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INTENTIONALE BEGEGNUNGEN Hanna Magauer über Christian Kravagnas „Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts“

2019: Die von Frankreich ausgehende Restitutionsdebatte um koloniale Raubkunst ist in vollem Gange, die Frage nach einer postkolonialen Praxis fest im Diskurs zeitgenössischer Kunst verankert. Mit seiner jüngsten Publikation „Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts“ hat Christian Kravagna einen Beitrag seitens der Kunstgeschichte geleistet, die viele Thesen der aktuell so dringlich geführten Debatten schneidet. In seinem Entwurf einer „entangled art history“ sind Beziehungen, die über Migrationsbewegungen zwischen Künstler*innen und Institutionen über das 20. Jahrhundert hinweg stattfanden, als intentional und transkulturell zu begreifen. Die Kunsthistorikerin Hanna Magauer nimmt die Publikation unter dem Aspekt dieser von Kravagna verfolgten Begegnungen unter die Lupe.

Es liegt in der aktuellen Natur der Sache, dass sich für die Rezension einer Publikation, die sich mit Kolonialgeschichte und transkulturellem Austausch, mit Rassismen, Globalismen und Modernekritik befasst, zahlreiche Kontexte als Aufhänger anbieten: Da wären die Debatten um die Restitution kolonialer Raubkunst oder der grassierende Rassismus in der europäischen Kunstöffentlichkeit, etwa in München. Christian Kravagnas „Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts“ ging zudem ursprünglich u. a. aus einer Beschäftigung mit Migration und Rassismus in Österreich hervor und erschien etwa zeitgleich zur Koalitionsbildung der neuen rechtspopulistischen Regierung. [1] Die Pluralität möglicher gesellschaftspolitischer und institutioneller Anknüpfungspunkte für den Einstieg in diesen Text spricht zum einen für die Aktualität und Dringlichkeit des Buches. Zum anderen spiegelt sie auch dessen Ansatz, argumentative Verknüpfungen zwischen zunächst scheinbar unverbundenen historischen Zusammenhängen im Kontext antirassistischer und antikolonialer Praxis zu diskutieren.

Die künstlerischen Zusammenhänge, Institutions- und Migrationsgeschichten, die Kravagna in acht Kapiteln versammelt, umfassen einen Zeitraum vom frühen 20. Jahrhundert bis etwa in die späten 1960er Jahre. Damit sind sie deutlich vor dem Jahr 1989 angesiedelt, das in der global art history oft als Zäsur auf dem Weg zu einem globalen/transkulturellen Denken bezeichnet wird. [2] Der Gegenwartsfixierung der „populäre[n] Erzählung von der Globalisierung als einem Phänomen des späten 20. Jahrhunderts“ [3] wird also ein kunst- und theoriehistorischer Blick entgegengestellt. Nach dem programmatischen Auftaktkapitel „Für eine postkoloniale Kunstgeschichte des Kontakts“ [4] widmet Kravagna sich etwa der Geschichte transdisziplinärer Kunsterziehung im Kontext der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Begriffen der „Rasse“ und der kulturellen Hybridität in der lateinamerikanischen Ethnologie der 1930er und 1940er Jahre, der Harlem Renaissance der 1920er oder Gegen-Primitivismen in der „Schwarzen Moderne“. Gemeinsam ist den beschriebenen Szenen, dass in ihnen ein Austausch zwischen nicht weißen Künstler*innen mit Vertreter*innen einer weißen, eurozentristischen künstlerischen Moderne stattfindet, der mal produktiv, mal als Abgrenzung erscheint; und dass anhand dieser Geschichten die Aushandlung von solchen künstlerischen und intellektuellen Modernismen nachvollzogen wird, die von post- bzw. dekolonialem Denken und antirassistischen Kämpfen geprägt sind.

