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ZWISCHEN EVIDENZ UND POESIE Marietta Kesting über Carrie Mae Weems im Württembergischen Kunstverein Stuttgart

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2022, Ausstellungsansicht

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2022, Ausstellungsansicht

Der menschliche Körper ist immer auch Austragungsort politischer Kämpfe; von Gesetzen reguliert, von Architektur ausgegrenzt, von ethnografischen Blicken kategorisiert, ist er zugleich Ort des Widerstands und der Solidarität. Im Zentrum des umfangreichen Werks von Carrie Mae Weems stehen die Sichtbarmachung von Gewalt gegen People of Color ebenso wie die Gesten der Gemeinschaft unter Frauen und sozial Benachteiligten. Die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Marietta Kesting hat die Retrospektive der US-amerikanischen Künstlerin im Württembergischen Kunstverein besucht und zeichnet Weems Entwicklung einer radikalen wie poetischen Formensprache nach. In ihren präzise komponierten Fotografien und Performances tritt die Künstlerin häufig selbst als Protagonistin auf und durchbricht damit, so Kesting, den Schein von Objektivität.

Die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, An-und Abwesenheit, zwischen der Stille von Fotografien und der Frage nach der audiovisuellen Evidenz und Zeugenschaft zieht sich durch die gesamte Ausstellung von Carrie Mae Weems im Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Es ist die erste umfangreiche Einzel­ausstellung der US-amerikanischen Künstlerin in Deutschland. Beim Eintreten fallen sofort die großformatigen exquisiten Schwarz-Weiß-Fotografien ins Auge, die an symmetrisch angeordneten Stellwänden mitten in den weitläufigen Räumen des Kunstvereins präsentiert werden (Constructing History / A Story within a Story, 2008). Weems’ Werk ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Fotografie, sie tritt in den Dialog mit dem Medium durch inszenierte Performances oder das Hinzufügen narrativer Texte. Bei genauerem Hinsehen zeigen die Arbeiten in ihrer Zusammenschau ein Nachdenken über Fragen der Wissensvermittlung und Veranschaulichung, über didaktische (Bildungs-)Formate und darüber, welche Bilder diese produzieren.

Schon mit dem Titel ihrer Ausstellung, „The Evidence of Things Not Seen“, macht Weems die Dringlichkeit der von ihr bearbeiteten Themen deutlich: Sie zitiert die Überschrift eines Artikels von James Baldwin, der zuerst 1981 ausgerechnet im amerikanischen Playboy-Magazin erschien. [1] Bezugnehmend auf das Verschwinden von 30 afroamerikanischen Kindern, die in Atlanta, Georgia, ermordet wurden, hatte der Autor darin Gedanken über Rassismus, Atlantas gewalttätige Geschichte, die Klassenfrage, sozioökonomische Ungleichheit und sexualisierte Gewalt formuliert. Die Geschehnisse wurden damals von den staatlichen Institutionen ignoriert. Die Ausstellung stellt dieselben Fragen erneut, die seitdem weder gelöst noch weniger dringlich geworden sind: Wer kann sich im öffentlichen Raum sicher fühlen und wem gehört die Repräsentation? Welche künstlerischen und aktivistischen Strategien können für die Sichtbarmachung von Gewalt eingesetzt werden?

Weems zeigt bewusst keine indexikalischen Bilder von Gewalt gegen rassifizierte Menschen. [2] Stattdessen thematisiert sie die Todesfälle in Polizeigewahrsam oder bei Festnahmen in minimalen und in ihrer Wiederholung geradezu unerträglichen Texttafeln (The Usual Suspects, 2016) sowie in Videos mit Texteinblendungen auf Schwarzbild. Viele Arbeiten sind der Black-Lives-Matter-­Bewegung gewidmet, sie dokumentieren aktuelle Ereignisse und vertiefen die historische Analyse der Gewalt: das Erbe und Nachwirken der Sklaverei, Jim Crow und die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung. In der Ausstellung liegen auf mehreren Studiertischen – wie in einer altmodischen Mediathek – längst obsolete Stereoskopie-Brillen. Darin sind unterschiedliche Bilderserien zu sehen, unter anderem auch From Here I Saw What Happened and I Cried (1995–96), Fotografien, die den kolonialen Blick auf afrikanische Menschen dekonstruieren. Weems zeigt nicht nur das Betrauern, die Wut und die Frustration im afroamerikanischen Alltag, sondern feiert auch das Zusammensein wie in The Kitchen Table Series (1990). Hier wird geraucht, getrunken; ein Mädchen lernt von ihrer Mutter, sich zu schminken. Die Fotos sind mit narrativen Texten versehen, die beiläufige Geschichten erzählen. Die Küche ist immer schon als signifikanter Ort des Austauschs und der weiblichen Solidarität bekannt – und für feministische Theoriebildung.

