Vorwort
Heft 101 von Texte zur Kunst macht die „Polarität“ zum Thema – und verbindet dies zunächst einmal mit ganz aktuellen Entwicklungen: mit ideologischer Polarisierung, von Pegida über ISIS bis hin zu Donald Trump. Während sich die Kunstwelt zweifellos ihr eigenes politisches Binnenklima schafft, bleibt dieses zwangsläufig durch globale Kräfte geprägt, und so reflektieren wir in der vorliegenden Ausgabe einige der übergreifenden Bedingungen, innerhalb derer sich kunstkritische und kunsthistorische Diskurse gegenwärtig formieren und zwangsläufig positionieren.
Bemerkenswert ist der Trend zur Polarisierung insbesondere angesichts der in den letzten Jahrzehnten verbreiteten Tendenz, von zunehmender Vereinheitlichung zu sprechen: Ist doch das gegenwärtige, lückenlose, in sich beständige neoliberale System gekennzeichnet durch die Versprechen einer globalen Ökonomie der Teilhabe, durch utopische Visionen von Frieden (oder Überleben) durch die „Singularität“ von Bildschirm, Geist und Körper; man denke hier auch an die Europäische Union als Einheitsprojekt, das jedweden Konflikt an seine Peripherie auslagern will. Währenddessen steigt weltweit die Zahl der Flüchtlinge, der militante Extremismus grassiert, und ethnische Konflikte verschärfen sich. Wie begreifen wir diese wachsende Kluft zwischen den Idealen eines glatten, technologischen smooth space (in dem sich die Kunstwelt gerne aufhält, wenn sie flugs jeden Widerstand als Content internalisiert) auf der einen Seite, und den Kerben materieller Unruhen auf der anderen? Könnte die Metapher der Polarisierung ein fruchtbares Modell für eine alles andere als „ideologiefreie“ Zeit sein? Ließe sie sich – ohne dabei der Vorstellung eines irgendwie „natürlichen“ Gleichgewichts das Wort reden zu wollen – erneut dazu verwenden, sich mit Extremen auseinanderzusetzen und zugleich anzuerkennen, dass Gegensätze innerhalb eines zusammenhängenden Systems kausal verbunden sind?
Verschiedene aktuelle Theorievorschläge drängen sich auf: So suchen etwa die akzelerationistischen und posthumanistischen Diskurse nach neuen (schnelleren, effizienter parasitären) Weisen des Denkens innerhalb der gegenwärtigen Verhältnisse. Aber bedeutet dies nicht lediglich, konkret organisierte Ansprüche gegenüber dem Staat zu vermeiden? – So argumentiert zumindest der amerikanische Kulturwissenschaftler Timothy Brennan und erläutert seine Position in einem Interview mit dem Berliner Historiker Philipp Felsch. Gemeinsam reflektieren sie über eine Linke vor den 1970ern und der Neoliberalisierung, eine vor-poststrukturalistische Linke, verdrängt, so Brennan, von einem vagen und unbestimmten Habitus, der sich tunlichst weigert, sich in Karriereperspektiven oder externe Machtpositionen einzumischen. Da die besagte Macht nun aber unter zunehmendem Druck steht, welcher Moment wäre besser geeignet, um auf die klassische Frage zurückzukommen: Arbeiten wir darin oder dagegen? Während man geneigt sein mag, entschiedenen Antagonismus als nicht mehr zeitgemäß für die vernetzte Welt anzusehen, stellt sich uns eher die Frage, wie er sich in ein aktuelles Denken wieder einbringen ließe. Dass dies auch ohne die grundsätzliche Verurteilung poststrukturalistischer Errungenschaften geht, zeigt Helmut Draxler in seinem Beitrag. Er reflektiert über Begriffe des Binären – Antagonismus, Dichotomie, Dialektik –, die die Postmoderne scheinbar verworfen hat. Wie prägt das Denken in „Polaritäten“, so fragt er, den theoretischen und politischen Diskurs? Und was geschieht, wenn Polaritäten der Vergangenheit in die Gegenwart importiert werden: Sind Flüchtlinge zum Beispiel wirklich eine proletarische Masse im Marx’schen Sinn?