Allein der titelgebende Kontakt ist dabei kein Selbstzweck – dies macht Kravagna schon auf den ersten Seiten des Buches deutlich, wo er zunächst eine Szene im Paris der 1950er Jahre beschreibt. Über die Vermittlung von Albert Camus eröffnete sich dem guyanischen Maler Aubrey Williams die Gelegenheit, Pablo Picasso kennenzulernen. Entgegen den Hoffnungen des jungen Künstlers, sich mit dem „Meister der Moderne“ über Malerei auszutauschen, schien ­Picasso jedoch nicht bereit, auf ein solches Treffen auf Augenhöhe einzugehen, wie sich Williams erinnert: „He said I had a very fine African head and he would like me to pose for him.“ „Um das ‚Afrikanische‘ für die eigene ästhetische Revolution in Dienst nehmen zu können“, schreibt Kravagna, „mussten die europäischen Modernist/innen die Präsenz von Afrikaner/innen als Menschen und zeitgenössische Kulturproduzent/innen negieren.“ [5] Beispiele wie diese, in denen der Kontakt aufgrund von verinnerlichten rassistischen Machtverhältnissen scheitert – andere bekannte Fälle wären die Reisen der Künstler des Blauen Reiters nach Tunesien oder Gauguins Reise nach Tahiti –, spielen im Buch allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr untersucht Kravagna primär solche Umstände, unter denen der transkulturelle Kontakt gelang: etwa aufgrund gemeinsamer Unterdrückungs- und Migrationserfahrungen oder parallel entwickelter Interessen, die über koloniale Grenzen und color lines hinweg zusammengeführt werden konnten. Während die von der weißen westlichen Moderne ausgehenden transkulturellen Beziehungen häufig an den selbst errichteten Denkbarrieren gegenüber dem „Anderen“ scheiterten, muss darauf, so Kravagnas Argument, nicht mit antimodernistischen Ansätzen reagiert werden. Vielmehr plädiert das Buch dafür, die dekolonialen Kräfte innerhalb der globalen Moderne zu untersuchen, und dafür „bei jenen historischen Konstellationen anzusetzen, in denen transkulturelle Modernismen […] erstmals […] von ihren Protagonist/innen als solche begriffen und in ein kritisches Verhältnis zum vorherrschenden Modell der kolonialen Diffusion eines partikularen westlichen Modernekonzepts gesetzt wurden“ [6] .

Hierfür wählt Kravagna den (in Anlehnung an den argentinischen Philosophen Enrique Dussel verwendeten) Begriff der Transmoderne. Dieser meint nicht einfach eine transkulturelle Moderne; die Inflation und Entpolitisierung des Begriffs des Transkulturellen kritisiert Kravagna. Das Kon­­zept der Transmoderne verstehe die divers zu denkenden globalen Modernismen „nicht bloß im Sinne regionaler Effekte der kulturellen Dimension von Globalisierung, sondern als intentionale und in politischen Agenden situierte Antwort auf die Kolonialität der dominanten westlichen Moderne“ [7] . Die von ihm untersuchten intellektuellen und künstlerischen Ansätze zielten „auf eine befreiungspolitische Transformation“, zudem formuliere sich die „Kritik an kulturellen und politischen Differenzkonstruktionen und rigiden Grenzpolitiken der hegemonialen Moderne häufig in grenzüberschreitenden Sprachen und Stilen“ [8] . Was Kravagna als Transmoderne bezeichnet, ist damit transkulturell, transgressiv und transformatorisch.

Dies wird etwa im Falle des Kapitels zur Reform der Kunsterziehung im Kontext der indischen Unabhängigkeitsbewegung deutlich: U.  a. in Abgrenzung zum britischen Erziehungssystem gründete der Schriftsteller Rabindranath Tagore 1901 in Santiniketan nördlich von Kalkutta eine Schule mit ganzheitlichem pädagogischem Ansatz, „in der Differenzen zwischen Schüler/innen aus Stadt und Land, hohen und niederen Kasten, in möglichst freier Atmosphäre ausgehandelt“ [9] und Grenzen zwischen Unterricht und täglichem Leben durch Tanz, Theater, Spiel aufgehoben werden sollten. Neben transasiatischen Netzwerken entstanden von hier aus auch Kontakte zur westlichen Avantgarde, doch gerade nicht dort, wo ein ausformuliertes Interesse für indische Kunst und Kunsthandwerk bestand (wie im englischen Arts and Crafts Movement), sondern mit dem Bauhaus in Weimar, wo Johannes Itten in seinem Vorkurs vergleichbare ganzheitliche pädagogische Interessen verfolgte. Eine Ausstellung von 250 Werken der Bauhaus-Künstler*innen und deren Schüler*innen 1922 in Kalkutta ist Zeugnis dieses unwahrscheinlichen Kontakts.