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2022, Ausstellungsansicht

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2022, Ausstellungsansicht

Weems’ Werk weist Parallelen zu den Arbeiten Arthur Jafas und anderer zeitgenössischer afroamerikanischer Künstler*innen auf, die die Fototheoretikerin Tina Campt als Vertreter*innen eines neuen black gaze [3] ausmacht. Ihnen ist gemeinsam, dass sie alltägliche Archive der rassistischen Gewalt aufarbeiten, den Blick verschieben, zurück- bzw. anders blicken und wertschätzende Counter-Archive anlegen. Weems’ Werk verspricht durch den häufigen Einsatz von Schwarz-Weiß-Bildern und Text „Objektivität“, die durch die Einfügung ihres eigenen Körpers, der performative Akte ausführt, immer wieder aufgebrochen wird. Die Künstlerin hat diese Arbeit schon in den 1990er Jahren begonnen und besitzt eine ganz eigene Ästhetik, es ließe sich vielleicht auch von einer Wiederaufführung und gleichzeitigen Dekonstruktion eines didaktischen Blicks sprechen. Gleichzeitig gibt es Berührungspunkte mit nicht visuell arbeitenden Künstler*innen wie der Schriftstellerin Claudia Rankine, die feststellte: „Art is not going to change laws, but it might make apparent something we didn’t see about how we all grew up.“ [4]

Welchen Status haben dokumentarische Bildmaterialien, und insbesondere Fotografien, in der Kunst, seit Beginn von Weems künstlerischer Arbeit bis heute?

In einem viel zitierten Text kommentiert Bertolt Brecht bereits 1930 die Problematik des Dokumentarischen: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine ‚einfache Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. […] Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘ etwas ‚Künstliches‘, ‚Gestelltes‘.“ [5] Es gibt dennoch Momente, in denen dokumentarische Aufnahmen auch gegenwärtig juristisch bedeutsame Evidenz produzieren. Die Ermordung von George Floyd 2020 durch einen Polizisten filmte eine 17-jährige Passantin mit ihrem Handy. [6] Auch aufgrund dieses Materials kam es hier zu der seltenen Verurteilung eines Polizisten.

Entsprechend der von Brecht hervorgebrachten Forderung nach einer Konstruktion des Sichtbaren, die verdeutlicht, dass auch „Realität“ immer auf bestimmte Weise „zu-sehen-gegeben“ wird, sind Weems Bildmaterialien hingegen größtenteils nicht dokumentarisch, sondern inszeniert. Weems wechselt dabei immer wieder die Rollen und erweitert die fotografische Abbildung durch Performances. In Lincoln, Lonnie, and Me – A Story in Five Parts (2012) inszeniert sie sich als Figur-Hologramm in der Rolle des Tricksters mit dem altmodischen Spezialeffekt Pepper’s Ghost. [7] Der Titel bezieht sich auf den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln und den Aktivisten und Künstler Lonnie Graham. In der Museums Series (seit 2006) ist die Künstlerin von hinten vor berühmten Museen zu sehen, sie schaut uns nicht an, sondern in die Ferne, vielleicht in die Zukunft. Sie steht vor den Museen, die die „alte“ westliche imperiale Kultur repräsentieren oder die Idee des Franchisemuseums, wie beispielsweise in Bilbao. In den USA ist Weems’ Werk mittlerweile in etablierten Museen vertreten.

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2022, Ausstellungsansicht

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2022, Ausstellungsansicht

Alle ausgestellten Serien bewegen sich zwischen Studium, Spiel, Reenactment, Geschichtsstunde und Kapitalismus- und Rassismusanalyse. Viele arbeiten mit Aufzählungen und Bestimmungen, wie zum Beispiel die fotografische Serie Listening Devices (2014), die auch ein Telefon und eine Flüstertüte beinhalten. Eine weitere Fotografie zeigt verschiedenen Mikrofone wie bei einer Pressekonferenz mit Geistern, denn im Hintergrund ist Rauch zu sehen. Listening Devices weist insbesondere auf den fehlenden Sound hin, aber auch auf die fehlenden Sprecher*innen; die technischen Geräte stehen isoliert, fast mystifiziert. Viele der Arbeiten scheinen auf produktive Weise zwischen didaktischem und dialektischem Bild zu oszillieren. Das Fotografische zeichnet sich durch ein Stillgestelltsein der Bewegung und die Abwesenheit von Sound aus, doch diese Bilder sprechen, zeigen Szenen, die sorgfältig geplant, kadriert und ausgeführt wurden und sehr lebendig wirken. In den Videos ist die Audioebene dagegen vorhanden: Es wird gesprochen, gesungen, performt, gebetet und musiziert. Weems arbeitete in den USA häufig auch im öffentlichen Raum mit Livesound in Form von Paraden und kollaborativen Prozessionen.

