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EROSION UND WACHSTUM Markues über „Soil Is an ­Inscribed Body. Über Souveränität und Agrarpoesien“ bei SAVVY Contemporary, Berlin

Kaum eine andere Kunststätte in Berlin verfolgt den Ansatz der Dekolonialisierung derart stringent wie SAVVY Contemporary – Laboratory of Form-Ideas. Nie stehen dort Ausstellungen als bloße Repräsentationen von einzelnen internationalen Künstler*innenpositionen allein, genausowenig wie es nur ein*e Kurator*in gibt. Die Gruppe stellt regelmäßig ein vielfältiges Programm an Diskussionen, Lesungen und Workshops zusammen und erarbeitete sich damit eine spezifische eigene künstlerisch-aktivistische Praxis. Markues erläutert am Beispiel von „Soil Is an Inscribed Body“ wie diese funktioniert.

Dringlichkeit ist der Motor von SAVVY Contemporary – The Laboratory of Form-Ideas. Dementsprechend lässt sich dem „Forschungs-, Diskurs und Ausstellungsprogramm in mehreren Kapiteln“ mit dem Titel „The Invention of Science“ nicht vorwerfen, dass es leidenschaftslos oder zu klein gedacht ist. Unter der künstlerischen Leitung von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Elena Agudio und Antonia Alampi entfalten sich in den Jahren 2019/20, jeweils in Zusammenarbeit mit weiteren Kurator*innen, vier größere Stränge: Beginnend mit der Retrospektive „Shadow Circus“ der tibetischen Filmemacher*innen Ritu Sarin und Tenzing Sonam, wird anhand deren Auseinandersetzung mit der Unterstützung des bewaffneten Widerstands in Tibet der 1950er und 1960er durch die CIA beispielhaft auf geopolitische Verstrickungen und die epistemische Autorität des Westens hingewiesen, die in den späteren Ausstellungen ausgebreitet werden. In „Soil Is An Inscribed Body. Über Souveränität und Agrar­poesien“ – der Ausstellung, um die es im Folgenden weiter gehen wird – stehen Strategien im Mittelpunkt, die Erde und Boden als Orte des Wissens und des Protests gegen neokoloniale Landnahme und Biopiraterie begreifen. „The Long Term You Cannot Afford. Zur Verbreitung des Toxischen“ rahmt die gegenwärtige Welt unter den Vorzeichen menschengemachter Vergiftungen, denen alle Organismen inzwischen ausgesetzt sind. Das letzte Kapitel „Ultrasanity. Über Wahnsinn, Hygiene, Antipsychiatrie und Widerstand“ möchte Stigmatisierungen von Wahnsinn zugunsten von Konzepten auflösen, die diesen nicht als das Gegenteil von Vernunft begreifen und somit die Grenzen dessen erweitern, was als vernünftig gilt. SAVVY positioniert sich als Ort für dekoloniale und feministische Wissensproduktion, an dem es über die letzten zehn Jahre gelungen ist, Ausstellungsformate zu entwickeln, die über ästhetisierende oder positivistische Konzepte hinausgehen.

Der Auftakt der von Elena Agudio und Marleen Boschen kuratierten Ausstellung „Soil Is An Inscribed Body“ ist einer ihrer stärksten Momente, an dem sich zugleich auch die Vorgehensweise verdeutlicht, die SAVVY häufig wählt. [1] In Anlehnung an Amílcar Cabral werden Boden und Mensch als miteinander verbunden verstanden [2] , was die Ausstellung in verschiedene Richtungen denkt. Pedro Neves Marques’ Video-Essay Linnaeus and the Terminator Seed (2017) überblendet naturwissenschaftliche Illustrationen mit Dokumenten aus den Patentverfahren zur Saatgutsterilität. Im Voiceover wird durch die Überschneidungen von Botanik und Kolonialismus klar, dass derselbe Puls in den akribischen Zeichnungen wie auch in den Strukturformeln von transgenem Mais schlägt: ein Puls, der sich die Welt rücksichtslos zu eigen macht, der die eigenen Taxonomien dem Wissen der anderen aufzwingt. Und bei der Kritik der Vormachtstellung des westlichen Wissens bestehen die Kurator*innen auf eine wichtige Leerstelle. Denn obwohl im Framework des Anthropozäns die Wissenschaft zur Erkenntnis gelangt ist, dass die meisten globalen Probleme menschengemacht sind, fehlt eine empathische Reflexion über deren unmittelbare Auswirkungen.