Am Falle des New Negro Movement im Harlem der 1920er und 1930er Jahre diskutiert Kravagna die Aushandlungen um kulturelle Assimilation und die Eigenheiten afroamerikanischer Kunst und Sprache, die zu diesem Zeitpunkt von Schwarzen und weißen Intellektuellen und An­thropolog*innen geführt werden; etwa am Beispiel der Schwarzen Dichterin, Folk-Forscherin und Anthropologin Zora Neale Hurston. Hurston, die in einer selbstverwalteten Schwarzen Stadt in Florida aufgewachsen war, verteidigte und verkörperte im New York der 1920er vehement die kulturelle Eigenständigkeit der afroamerikanischen Identität gegenüber dem vorherrschenden Assimilationsdruck. Hurston war Mitarbeiterin des Anthropologen Melville J. Herskovits, einer der Wegbereiter der African and African American Studies; Herskovits’ und Hurstons unterschiedlichen Zugängen zum akademischen Feld und seinen Objektivitätsgeboten, ihrem unterschiedlichen Aushandeln von Anthropologie, Kunst und Politik widmet das Buch ein Kapitel. Eine Brücke von der Harlem Renaissance zum Abstraktionsparadigma der New York School der 1940er und 1950er Jahre schlägt Kravagna durch die Figur Norman Lewis, in jungen Jahren Verfechter eines figurativen negro idiom und später als einziger afroamerikanischer Künstler in den Kreisen um Newman, Pollock, Rothko und Gottlieb präsent, deren künstlerische Intentionen er zu dieser Zeit weitgehend teilte. Kravagna untersucht Lewis’ Hinwendung zur Abstraktion und fragt nach den Gründen für seinen Ausschluss aus der kanonisierten Geschichte des Abstrakten Expressionismus. Dass dessen modernistische Reinheitsbestrebungen eben Referenzen auf soziale Realitäten und race politics auch dann verboten, wenn sie, wie bei Lewis, scheinbar hinter formale Probleme der Malerei zurücktraten, wird detailliert dargelegt. [10]

Gaganendranath Tagore, „A Cubistic Scene“, ca. 1923

Gaganendranath Tagore, „A Cubistic Scene“, ca. 1923

Der Unterschied zwischen Trans- und Euromoderne, wie Kravagna das dominante Gegenstück bezeichnet, liegt, wie diese Beispiele zeigen, nicht primär in der Identität der Akteur*innen begründet, in ihrer Nationalität oder Hautfarbe und den damit verbundenen oder verwehrten Privilegien. Der Unterschied liegt vielmehr im Modus des Austauschs, in Begegnungen und Allianzen über kulturelle und koloniale Grenzen hinweg – und ist damit intentional statt identitär zu begreifen. Auch weil diese Intentionalität nicht ohne Aushandlungs- und Abgrenzungsprozesse zu denken ist, bleiben Kravagnas Beispiele stets auf die westlichen Modernismuskonzepte und deren bekannte Vertreter*innen bezogen, die immer wieder zu Wort kommen; eine Strategie, die aber auch die Anschlussfähigkeit an die dominanten Erzählungen der Kunstgeschichte gewährleistet. Das Buch konzentriert sich dabei auf einige Protagonist*innen, deren Umfeld Kravagna jeweils als Konstellationen begreift, an denen die Transmoderne punktuell sichtbar wird: Neben Hurston, Tagore, Lewis und Herskovits sind dies etwa die Maler Hale Woodruff, Winold Reiss und Wifredo Lam oder die historischen Denker der Transkulturalität Gilberto Freyre, José ­Vasconcelos und Fernando Ortiz; die „Kunstgeschichte des Kontakts“ ist durch ihren konstellativen Ansatz zwangsläufig transdisziplinär. Dass sich hier jahre- bzw. jahrzehntelange Arbeit zu einem Buch verwebt und die meisten Kapitel an anderer Stelle als Aufsätze in Zeitschriften erschienen, wird auch formal sichtbar. Immer wieder werden Fäden wie in Voraussichten angedeutet und dann fallen gelassen, um an späterer Stelle wieder aufgegriffen zu werden, wodurch sich ein dichtes Netz an Referenzen ergibt, deren Rolle sich zum Teil erst mit fortschreitender Lektüre erschließt. Schwarzen Künstler*innen in den USA wird deutlich am meisten Raum gegeben, während z. B. das Kapitel zur indischen Moderne etwas unverbunden und eher als programmatische Vorbemerkung am Anfang steht. Was die Argumentationen nichtsdestotrotz besonders überzeugend macht, ist der Fokus auf Produktionszusammenhänge und auf die biografisch und gesellschaftlich vorgeprägten Beweggründe der Akteur*innen, sich transdisziplinär zwischen Feldern zu bewegen – was oft wie im Falle Hurstons in einem erschwerten Zugang zu Forschungsmitteln, institutionellen und publizistischen Möglichkeiten und ganz allgemein kulturellem Kapital mitbegründet war.

