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ANTONIO NEGRI (1933–2023) Katja Diefenbach

Antonio Negri

Antonio Negri

Seine Autobiografie Storia di un comunista (2020) beendet Toni Negri in der Zuversicht, dass die, die uns in der „Kunst der Subversion und der Befreiung“ historisch vorausgegangen sind, mit denen, die nach uns kämpfen werden, durch einen ewigen Faden verbunden sind, der sich aus der Exzessivität lebensverändernder Kräfte spinnt. Dieser Faden durchzieht uns alle, gehört aber keinem. Er verknüpft die Zeiten des Aufstands gegen die Regeln der Kontinuität. Wenn uns Negri ein Vermächtnis hinterlassen hat, dann das: diesem Baruch de Spinoza und Friedrich Nietzsche abgewonnenen Vertrauen auf die ewige Wiederkehr von Differenz und Insurrektion treu zu bleiben. Uns aufzufordern, das Ewige als diesseitige Befreiung zu begreifen – als kooperativ geschaffen, unendlich veränderlich und von günstigen Umständen bedingt –, umschreibt nichts anderes als eine ontologische Erweiterung der Marx’schen Formel von der Geschichte als einer Geschichte der Klassenkämpfe.

Zwei Grundannahmen sind für diese Umschrift entscheidend: Die erste entwickelt Negri in den 1960er Jahren im Kontext operaistischer Gruppen wie Quaderni Rossi, Classe Operaia und Potere Operaio. Im Anschluss an Mario Tronti kehrt er das Verhältnis von Kapital und Arbeiter*innenklasse um und geht vom Primat einer revolutionären Klassensubjektivität aus, die sich aus den zeitlichen Herrschaftsformen des Kapitals nicht ableiten lässt. Ihre Handlungsmacht wird auf die Fähigkeit zurückgeführt, sich von einer ökonomischen Produktivkraft in eine politische Angriffskraft zu verwandeln, die durch Arbeitsverweigerung, Sabotage und maximale Lohnforderung die Profitrate attackiert. Diese Perspektive schlägt Negri unter dem Eindruck koordinierter wildcat-Aktionen in einigen Abteilungen der großen Fabriken des italienischen Nordens ein, unter anderen bei Fiat, Pirelli, Innocenti und in den petrochemischen Anlagen von Porto Marghera. Sie wird durch die 1962 auf der Turiner Piazza Statuto explodierende Massenmilitanz aus dem Süden migrierter Fiat-Arbeiter*innen gestärkt, die sich zu Zehntausenden tagelange Straßenschlachten mit der Polizei liefern, aus Frustration über gewerkschaftliche Korruption und immense Formen der Fabrikdisziplinierung durch Werkschützende und ehemalige Carabinieri. Für Negri tritt auf der Piazza Statuto mit ungeheurer Wucht die neue Figur der Massenarbeiter*innen auf : ungelernte Fließbandarbeitende hoher Produktivität, jung, migrantisch, subproletarisch und außerhalb der Hegemonie linker Parteien und Gewerkschaften stehend. Negri konzentriert sich darauf, ihre Kultur des permanenten Konflikts und der eskalatorischen Lohnforderung zu untersuchen. Zugleich analysiert er – unter Bezugnahme auf Joseph A. Schumpeter und John Maynard Keynes –, wie Kapital und Regierung auf die Arbeitskämpfe mit Disziplinar- und Integrationsmaßnahmen, mit Automatisierung sowie wachsender Vergesellschaftung der Produktions- und Reproduktionsbedingungen reagieren. Diese Untersuchungen debattiert er auch im Kreis der militanten Forscher*innen, die er an der Universität Padua, an die er 1966 als Professor für Staatsrecht berufen wurde, um sich versammelt.

