KRITISCHE INFRASTRUKTUREN Barbara Reisinger über Jenni Tischer in der Galerie Krobath, Wien
Breite Bahnen von schwarzem Kaktusleder liegen auf dem Galerieboden, überkreuzen sich zu einem Raster. Die Zwischenräume sind am DIN-A4-Format abgemessen. Drei dieser Zwischenräume bleiben nicht leer und flach. Aus ihnen erheben sich Stapel von Kopierpapier, eingefasst in Glaskästen, die wiederum von Hüllen aus selbiger Lederalternative zusammengehalten werden. Das schwarze Material des Rasters trägt die Ausstellung von Jenni Tischer und spielt darauf an, dass das, was die Welt zusammenhält, zugleich materiell ist – Infrastruktur, Kaktusleder – und immateriell – Raster, Normen, Zahlen.
Wenn ich beschreibe, wie Tischers Ausstellung erscheint, tue ich das, um greifbar zu machen, wie Bedeutung im Materiellen verfestigt ist. Ich frage mich, wie viele Autor*innen dieses Heftes darauf hinweisen, dass die Etymologie von „Kritik“ auf das altgriechische Wort „krinein“ zurückgeht, was „unterscheiden“ bedeutet. Um zu unterscheiden, Kriterien zu gewinnen, beschreibe ich.
Die Ausstellung befragt die Umwandlung von Pflege- und Hausarbeit in immaterielle Daten und die Rückübersetzung dieser Daten in visuelle Formen, gebaute Strukturen, kurz: sinnlich Wahrnehmbares, Materielles. Entsprechend verfügt die oben beschriebene Rasterinstallation I see / You mean I (2023) über ein Datenreservoir, das über das Sichtbare hinausgeht. Drei ausgedruckte Blätter korrespondieren mit den drei Glaskästen und verweisen auf Tischers Quellen: Ein Balkendiagramm zeigt die drastische Umverteilung der bezahlten reproduktiven Arbeit vom privaten in den öffentlichen Bereich zwischen 1900 und 1990; die Titelseite eines soziologischen Artikels verweist auf die intersektionalen Verstrickungen des Dienstleistungssektors, in dem auch in historischer Sicht besonders nichtweiße Frauen beschäftigt waren, [1] und schließlich projiziert ein dritter Textabschnitt einen utopischen Ausweg, der die Last der „undankbaren und unaufhörlichen Schinderei“ der Hausarbeit von den Schultern der Frauen nimmt und dem Kollektiv überträgt. [2] Die Wortführerin dieser Utopie ist die Architektin Alice Constance Austin, die in den 1910er Jahren zur Planung der sozialistischen Kommune Llano del Rio hinzugezogen wurde. Austins Plan sah vor, in der kalifornischen Wüste nördlich von Los Angeles eine radial angelegte Gartenstadt zu errichten, deren küchenlose Wohneinheiten mit unterirdischen Tunneln verbunden sein sollten, durch die frische Wäsche und kommunal gekochte Mahlzeiten angeliefert, schmutziges Geschirr und Wäsche abtransportiert werden sollten. Mangels Wasser und Finanzierung konnte Austins Plan nie umgesetzt werden. Die oktogonale Geometrie, die ihm zugrunde liegt, dient als Ausgangspunkt für die erste von vier großformatigen Leinwänden, Diagrammatic Image (a) Llano del Rio bis Diagrammatic Image (d) Rose Diagram (2023), die neben den Glaskästen den zweiten Schwerpunkt in Tischers Ausstellung setzen.
Unterscheidungen sind nicht nur nötig, um räumliche Anordnungen von Dingen mit Bedeutung zu verknüpfen. Während sie zunächst vonnöten sind, um den Gegenstand der Analyse einzugrenzen (also zumindest von dem, was nicht analysiert wird, zu scheiden), bedarf es in einem weiteren Schritt einer Entscheidung, welcher Maßstab zur Beurteilung angelegt wird. In Jenni Tischers Referenz auf die Kommune Llano del Rio, die Architektin Austin und nicht zuletzt in der Verwendung einer veganen Lederalternative klingt ein Set von Kriterien an, die in der zeitgenössischen Kunst häufig dazu dienen, der Nutzlosigkeit des Ästhetischen zu entkommen: Kriterien der Ethik und der Politik. Doch obwohl die Verweise der Ausstellung zeitgemäß und politisch dringlich sind, ist es nicht nur diese Ebene, auf der Tischers Arbeit interessant ist. Reproduktive Arbeit ist das Thema der Ausstellung, doch lässt sich ihre Bedeutung als Kunst nicht auf dieses Thema reduzieren. Der Titel spricht das an: „Hard Facts (I see / You mean)“ – was macht „harte“ Fakten aus? Wodurch erhalten sie ihre Härte, das heißt ihre Unantastbarkeit oder ihre Schwierigkeit?