Im Wechsel mit der Analyse und Einordnung von Einzelbeispielen, in die auch eine Theoriegeschichte des transkulturellen Denkens verwoben ist, legt Kravagna damit einen wichtigen und programmatischen Beitrag zur postkolonialen Kunstgeschichte vor. Dieser bewegt sich näher an postkolonialen Denkern kultureller Hybridität wie Homi K. Bhabha als an der aktuell viel diskutierten Forderung einer epistemologischen Dekolonisierung durch das Konzept des delinking, für die der argentinische Literaturwissenschaftler Walter D. Mignolo plädiert; also der Forderung, andere Begriffe als die der westlichen Moderne zu verwenden, um heutige Wissensordnungen vom kolonialen Blick auf den Westen zu lösen. Sicherlich seien etwa „[s]cheinbar universale Konzepte von Subjektivität, Rationalität, Fortschritt und Zivilisation […] tragende Elemente eines westlichen Herrschaftssystems“, dennoch „wiesen die antikolonialen Kritiker/innen die westlichen Konzepte von Humanismus und Universalismus […] nicht einfach zurück, sondern unterzogen sie einer neuen Interpretation auf Basis der kolonialen Erfahrung und im Rahmen der globalen Allianzen antikolonialer Kämpfe“ [11] . Dieser Geschichte trägt Kravagna Rechnung: in einer entangled art history der Beziehungen, durch die eine globale Moderne gedacht werden kann und die in den Modernismus-Diskursen um Medienspezifik und reine Form oder dem, was Latour „Reinigungsarbeit der Moderne“ nennt, ins Hintertreffen geraten sind. Jede Reinigung ist Ergebnis einer grundlegenden Hybridität; in diesem Sinne sind wir – oder zumindest diejenigen, die sich dieser Aufgabe tatsächlich gestellt haben – immer schon transmodern gewesen.

Christian Kravagna, „Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts“, Berlin: b_books Verlag, 2017.

Titelbild: Winold Reiss in seinem New Yorker Studio, ca. 1925

Anmerkungen

[1]Wie Kravagna selbst in einem Vortrag für die Kunstsammlung NRW berichtet, entstand ein Vorläufer des Buchkonzepts gerade zu einem Zeitpunkt, an dem zum ersten Mal eine rechtspopulistische Regierung in Österreich an die Macht kam. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=Wginlf4MxuI.
[2]Vgl. Christian Kravagna, Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts, Berlin 2017, S. 36.
[3]Ebd., S. 15.
[4]Eine erste Fassung des Kapitels ist in dieser Zeitschrift als Teil des Themenhefts „Globalismus“ erschienen, Texte zur Kunst, 91, 2013.
[5]Kravagna, S. 7f. Kravagna übernimmt dieses Beispiel aus einem Aufsatz von Simon ­Gikandi: „Picasso, Africa, and the Schemata of Difference“, in: Modernism/modernity, Vol. 10, 3, 2003, S. 455–480, hier: S. 455.
[6]Kravagna, S. 10.
[7]Ebd.
[8]Ebd., S. 11.
[9]Ebd., S. 67
[10]Ebd., S. 101ff.
[11]Ebd., S. 15.