Das zweite Grundtheorem seines Denkens, mit dem er zum Intellektuellen der globalisierungskritischen Linken wird, erschafft Negri nach der Zerschlagung der Autonomia Operaia und der „Bewegung von 1977“, den beiden Tendenzen, die das „lange italienische Jahrzehnt“ nach dem „Heißen Herbst“ von 1969 prägen. Dieses Jahrzehnt ist durch Verflechtungen von Fabrik- und minoritären Kämpfen geprägt, deren Transversalität sich tief in Negris Marxismus einschreibt, auch wenn er feministische Kritiken an den patriarchalen Strukturen der Autonomia Operaia nur zögerlich aufnimmt. Der Austausch zwischen Fabrikkomitees, der postleninistischen Autonomia sowie Studis, Spontis, feministischen und schwul-lesbischen Gruppen bringt eine Bewegung der Bewegungen hervor, die „alles“ will – Klassenkampf, Normensubversion, Transformation der Lebensweisen, autoriduzione von Strom- und Mietkosten. In diesem Zyklus entwickelt Negri die Figur der „gesellschaftlichen Arbeit“, auf die seine Ontologie unendlicher Lebenskräfte später aufsattelt. Die Situation der 1970er Jahre wird durch eine staatliche Strategie extremer Spannung überformt sowie durch die zunehmende Militanz von Seiten des organisierten Teils der Bewegung, der mit bewaffneten Demo- und Streikposten agiert. 1979 wird das linke Laboratorium der Autonomie durch eine Repression größten Ausmaßes zerschlagen. Im Zuge von mehr als 60.000 Festnahmen wird auch Negri mit einer Gruppe operaistischer Intellektueller inhaftiert und zu Unrecht angeklagt, Kopf der Roten Brigaden zu sein. Er wird als cattivo maestro und Verführer der Jugend verfemt. Nach vier Jahren Präventivhaft kommt er als Abgeordneter der Partito Radicale frei und flieht nach Paris. Mit der Rückkehr und dem Aufsichnehmen von sechs Jahren Gefängnis wirft sich Negri 1997 selbst als Pfand in die Waagschale, damit die Verfolgung operaistischer Militanter ein Ende finden kann.

Zu Beginn der 1979 explodierenden Repression leitet Negri eine ontologische Wende seines Denkens ein. Unter Bezug auf Spinoza erklärt er, dass die Macht der freudigen Affekte und die durch Kooperation katalysierte Massenintellektualität immer stärker sind als Ressentiment und Unterwerfung – selbst wenn letztere große Einheitsfiktionen wie Nation, Race oder Gott hervorbringen. Mit der Aufsattlung spinozistischer Begehrens- und Handlungsbegriffe auf das Theorem der „gesellschaftlichen Arbeit“ avanciert Negri zusammen mit Michael Hardt zum Philosophen der Demonstrationen von Genua und Seattle, der Bewegung der Commons, der Tute ­Bianche und Disobbedienti, der immateriellen und biopolitischen Arbeit. Da diese Arbeit quantitativ nicht mehr messbar sei, verabschiedet sich Negri von der Werttheorie. Mit Hardt geht er dazu über, eine Art letzte Klassenfigur zu umreißen, die die zentralen Produktionsmittel wie Kooperations- und Koordinationsfähigkeit in ihrem Körper verinnerlicht habe, sodass das Kapital nur noch durch äußerliche Wert- und Rentenextraktion operiere. Mit der These, dass der Kommunismus dadurch bereits präsent sei, hat Negri seinen Optimismus, aber auch die Fortschrittslogik seiner Tendenzbegriffe unter Beweis gestellt, die im Widerspruch zu Konzepten kairologischer Zeit steht, über die Negri eines seiner schönsten Bücher geschrieben hat.

Am 16. Dezember 2023 ist der italienische Marxist gestorben. Wir müssen nun ohne ihn die „Kunst der Subversion und der Befreiung“ betreiben, die er auf singuläre Weise (vor-)gelebt hat – heiter, zuversichtlich, unendlich erfinderisch und an vorderster Front.

Katja Diefenbach ist Professorin für Kulturphilosophie/Philosophie der Kulturen an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Sie arbeitet zum Verhältnis von Marxismus und Poststrukturalismus, zu den Wechselwirkungen zwischen westlicher Philosophie- und Kolonialgeschichte sowie zum Denken Baruch de Spinozas. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Encountering Althusser. Politics and Materialism in Contemporary Radical Thought (Bloomsbury, 2013, hg. mit Sara R. Farris u. a.) sowie Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie (Turia + Kant, 2018).

Image credit: © Christian Werner / Alexandra Weltz