Einen genaueren Blick auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte bietet Gabriele Werners Beitrag. Die Berliner Kunsthistorikerin konzentriert sich auf die visuellen Repräsentationen dieser sogenannten Krise. Ausgehend von ihrer Forschung zum deutschen Heimatfilm nimmt sie den Begriff der „Heimat“ – selbst eine homogenisierende Vorstellung des „Wir“ – zum Rahmen, die narrativen Schemata der Debatten zu betrachten, die in Deutschland nach den jüngsten Übergriffen in Köln so präsent sind.
Das Schaffen öffentlicher Narrative zieht sich als zentrales Thema durch die gesamte Ausgabe, und auch der amerikanische Autor Roy Scranton (Verfasser von „Learning to Die in the Anthropocene“) und der Pop-Agitator Lil Internet (der mit Beyoncé, Diplo u.a. gearbeitet hat) greifen dies unmittelbar auf. In ihrem Gespräch über die Unterschiede zwischen semiotischer und materieller Gewalt in der Verteidigung von „Freiheit“ erachten Scranton und Lil Internet unsere gegenwärtigen Geschichten als inadäquat und unsere Zeit als eine, die mehr denn je durch Kräfte der Subjektivierung charakterisiert ist. Thematisch daran anschließend, haben wir die deutsche Journalistin Carolin Emcke ihrerseits um ihren Standpunkt zu den Begriffen von „Freiheit“ und „Sicherheit“ gebeten, anhand derer US-amerikanische und europäische Politiker/innen so häufig das „wir“ gegen ein „sie“ ausspielen.
Doch welche Bedeutung haben all diese Umstände für ein ästhetisches Verständnis, für die künstlerische und kritische Standortbestimmung oder für die Art und Weise, wie Kunstwerken ein Wert zugeschrieben wird? Das Label „politische Kunst“ ist selbst zu einer Marketingstrategie geworden; die Kunstwelt hängt oft einer standardmäßigen „richtigen“ Form der (linken) Politik an – nur um daraus höchst unterschiedliche Schlüsse zu ziehen. Für die vorliegende Ausgabe haben wir die Künstler Davis Rhodes (in Zusammenarbeit mit Daniel C. Barber) und Antek Walczak um Statements gebeten. Statt „aktivistische“ Kunst zu reaktivieren, versuchen Rhodes und Barber eine Positionsbeschreibung künstlerischer Kommunikation innerhalb eines Feldes der Sprache und visuellen Repräsentation, die sich rassisch motivierter Gewalt entgegenstellen will – einer Gewalt, die, wie sie schreiben, dem sozialen Feld zugrunde liegt und sich dem Diskurs doch immer entzieht. Walczak trägt in seinem Text schließlich Betrachtungen über das Internet als Polarisierungsverstärker bei, über das fragmentarische Gewirr der Kommunikation, das neue Formationen (und Trends) entstehen lässt. Die Massenmedien sind hier nicht Übermittler einer einzelnen Botschaft, sondern Plattform für alle möglichen Positionen: Weht hier ein Hauch von Multitude? „Ausländer“ gegen „Inländer“, links gegen rechts – Polarisierung ist eine Realität der Gegenwart. Gerhard Richters Bildstrecke für diese Ausgabe mit frühen Fotografien von Ulrike Meinhof (kurz vor ihrer Radikalisierung, lange vor der Entstehung des RAF-Zyklus, dem eines der Bilder zugrundeliegt), verweist in diesem Spektrum nicht nur auf einen Wendepunkt der (westdeutschen) Linken, sondern auch erneut darauf, wie Modelle der Polarisierung sozial und historisch konstruiert werden – und dies nicht zuletzt durch den öffentlichen Diskurs.
Übersetzung: Robert Schlicht