Neben Kaktusleder, Papier, Glas, Sprühfarbe, Acryl und Leinwänden erscheint das Netz von Referenzen, das die Ausstellungsstücke auslegen, wie eine weitere Ebene des Materials. Der Titelzusatz „I see / You mean“ ist dem Roman der Kunsttheoretikerin Lucy Lippard entliehen, die passenderweise besonders mit der Begriffsprägung der Entmaterialisierung der Kunst assoziiert wird. [3] Bekanntlich widerlegte schon die Publikation von Lippards Chronologie der Dematerialization of the Art Object, dass eine solche stattgefunden habe – das Material war nicht verschwunden, sondern nur weniger greifbar geworden (bedrucktes Papier, Luft usw. statt Metall und Sperrholz). Auch ihr Roman bezeugt bereits in der Widmung eine Skepsis gegenüber dem Immateriellen, denn er ist einer Frau gewidmet, „who always understands the sensuous grid“. [4] Die sinnliche Qualität des Rasters, aber auch der Statistik und des Diagramms erscheint als Dreh- und Angelpunkt von Jenni Tischers Arbeiten.
Dem großformatigen Plan von Austins Gartenstadt steht das gemalte Rosendiagramm Diagrammatic Image (d) Rose Diagram (2023) gegenüber: Vom Mittelpunkt eines Kreises her entfalten sich Keilformationen in Schwarz, einer Fleischfarbe und in Taubenblau über einem schwarzen Raster. Die sorgfältige Beschriftung in leicht antiquierter Typografie verweist auf die Quelle des Diagramms. Es stammt aus den Aufzeichnungen der Statistikerin Florence Nightingale, die sie während des Krimkriegs (1853–56) führte und nach Kriegsende auf innovative Weise visualisierte. Die Crux von Nightingales Darstellung liegt in der Verteilung der Flächen, denn die großen, blauen Keile stellen monatliche Todesfälle durch Infektionskrankheiten dar, während die viel kleineren, rosaroten Anteile tödliche Verwundungen anzeigen. Nightingales historischer Appell an die britischen Machthaber*innen – die Dringlichkeit der Vorbeugung von Infektionen durch hygienische Maßnahmen – tritt in Tischers Umdeutung hinter die sinnliche Wirkung zurück. Durch den Wegfall des Großteils der Beschriftungen und die Übertragung der Farbflächen von einem kleinformatigen Pamphlet auf eine zwei Meter hohe Leinwand gewinnt das Diagramm eine abstrakte, ästhetische Qualität. Es ist, als würde die sichtbare Gestalt der von Nightingale erhobenen Zahlen ihre Darstellungspflicht abwerfen und auf eine Präsenz eigenen Rechts beharren. Die Sichtbarkeit von Fakten und Daten überhaupt steht auf dem Spiel.
Bedeutung ist streng genommen niemals immateriell, sondern in verschiedenen Medien verkörpert, seien es gedruckte Buchstaben, auf Speichermedien abgelegte Codes oder feuernde Neuronen. „Immateriell“ ist somit ein behelfsmäßiges Wort, das jene Materialitäten beschreibt, die der menschliche Wahrnehmungsapparat nicht unmittelbar registriert. Kurz: unsichtbar ≠ immateriell.
Mit dieser Ansicht lande ich klar am materialistischen Ende der Skala zwischen Idealismus und Materialismus. Die komplexen Verknüpfungen zwischen Bedeutung und Medium müssen allerdings mitgedacht werden.
In meiner Deutung faltet Jenni Tischers Ausstellung diese Relation von Unsichtbarkeit und Materialität auf. Die Werke unterscheiden verschiedene Stadien des Sichtbar- und Greifbar-Werdens von Fakten und übertreiben die diagrammatische Präsenz durch die Verkörperung von Balken in skulpturalen Kästen, die Übertragung in streng geformte, abstrakte Malerei und Gewebe aus Kaktusleder. Lenkt mein spekulativer Umweg über die Materialität nicht vom verhältnismäßig greifbaren Thema der Ausstellung ab? Was hat die (vermeintliche) Dichotomie von Materialismus und Idealismus mit weiblich konnotierter Hausarbeit zu tun? Der gemeinsame Nenner von „harten Fakten“ und reproduktiver Arbeit liegt in ihrer Unsichtbarkeit oder zumindest in der gesellschaftlichen Tendenz, ihr Unsichtbarkeit zuzuschreiben.
