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DER ZWEIGLEISIGE TURNER Antonia Kölbl über J. M. W. Turner im Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München

„Turner. Three Horizons“, Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 2023, Ausstellungsansicht

„Turner. Three Horizons“, Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 2023, Ausstellungsansicht

Die ersten großen Auftritte von J. M. W. Turner in der Bundesrepublik hätten unterschiedlicher nicht sein können: Während Werner Haftmann 1972 in Berlin den „Maler des Lichts“ in seiner auf die Abstraktion hinauslaufenden Kunstteleologie als Vorläufer Mark Rothkos und Jackson Pollocks platzierte, präsentierte Werner Hofmann Turner 1976 in Hamburg als Landschaftsmaler seiner Zeit und versuchte sich an einer marxistischen Lesart der Werke. Damit bilden die beiden Ausstellungen die Polarität der Turner-Rezeption ab. Die kontrovers verhandelte Beurteilung des Künstlers, die sich insbesondere auf das Spätwerk und die „unfinished paintings“ konzentriert, fokussiert die Ausstellung im Lenbachhaus. In ihrer Rezension zeigt Antonia Kölbl auf, wie sich „Turner. Three Horizons“ zu der Debatte verhält, die die Rezeption schon so lange prägt.

Nur über den Eingang zur U-Bahn-Station Königsplatz kommen Besucher*innen in den sogenannten Kunstbau des Lenbachhauses in München. Dessen Architektur passt sich dem darunterliegenden Bahnsteig der Linien U2 und U8 an: ein langgestreckter Kubus, zugänglich über die flach abfallende Rampe an einer der Schmalseiten. Die aktuelle Ausstellung Joseph Mallord William Turners (1775–1851) nutzt diese Raumstruktur auf programmatische Weise: In chronologischer Folge hängen an der linken Längsseite die Gemälde, die Turner zu Lebzeiten der Öffentlichkeit präsentierte, und an der rechten jene, die erst posthum „entdeckt“ wurden, als Turners Nachlass an den britischen Staat ging. Dazwischen präsentieren die Kurator*innen Karin Althaus und Nicholas Maniu Aquarelle, Skizzenbücher und Lehrtafeln in kleinen Kabinetten. Mit der Gegenüberstellung von zwei Entwicklungslinien stellt das Lenbachhaus Turner als buchstäblich zweigleisigen Maler [1] aus und reagiert damit auf die wechselvolle Rezeptionsgeschichte, die sich besonders durch Kontroversen um den Status der „inoffiziellen“ Bilder auszeichnet.

Die wegen der lichtempfindlichen Arbeiten auf Papier gedimmte Beleuchtung lässt die Farbigkeit der Bilder umso mehr strahlen. Durch den schummerigen Ausstellungsraum bewegen die Besucher*innen sich an der zunehmend durch Licht bestimmten Malerei entlang – bis sie am Ende der stimmungsvollen Wegstrecke vor einem großen Fenster ankommen, durch das die schnöde Bahnhofsbeleuchtung scheint. Eingangs und in den kleinen Einbauten sorgen von der hohen Decke hängende cremefarbene Stoffbahnen für eine diffuse Grundbeleuchtung und ein intimes Raumgefühl. Dieser Gestaltungsmittel bediente sich auch die Tate Gallery, als die dortige Turner-Präsentation 1967 im Anschluss an die MoMA-Retrospektive 1966 erneuert wurde. Im White Cube – der mit von Stoffbahnen überspannten Sperrholzwänden in die historischen Galerieräume eingezogen wurde – zeigte sie überwiegend späte Gemälde und sogenannte „unfinished paintings“ in modernen Rahmen. Mit diesem Ausstellungsdisplay, so der Kunsthistoriker Sam Smiles, regte das Museum sein Londoner Publikum an, Turner als zeitgenössischen Künstler zu betrachten. [2] Die Münchner Ausstellung hingegen lädt nun dazu ein, die Entwicklung des langjährigen künstlerischen Schaffens – gezeigt werden Bilder aus den Jahren 1797 bis 1850 – aus der zweigleisigen chronologischen Präsentation herauszulesen.

