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RESTITUTION UND RESONANZ Ein Round-Table-Gespräch mit Memory Biwa und Bénédicte Savoy, moderiert von Mahret Ifeoma Kupka und Irene V. Small

Satch Hoyt, „A millisecond to mute the voice that anchors freedom“, (from the / aus „Afro-Sonic Mapping“ project), 2017

Satch Hoyt, „A millisecond to mute the voice that anchors freedom“, (from the / aus „Afro-Sonic Mapping“ project), 2017

Wie entscheidend Sprache ist, um Debatten zu gestalten, demonstriert Bénédicte Savoy seit ihrem Austritt aus dem Expert*innenbeirat des von ihr als ­„Tschernobyl“ bezeichneten Humboldt Forums immer wieder. Gemeinsam mit der Künstlerin und Historikerin Memory Biwa denkt die Kunsthistorikerin unter anderem darüber nach, welche Rolle Sound für Restitution spielt. So vereint Biwa beispielsweise in ihrer Auseinandersetzung mit dem von der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia begangenen Völkermord Töne diverser Orte und Zeiten zu einem transhistorischen Klangerlebnis. Neben den Geschichten von Rückgaben und der Debatte um Wiedergutmachung nehmen die beiden Moderatorinnen Mahret Ifeoma Kupka und Irene V. Small, die diese Ausgabe von TEXTE ZUR KUNST mitkonzipiert haben, mit ihren Gesprächspartnerinnen auch die Zukunft von Restitution in den Blick.

Irene V. Small: Der Klarheit halber haben wir uns entschieden, den Begriff Restitution als Titel für diese Ausgabe von Texte zur Kunst zu wählen, um die Rückgabe unrechtmäßig erworbener und geraubter Objekte zu benennen. Wir sind jedoch alle ziemlich ambivalent, was seine Fähigkeit betrifft, die Komplexität der Probleme zum Ausdruck zu bringen, um die es geht. Restitution legt nahe, dass bestimmte Schulden oder Rechtsverletzungen konkret zurückgezahlt bzw. korrigiert werden können. Der Begriff beinhaltet nicht die Vorstellung von Reparatur oder den epistemologischen Wandel, den andere wie Rematriation nahelegen. Bénédicte, in deinen Texten schreibst du davon, dass das Re- in all diesen Worten entscheidend ist, weil es uns zwingt, Zukunft und Vergangenheit zusammen zu denken. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Begriffen, die verwendet wurden, um verschiedene philosophische Nuancen innerhalb der Debatten über die Rückgabe zu kennzeichnen: Repatriation (Rückgabe), Rematriation, Repossession (Wiederinbesitznahme), Redress (Wiedergutmachung), Restoration (Wiederherstellung), Reclamation (Rückforderung bzw. -gewinnung) und Homecoming (Heimkehr), um nur einige zu nennen. Vielleicht könntest du zunächst über einige der Begriffe sprechen, die für dich hilfreich sind und an denen du dich abarbeitest, wenn du dich mit diesen schwierigen Themen auseinandersetzt.

Bénédicte Savoy: Ich liebe diese terminologische Frage. Sie ist aus zwei Gründen sehr wichtig: Zum einen, weil die gesamte Terminologie aus „unseren“ europäischen Sprachen kommt und daher mit unserer Perspektive zusammenhängt. Restituieren, das ist das, was diejenigen machen, die eine Sache haben und sie zurückgeben. Insofern hat dieses Wort schon eine Perspektive in sich, und bei jeder Verwendung bringt es diese mit. Damit ist schon alles gesagt, mit einem Wort. Der zweite Grund für mich ist, dass das Wort Restitution der absolute Schlüssel zum Ganzen bleibt, weil es ein sehr polarisierendes Wort war. Ich spreche von der Situation vor fünf Jahren, als noch niemand in politischen Kreisen oder in Museumskreisen über Restitution reden wollte. Damals gab es einen Reflex, wie ein Kniesehnenreflex, wenn man das Wort Restitution benutzte: In der Politik und noch viel mehr in Museen geschah ein terminologisches Rutschen zu „Zirkulation“. Sie wollten nicht über Restitution, sondern immer über Transfer, über Zirkulation sprechen. Der Unterschied ist, dass Restitution mit diesem Re- Zeitlichkeit in sich hat, es gibt ein Vorher, es gibt ein Jetzt, es gibt ein Nachher. Zirkulieren hat keine Geschichte – und deswegen ist es sehr bequem. Museen haben eine Zeit lang gesagt: Ja, wir müssen unbedingt mehr zirkulieren lassen. Aber mehr zirkulieren lassen heißt weniger über Geschichte sprechen. Eine ganz kleine Fußnote zu meinem zweiten Punkt: Als wir, auch mit Felwine Sarr, vor fünf Jahren feststellten, dass das Wort Restitution in bestimmten Kreisen in die Terminologie von Zirkulation rutscht, konnten wir uns nicht erklären, woher das kam. Später, als ich historische Forschungen anstellte über die erste Restitutionsdebatte, habe ich ein Dokument aus den 1970er Jahren gefunden, in dem sich Museen eine aktive Handreichung gegen Restitution gegeben haben. Ein Absatz betraf die Terminologie: Die Museen hatten sich vorgenommen, nicht das Wort Restitution zu nutzen, sondern immer nur „Transfer“. Sie sagten sinngemäß, sie müssten das Wort verbieten, es sei zu gefährlich für sie. [1] Danach war mir klar, warum es so wichtig ist, genau dieses Wort, Restitution, zu nutzen.