Pedro Neves Marques, „Linnaeus and the Terminator Seed“, 2017, Filmstill

Pedro Neves Marques, „Linnaeus and the Terminator Seed“, 2017, Filmstill

Auf die Rückseite des Screens von Marques wird das Video Motlhaba We Re Ke Namile (2016) von Lerato Shadi projiziert. Das Video zeigt von der Nase bis zum oberen Brustkorb den Oberkörper einer Person, die sich brockenweise Erde in den Mund steckt und darauf herumkaut. Der Körper setzt sich mit Reflexen zu Wehr. Das Summen der Insekten und das Zwitschern der Vögel werden unterbrochen vom staubigen Reizhusten der Person. Rotze rinnt aus der Nase, eine Träne läuft über die Wange. Die Körpersilhouette ähnelt der eines Berges. Der Mund öffnet sich und gibt den Blick auf die Zähne preis, die die Erde vergeblich in einen schluckbaren Brei zu verwandeln suchen; stattdessen wird Staub gehustet. Durch den Ausstellungstext ist zu erfahren, dass das Video auf eine Widerstandspraxis südafrikanischer Sklaven Bezug nimmt, die sich durch das Essen von Erde umbrachten. Welch unvorstellbarer Qual Menschen ausgesetzt sein müssen, um auf diese Weise zu handeln, kann dieses Video nur andeuten und stellt so unmissverständlich eine Dringlichkeit her, für die distanzierte wissenschaftliche Betrachtungen blind bleiben müssen. Diese Vergegenwärtigung historischen Leids, die sich medial zwischen Video, Performance oder Reenactment bewegt, ist in das kuratorische Konzept eingebettet: SAVVY steht zum einen feministisch auf der Seite der Marginalisierten. Zum anderen – hier ließen sich Verbindungen zu Strömungen des New Materialism ziehen – versuchen die Kurator*innen das menschliche Subjekt nicht mehr losgelöst zu denken, sondern dessen Verhältnis zu Boden und Erde neu zu befragen. Filipa César fasst es kurz zusammen: „Soil is the inscribed body and erosion is the scar left by historical violence.“ [3]

Für Chorus of Soil (2019) legt Binta Diaw kleine ovale Erdhaufen auf den Boden des Ausstellungsraums, aus denen Wassermelonenkeimlinge sprießen. Die Anordnung ist angelehnt an den Grundriss eines Sklavenschiffs. Für jede Pritsche eines Sklaven liegt ein Grab in Miniatur auf dem Boden. Das Werk geht mit der räumlichen Umgebung eine beklemmende Verbindung ein – SAVVY nutzt Räume im ehemaligen Krematorium Berlin-Wedding, und so verwandelt sich der im Untergeschoss gelegene Ausstellungsraum in einen verzerrten Schiffsbauch. Und tatsächlich würden solche Gesten nicht mehr als Beklemmung, Wut oder Trauer herstellen, lägen sie nur kommentarlos auf dem Boden. Es gelingt den Kurator*innen jedoch durch ihre Recherche, Workshops wie „Seed As Relation“, die Lesegruppe „Getting Granular“, die „Incantations“ genannten Veranstaltungswochenenden [4] und den Reader Agropoetics eine Haltung zu entwickeln, die auf Zusammenarbeit und Verständnis für die Widersprüchlichkeiten globaler Geschichte beruht.

Viele der gezeigten Werke sind aus Kollaborationen von Künstler*innen und Agrarinitiativen hervorgegangen. Und oftmals sind es auch keine Kunstwerke im engeren Sinn, die den sozialen Prozess, an dem SAVVY interessiert ist, im Raum aufscheinen lassen, sondern die Dokumente, Gedichte, Sammlungen von Plastiktüten oder die ertönenden Regengesänge. Statt die Erfahrung einer Ausstellungsbesucher*in in das Zentrum kuratorischer Bemühungen zu rücken, treten die einzelnen Werke zugunsten eines Raumes, in dem sich die postkoloniale Kritik als gemeinschaftlicher Prozess in ihren Ansätzen, Versuchen, Erfolgen und Widersprüchen jenseits von aktivistischer Schadensbegrenzung [5] entfalten kann, in den Hintergrund. Bisweilen ist diese Vorgehensweise überfordernd, weil sie keine Widersprüche zwischen marginalisierten Gruppen einebnet und sie offensiv bestehen lässt. SAVVY setzt darauf, Fragen so vehement zu stellen, dass sie nur gemeinsam beantwortet werden können.

„Soil Is an Inscribed Body. Über Souveränität und Agrarpoesien“, SAVVY Contemporary – The Laboratory of Form-Ideas, Berlin, 31. August bis 6. Oktober 2019.

Titelbild: „Soil is an Inscribed Body. Über Souveränität und Agrarpoesien“, SAVVY Contemporary, Berlin, 2019, Ausstellungsansicht

Anmerkungen

[1]Siehe hierzu auch folgende Selbstdarstellung: https://www.savvy-contemporary.com/de/about/concept/.
[2]Cabral ist als Politiker, Poet und Agrarwissenschaftler eine einflussreiche Figur in Guinea-Bissau, wo durch die parallele Ausbildung der Truppen in Kampf-/Kommunikationstechniken und im Pflanzenbau die Unabhängigkeit möglich wurde. Einen Einstieg in sein Werk liefert Filipa César in: „Meteorisations – Reading Amílcar Cabral’s Agronomy of Liberation“, erschienen in Third Text 32, hier: S. 2f. und S. 254−272.
[3]Ebd.
[4]https://savvy-contemporary.com/de/events/2019/invocations-agropoetics/.
[5]Die Debatte um das Berliner Stadtschloss ist beispielhaft dafür, wie postkoloniale Kritik nicht etwa in ihrer Komplexität ernst genommen, sondern nur durch unermüdlichen Aktivismus zur Kenntnis genommen wird: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/id=5690.