Joseph Mallord William Turner, „Entrance of the Meuse“, 1819

Joseph Mallord William Turner, „Entrance of the Meuse“, 1819

Die Chronologien linker wie rechter Hand verlaufen jedoch nicht streng synchron, daher befinden sich auf der jeweils gegenüberliegenden Seite nicht unbedingt Werke aus ein und derselben Zeit. Das führt bei den Quersichten zwischen von Turner selbst öffentlich präsentierten Arbeiten und jenen, die in seinen Privaträumen blieben, zum Teil zu Verzerrungen, die den time lag zwischen den Entwicklungslinien größer erscheinen lassen, als er eigentlich ist. Southern Landscape with an Aqueduct and Waterfall (1828?) entstand etwa zehn Jahre nach dem an der gegenüberliegenden rechten Wand gehängten Seestück Entrance of the Meuse (1819). Vermutlich auf seiner zweiten Romreise legte Turner in gedämpften Gelb- und warmen Ockertönen die sanften Hügel einer südlichen Landschaft an, die ein kleiner Wasserlauf durchfließt und ein hellblauer Himmel mit gleißendem weißem Licht überwölbt. Der Katalog der Tate führt Southern Landscape als „large unfinished painting“. [3] Im Himmel über der aufgewühlten See von Entrance of the Meuse, das Turner 1819 in der Jahresausstellung der Royal Academy einreichte, führte der Maler die weißen Wolken viel detaillierter aus. Verliert man beim vergleichenden Sehen im Raum die Jahreszahlen aus dem Blick, könnte also der Eindruck entstehen, Turner habe in seinen „inoffiziellen Experimenten abseits der Öffentlichkeit“ [4] zu diesem Moment schon gänzlich anders gearbeitet als im institutionellen Rahmen der Royal Academy. Im darauffolgend gezeigten Seestück von 1833 – Van Tromp Returning after the Battle off the Dogger Bank – jedoch gleicht die malerische Behandlung des Himmels jener auf der römischen Leinwand von vermutlich 1828 schon viel deutlicher.

Den Wandtexten zufolge hätten die „Experimente“ und „Gemälde[,] die er zu Lebzeiten nicht zeigte“, bis heute ungeklärten Status; die Gründe, warum Turner sie nicht öffentlich machte, seien ungewiss. [5] Tatsächlich tragen lediglich drei der 26 „inoffiziellen“ Bilder „Study“ im Titel – für alle weiteren verrät die Beschriftung wenig darüber, ob es sich zum Bespiel um Vorarbeiten „offizieller“ Arbeiten handelt oder um Anlagen von Bildkompositionen, die nie ausgeführt und von Turner selbst seit 1818 als „beginnings“ bezeichnet wurden. Für einen Teil der Exponate fehlen die entsprechenden Erkenntnisse – in manchen Fällen liegen sie jedoch vor.

Gerade weil die „unfinished works“ so prägend in der Turner-Rezeption und auch in München stärker vertreten sind, lohnt es sich, genau hinzusehen. An diesen Bildern wurde ab dem 20. Jahrhundert die kunsthistorische Narration entwickelt, Turner sei Proto-Impressionist und Vorläufer der Abstraktion gewesen. [6] Zwar distanzieren sich die Kurator*innen in Wandtexten von dieser Lesart, doch die Gemäldepräsentation hält sie offen. Einerseits ist in den aushängenden Texten zur Rezeptionsgeschichte zu lesen, dass diese auf rein formalen Kriterien beruhende Interpretation mit der MoMA-Ausstellung 1966 ihren Höhepunkt erreicht und historische Einordnungen in der Folge wieder an Bedeutung gewonnen hätten. Die Kuratorin Karin Althaus ergänzt dazu: „Wer in ihm [Turner] einen protoabstrakten Künstler erkennen möchte, [lässt] außer Acht, dass er für seine Bilder immer ein Thema hatte.“ [7] Doch andererseits werden die späten und besonders formlosen „inoffiziellen“ Arbeiten als eigenständige Kunstwerke gezeigt. So können Kritiker*innen verschiedener Tageszeitungen beispielsweise in der Leinwand mit dem Titel Three Seascapes – Namenspatin der Ausstellung und präsentiert in modernem Rahmen – weiterhin einen Vorläufer zu Mark Rothkos Gemälde erkennen. [8] Das kleine Hochformat lässt sich jedoch nur als Farbfeldexperiment deuten, wenn nicht beachtet wird, dass es sich hierbei um Skizzen handelt. Der Online-Sammlungseintrag der Tate schlägt vor, Turner habe das Stück Leinwand durch Einrollen und Drehen ökonomisch für drei Skizzen genutzt: zwei übereinander, die dritte gestützt darüber, sodass sie sich mit der mittleren den Himmel teilt. [9]

