder und überhaupt keinerlei Kampf mehr. Es gibt noch nicht einmal mehr eine Tür. Es gibt nur noch ein totalisiertes Inneres – das von Antonio Negris „totaler Subsumption des Lebens unter das Kapital“ herstammt oder, um eine jüngere Quelle zu nennen, von Peter Sloterdijks „Weltinnenraum des Kapitals“ –, und dieses Innere ist katastrophal und monströs geworden. Es ist alles andere als ein sicherer und gemütlicher Rückzugsort. Vielmehr ist es nun von allerhöchster Bedeutung, einen Weg nach draußen zu finden. Da Žižek uns keine Tür öffnen kann, ruft er uns auf, zu „springen“, das heißt, den ersten Stein zu werfen oder sonstwie eine gewaltsame Tat zu vollbringen, so dass sich gerade in diesem Sprung, im gewalttätigen Akt des Steinwurfs die Tür offenbaren wird. Es geht nicht länger um einen „Großen Sprung nach vorn“ in der maoistischen Tradition (die Zahl der Opfer wird auf viele Millionen geschätzt), sondern um einen Sprung ins Ungewisse. Gerade weil wir keine Ahnung haben, „was draußen wartet“, um hier die letzte Berlin Biennale zu zitieren, oder ob es überhaupt ein Draußen geben wird, sollen wir „springen“. Da es radikal keine Möglichkeit politischen Handelns irgendwelcher Art innerhalb dieses monströsen Innenraums gibt, den wir symbolische Ordnung nennen (er meint damit unseren langweiligen Alltag), und da alles vom Kapital vergiftet und verdorben ist, besteht die dringende Notwendigkeit zu „springen“, die reine Tat zu vollbringen: den Stein in irgendeine Richtung zu werfen, wahllos zu schießen, eine Tat zu begehen, deren zerstörerische Energie die Grundlagen für eine neue symbolische Ordnung schaffen wird, die, so steht zu hoffen, besser sein wird als die, in der wir leben. Auch wenn wir das natürlich nicht genau wissen und nur blind erahnen können. Dieses gesamte Szenario hat klarerweise mit Politik sehr wenig zu tun – es handelt sich um ein typisch religiöses Argumentationsmuster, das Žižek aus der Tradition von Augustinus über Pascal bis hin zu Lacan übernommen hat. Es funktioniert in der Art von: „Ich glaube, weil es absurd ist“ oder „Es gibt keine Chance: Du musst sie ergreifen“; aber diese religiösen Argumente finden sich hier in reinste Ästhetik verwandelt. Was auf dem Spiel steht, das ist die Ästhetik der Anti-Ästhetik – der „acte gratuit“ – oder die „Propaganda der Tat“ eines Gideanischen oder Nietzscheanischen Immoralisten (mit einem starken anarchistischen Einschlag), wie sie die anti-ästhetische/avantgardistische Tradition zum Beispiel über den französischen Dadaisten Jacques Vaché beeinflusst hat, der mit einer Pistole ein Theater betrat und drohte, im Namen eines reinen „acte gratuit“ blindlings in den Zuschauerbereich zu schießen. Seine Anhängerschaft reicht von den Surrealisten – der bekannteste unter ihnen ist André Breton – bis zu Yves Klein mit seinem „Sprung ins Nichts“.

Wie schon bei Immendorff ist das, politisch gesprochen, reiner Unsinn – aber Sie sollten nicht vergessen, dass das französische „gratuit“ nicht nur bedeutet, dass etwas nichts kostet, sondern auch, dass etwas keinerlei Sinn oder Bedeutung hat. Wörtlich verstanden ist es also gerade dieser Unsinn, der neuen Sinn und Bedeutung zu stiften in der Lage sein soll.