Von den vielen konzeptuell präzisen und beeindruckenden Arbeiten in der Ausstellung ist besonders die Installation eines Wohn- und Studierzimmers hervorzuheben, Land Of Broken Dreams: A Case Study Room (2021). Der Titel scheint auf M. L. Kings prominente „I have a dream“-­Rede von 1963 zu rekurrieren, seiner Vision des friedlichen Zusammenlebens und einem Ende der Diskriminierung nicht-weißer Menschen, die bis heute nicht verwirklicht wurde. In diesem „Raum der zerbrochenen Träume“ hängen Bilder und stehen skulpturale Objekte von prominenten Mitgliedern der Black Panther Party. Es gibt Regale, eine Anrichte, Sitzmöbel. Von der Künstlerin entworfene fiktive Bücher sind fein säuberlich eingeordnet, sodass sie wie eine Enzyklopädie aussehen. Die History of Violence besteht aus Band I bis XVII (fortlaufend) mit Einzeltiteln wie The Prison Industrial Complex, The Battle for Representation, The Soul of the Nation, The Skin in the Game oder The Corporate State.

Neuere Serien sind in Farbe. Eine Fotografie von Repeating the Obvious (2019) etwa zeigt den Umriss einer jungen Person, deren Gesichtszüge verschwommen sind und die eine dunkle Kapuzenjacke trägt. Aktivist*innen von Black Lives Matter tragen solche Kleidung oder auch Beyoncé in Solidarität mit ihnen beim Album Lemonade. Das Motiv wird in unterschiedlichen Größen 39-mal wiederholt. Weems arbeitet hier mit Unschärfe als Kommentar zu den realen Polizeipraktiken des Racial Profiling. Die Figur erinnert auch an ein Meme im Internet. Weems bezieht hier die ephemeren alltäglichen Onlinearchive in ihre künstlerische Bilderforschung mit ein. Die Wiederholung potenziert die geisterhafte Figur, die digital geklont wurde. Gleichzeitig ist sie auf analoge Art als Reproduktion an den Wänden auf der von Weems entworfenen Tapete angebracht. Die Tapete aus der Africa Serie (1993) ist nach einem Motiv des Vorsatzpapiers von George Bernard Shaws Buch The Adventures of The Black Girl in Her Search for God (1932) angefertigt und zeigt eine allegorisierte Schwarze Frauenfigur und Korn­ähren. [8] Jedes Detail ist wie ein Schlüssel im Archiv und führt zu anderen tiefen Querverbindungen und Bezügen zur afroamerikanischen Geschichte: Es können weitere audiovisuelle Forschungsprojekte daraus entstehen.

„Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2. April bis 22. August 2022.

Marietta Kesting ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin.

Image credit: © Carrie Mae Weems, courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York and Galerie Barbara Thumm, Berlin, photos Hans D. Christ

Anmerkungen

[1]James Baldwin, „Atlanta: Evidence of Things Not Seen“, in: Playboy, Nov. 1981; später folgte der als Buch veröffentlichte Essay „The Evidence of Things Not Seen“, New York, NY, 1985.
[2]Weems produziert keine fotografische „Hitparade of Horrors“, wie A. Aїsha Azoulay solches Material benannte.
[3]Tina M. Campt, A Black Gaze: Artists Changing How We See, Cambridge, MA, 2021. Dieses Buch wurde von Christian Kravagna in Texte zur Kunst, 125, 2022, rezensiert. Carrie Mae Weems wird in Campts Buch nicht besprochen.
[4]Claudia Rankine, The White Card, Minneapolis, MN, 2019, S. 77.
[5]Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment, 1931/32 (erstveröffentl.), zitiert nach W. Hecht u. a. (Hg.), Bertolt Brecht, Bd. 21, Schriften 1, Frankfurt/M. 1992, S. 448–514, hier: S. 469.
[6]https://www.nytimes.com/2020/05/31/us/george-floyd-investigation.html.
[7]Ein illusorischer Theatereffekt, der nach dem Wissenschaftler John Henry Pepper benannt ist.
[8]Das Vorsatzpapier wurde von John Farleigh gestaltet.