Joseph Mallord William Turner, „Three Seascapes“, ca. 1827

Joseph Mallord William Turner, „Three Seascapes“, ca. 1827

Am Ende der Rezeptionsgeschichte, die das Lenbachhaus wiedergibt, steht die letzte Turner-Präsentation der Tate von 2020/21, die ihn thematisch in seiner Zeit verortet und zugleich aktualisiert, indem sie seine künstlerische Auseinandersetzung mit und finanzielle Involviertheit in die Versklavung von Afrikaner*innen herausstellt sowie Klimaphänomene durch seine Darstellung der frühen Industrialisierung betrachtet. [10] Das Lenbachhaus entschied sich indes für ein biografisch lineares Display der Gemälde, das einer Fortsetzung der protomodernistischen Rezeptionsgeschichte zumindest keinen Abbruch tut, und fährt damit, um im Bild zu bleiben, auf Nummer sicher.

Dabei bietet der rezeptionshistorische Ansatz durchaus kritisches Potenzial. So ließen sich zum Beispiel die vielen gern gehegten kunstgeschichtlichen Topoi, auf denen Turners Karriere als großer Modernist beruht, einordnen und dabei vielleicht auch ein bisschen entzaubern: angefangen beim Atelier als Ort genialer Schöpfung [11] – der die von Turner dort hinterlassenen Arbeiten mit seiner Aura umhüllt und zum Mysterium verklärt – bis hin zum Spätwerk, dessen Begriff von der Geschichte der männlichen Genie-Figur nicht zu trennen ist. [12] Dass patriarchale Strukturen die Bewertung Turners mitbestimmten, machen nicht zuletzt die in der Ausstellung reproduzierten Zitate historischer Kritiker deutlich, die aus ihrer Sicht missglückte Kunst gerne mit heimischer Arbeit in Verbindung brachten. [13]

„Turner. Three Horizons“, Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 28. Oktober 2023 bis 10. März 2024.

Antonia Kölbl ist Kunsthistorikerin und Managing Editor von TEXTE ZUR KUNST.

Image credit: 1. Courtesy of Lenbachhaus, photo Lenbachhaus / Simone Gänsheimer; 2 + 3. Photos © Tate

Anmerkungen

[1]Ich danke Simon Lindner, der mit dieser Idee meine Gedanken zur Ausstellung aufs Gleis gebracht hat.
[2]Sam Smiles, „Unfinish? Repulsive? Or the Work of a Prophet? The Late Turner“, in: Tate etc., 15, 1. Januar 2009.
[3]Turner, Southern Landscape with an Aqueduct and Waterfall, 1828?, Online Collection, Tate.
[4]„Turner. Three Horizons“, Pressemitteilung, Lenbachhaus München, 2023, S. 2.
[5]„Turner. Three Horizons“, Wandtexte, Lenbachhaus München, 2023, S. 2.
[6]Siehe hierzu auch Smiles, 2009, und ausführlicher: Sam Smiles, J. M. W. Turner. The Making of a Modern Artist, Manchester University Press 2007.
[7]Ulrich Clewing, „Der Nebel der Welt“, in: Weltkunst,­ 23.10.2023.
[8]Gabi Czöppan, „Giftiger Nebel im Licht“, in: Tagesspiegel, 30.10.2023; Stefan Trinks, „München überrascht mit Neuem zu William Turner“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.2023.
[9]Turner, Three Seascapes, ca. 1827, Tate Online ­Collection.
[10]„Turner“, Wandtext, S. 17–19.
[11]Brian O’Doherty, Atelier und Galerie. Studio and Cube, übers. von Dirk Setton, Merve 338, Berlin: Merve, 2012, z. B. S. 67.
[12]Gordon McMullan/Sam Smiles, „Introduction“, in: Late Style and its Discontents. Essays in Art, Literature, and Music, hg. von Dens., Oxford: Oxford University Press, 2016), S. 1–14.
[13]Vgl. „Turner“, Wandtexte, S. 11.