Und gleichzeitig handelt es sich bei diesem Akt in dem Augenblick, in dem er rhetorisch beschworen und daher politisch ins Feld geführt wird, auch um einen kompetitiven Akt, der andere zum Schweigen bringen will und wird, und zwar innerhalb des akademischen ebenso wie innerhalb des politischen Feldes und sogar darüber hinaus – daran habe ich keinen Zweifel. Andererseits wagt Žižek jedoch das Risiko der Subjektivität, das Risiko einer auktorialen Position und intentionaler Verantwortlichkeit – selbst wenn er sich gleichzeitig völlig verantwortungslos hinsichtlich dessen zeigt, was die möglichen Folgen angeht, die ein solcher Sprechakt zeitigen könnte.

Die entscheidende Frage wird also sein, ob das, was Žižek literarisch vollzieht, auch eine politische Subjektivität impliziert oder gar hervorbringt. Denn einerseits lässt sich sein Sprachgestus eindeutig auf der Seite des Zum-Schweigen-Bringens lokalisieren; andererseits jedoch fasst er eine Situation jenseits von Staat, Kultur und Identität ins Auge, zumindest für den Augenblick der Tat. Ziehen wir nun aber in Betracht, dass, wie ich argumentiert habe, eine politische Subjektivität nur innerhalb der Kontexte von Gemeinschaft, Kultur und Identität möglich sein wird, was dann?

Ich glaube, wir müssen uns wiederum mit den performativen Widersprüchen auseinandersetzen, die Žižek auf mehreren Ebenen artikuliert: zwischen der ethischen Aufforderung zu springen oder zu handeln und der tiefen Unmoral dieser Tat als einer hochgradig ästhetisierten Geste; zwischen dem konstitutiven Akt einer (potenziell) politischen Subjektivität und dem Verlust jeden politischen Inhalts, jeder Programmatik; zwischen dem Sprechakt oder genauer dem Schreibakt und dem avisierten Elementarakt, dem „acte gratuit“; und schließlich zwischen der unterstellten absoluten Sinnlosigkeit der symbolischen Ordnung und dem Un-Sinn des Sprunges.

Wie bei Immendorff sind diese Widersprüche nicht aufzulösen. Zugleich sind aber gerade sie es, die an Žižeks ganzer Herangehensweise so interessant sind. Genau diese Widersprüche nämlich sind es, die unsere nüchternen Kompetenzen in Sachen ästhetischer Erfahrung einfordern, um sie als Widersprüche überhaupt erst zu verstehen. Das heißt, es geht nicht um die Kompetenz zu handeln, zu springen oder zu schießen, sondern darum, Žižeks Manifest in seiner Mehrdimensionalität zu lesen, es zwischen textlichem und performativem Register, zwischen Inhalt und Medium, zwischen subjektivem Sprechakt und dem bewirkten kollektiven Schweigen zu verstehen. Und gleichzeitig fordern diese Widersprüche auch unsere politische Erfahrung heraus, und zwar als Reflexion auf die Konsequenzen, die die ästhetische Erfahrung der Lektüre des Manifests uns bietet. Und genau von dieser Stelle her, von der Lektüre und Reflexion der verschiedenen Dimensionen des Texts in Bezug auf unsere eigene ästhetische und politische Erfahrung, mag sich auch eine politische Subjektivität abzeichnen. Das bedeutet, dass die Veröffentlichung eines solchen Manifests bereits sein Scheitern auf der Ebene des reinen Inhalts impliziert: weil sie einen Akt der Anerkennung voraussetzt, dass nämlich wir, die Leser, nicht stumpfsinnig seinem Rat folgen, sondern als potenziell politische Subjekte unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen werden.

Das heißt: Der anti-ästhetische Gestus bleibt grundsätzlich von ästhetischer wie politischer Erfahrung abhängig; und Žižeks riskante Subjektivität besitzt definitiv das Potenzial, eine politische Subjektivität zu werden, aber radikal nur innerhalb, niemals jenseits der gegebenen symbolischen Ordnung.

(Übersetzung: Gerrit Jackson)

Anmerkungen

[1]Hito Steyerl, „Die Gegenwart des Subalternen“, Vorwort zur dt. Übersetzung von Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. von Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny, Wien: Turia + Kant, 2007, S. 13.
[2]Slavoj Žižek, „Zeit der Monster. Ein Aufruf zur Radikalität“, in: Le Monde diplomatique, 12. November 2010.