Die Verbindung von abstrakten Fragen der Erfahrbarkeit und der Konkretion von „unaufhörlicher Schinderei“ liefert eine symbolische Operation, deren Grundlage Tischer von einer weiteren Gewährsfrau ausleiht. Aus Entwürfen der Wiener Künstlerin Friedl Dicker (1898–1944) entnimmt Tischer eine stempelartige Darstellung einer Kochstelle, die aus drei in einem Rechteck angeordneten Doppelkreisen besteht. Dickers Kürzel für Herdplatten mit etwas Arbeitsfläche daneben wird in der Ausstellung zu einem Emblem der reproduktiven Arbeit und ihrer Unsichtbarkeit. Tischers Installation setzt dieses Symbol auf zwei Leinwänden, Diagrammatic Image (b) Center of Reproductive Work und Diagrammatic Image (c) The Power of the Center is the Function of the Frame (2023), zwischen Radialplan und Rosendiagramm. Die drei Kreise werden einmal formatfüllend eingesetzt, ein zweites Mal im Raster angeordnet, mittels Schablonen wiederholt aufgesprüht. Wie die Keile des Rosendiagramms legen auch die Ringe im großen Format ihre Funktion ab und gewinnen an abstrakter, ästhetischer Wirkung als farbige, kreisförmige Bänder, ausgespart aus der opak schwarzen Malschicht, die den Rest der Fläche bedeckt. Daneben – und auf den kleineren Arbeiten Untitled (Reproduction) I–III (2023) und soft skill (2023) – beharren die Herde auf ihrer wiederkehrenden Präsenz. Die Fläche der einzelnen Einheiten entspricht wiederum dem DIN-A4-Format, und die Leinwand mit dem schablonierten Raster liefert somit einerseits einen Grundriss für die Rasterinstallation I see / You mean I, andererseits die Erinnerung an historisch gesetzte Normen, die das Erscheinungsbild von Informationen – Daten und Fakten – formen. Der emblematische Herd von Dicker symbolisiert reproduktive Arbeit als reproduzierbare Grundeinheit, die durch ihr normiertes Format in das ausgelegte Raster passt, in die Glaskästen und in die ausgesparten Leerflächen zwischen den Bahnen aus Kaktusleder.
Am Ende lande ich wieder beim Anfang. Die Kreisform verweist auch auf Zirkularität, auf den unaufhörlichen und repetitiven Charakter reproduktiver Arbeit. Sie bringt keine dauer- und objekthaften Produkte hervor, sondern erhält die Funktionalität von Dingen und Körpern. Die sorgsame Unterscheidung und Benennung von Dingen, ihre Trennung und Einordnung an ihre zugewiesenen Orte ist nicht notwendigerweise „kritisch“ im Sinne von subversiv bzw. systemstörend. Kritik als Unterscheidung ist systemerhaltend, was nicht heißt, dass das erhaltene System unbedingt in all seinen Kapazitäten affirmiert werden muss. Vielmehr wird die Voraussetzung der Kritik als Unterwanderung und Systemumwälzung in Zweifel gezogen: Subversion bedarf eines intakten, stabilen Systems. Die Infrastrukturen, aus denen sich Systeme zusammensetzen, sind Tischers Thema, und dieses Thema bedarf letztlich einer Verschiebung der Kriterien. Das Ästhetische im Sinne des sinnlich Wahrnehmbaren ist nicht nutzlos, sondern trägt wesentlich zur Gestalt der Fakten bei. Wie „hard facts“ aussehen, ist zugleich eine ästhetische und eine ethisch-politische Frage.
„Jenni Tischer: Hard Facts (I See / You Mean)“, Galerie Krobath, Wien, 20. April bis 27. Mai 2023.
Barbara Reisinger studierte Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Stuttgart. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigte sie sich mit Andy Warhols Tapeten als künstlerischem Medium.
Image credit: Courtesy of Jenni Tischer and Krobath Vienna, photos Rudolf Strobl
Anmerkungen
[1] | Siehe Mignon Duffy, „Doing the Dirty Work. Gender, Race, and Reproductive Labor in Historical Perspective“, in: Gender and Society, 3, Juni 2007), S. 313–336. |
[2] | Im Original: „thankless and unending drudgery.“ Das Zitat stammt von Alice Constance Austin aus dem genannten Textausschnitt, der Teil von Tischers Arbeit I see / you mean I ist. |
[3] | Lucy Lippard, I See / You Mean: A Novel, Chrysalis Books, 1979; Vgl. Lucy Lippard, Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972 [1973], Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1997. |
[4] | Dies., I see/You mean, Los Angeles: New Documents 2021 [1979], [Hervorhebung B. R.]. |