Memory Biwa: Das ist eine äußerst wichtige Frage. Ich verwende die Begriffe Rückgabe und Restitution normalerweise synonym und in erster Linie, um zu betonen, dass es sich dabei um Prozesse handelt – und nicht um Ereignisse. Im Wesentlichen bringen sie die Erwartung zum Ausdruck, dass sie zu ontologischen und epistemologischen Transformationen sowie zu Formen von Restorative Justice führen. Rückgabe und Restitution sollten in Bezug auf ihre historischen Besonderheiten betrachtet und umgesetzt werden. In diesem Fall beziehe ich mich auf den namibisch-deutschen Kontext, in dem es um Erinnerungsprozesse und ihre spezifischen Modalitäten und Technologien zur Wiederherstellung der kontinuierlichen Beziehungen zwischen den lebenden Nachkommen und ihren Vorfahren geht. Diese Verbindungen werden durch generationenübergreifende Auralität und Gedenkfeiern in Zentral- und Südnamibia hervorgerufen. Was noch wichtiger ist: Diese Prozesse besitzen eine transnationale Dimension in der Region, sowohl aufgrund von Verdrängung als Folge von Kolonisierung, Krieg und Völkermord als auch durch die Zirkulation von Ahnenkörpern und heiligen Entitäten (Wesen mit einer lebendigen Kraft) zu verschiedenen Institutionen in Südafrika und in Europa. Bei Restitution geht es daher nicht etwa um ein einmaliges Ereignis, sie sollte vielmehr einer Wiedergutmachung der katastrophalen sozioökonomischen, politischen und ökologischen Folgen von Kolonisierung und Völkermord entsprechen, die die Nachkommen derzeit zu spüren bekommen. Mir ist auch sehr daran gelegen, Restitution als Repossession, als Wiederinbesitznahme, umzuformulieren. Wiederinbesitznahme bedeutet, Raum und Land bewohnen zu können und Modelle von Nachhaltigkeit zu erschaffen. Dies bedeutet eine Erweiterung der Begriffe Restitution und Wiedergutmachung im größtmöglichen Sinne. [2]

BS: Sehr spannend! Ich würde gern ein Wort hinzufügen, weil ich bisher von der Situation vor fünf Jahren sprach. Jetzt sprechen, jedenfalls in Deutschland, selbst Museen von Restitution und in Frankreich ganze Regierungen. Alle wollen restituieren. Es ist ein sehr banales Wort geworden. Mein Team hier an der TU Berlin und ich, wir merken, dass wir immer mehr von Reconnection sprechen, von Wegen der Reconnection, davon, wie man sich reconnecten kann, falls Objekte tatsächlich zurückkommen. An Reconnection gefällt uns auch, dass es to reckon anklingen lässt, was sich aus dem Englischen ein bisschen schwer übersetzen lässt. Einerseits reconnecten, aber andererseits reconnaître im Französischen, was ein bisschen was anderes ist als nur eine Bewusstwerdung erreichen.

Listening at Pungwe performing as part of / im Rahmen von „Dzimudzangara: A Spectral Figuration of Archival Voices“, Savvy Contemporary, Berlin, 2018

Listening at Pungwe performing as part of / im Rahmen von „Dzimudzangara: A Spectral Figuration of Archival Voices“, Savvy Contemporary, Berlin, 2018

Mahret Ifeoma Kupka: Für mich liegt in dem Beharren auf Begrifflichkeiten etwas Widerständiges verborgen. Als bewusst nicht von Restitution gesprochen wurde, sondern von Zirkulation, wie du, Bénédicte, beschreibst, war es umso wichtiger auf Seiten derer, die für einen Ausgleich von Ungerechtigkeiten kämpfen, von Restitution zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass etwas passieren muss, was als eine Art Rückgabe verstanden werden kann. Heute wird aus europäischen Ländern restituiert. Zuletzt haben im Dezember 2022 einige deutsche Bundesländer und Kommunen sogenannte Benin-Bronzen aus ihren öffentlichen Sammlungen offiziell an Nigeria zurückgegeben. [3] Wir wissen aber, dass Restitution immer nur ein Teil von größeren Veränderungen sein kann, deren Ziel eine andere Beziehungsethik zwischen Europa und ehemaligen Kolonien sein muss. Für mich ist dieses Ringen um Begrifflichkeiten zentraler Teil davon. Ändern sich die Begriffe, ändert sich auch die Bewegung. Und genau darum geht es. Nicht einfach Objekte in Kisten zu packen und zurückzuschicken, sondern über diese im ständigen Austausch zu bleiben. Es geht um Restitution, Reparation, Re-Aneignung, Re-Connection – ein Prozess, mit sehr vielen unterschiedlichen Stationen, nicht notwendigerweise in chronologischer Abfolge.

IS: Ich möchte diesen wichtigen Punkt aufgreifen: die Tatsache, dass es nicht einfach nur darum geht, Objekte zurückzugeben, als ob das den Prozess beenden und abschließen würde. Memory sprach über das Land, was von entscheidender Bedeutung ist, denn wenn wir uns auf Objekte konzentrieren, vergessen wir, dass Land und Kultur untrennbar miteinander verbunden sind. Zudem lassen wir die Art und Weise außer Acht, in der die willkürliche Grenzziehung von Nationalstaaten als Folge des Kolonialismus immer noch vergangene und zukünftige Protokolle von Restitution beeinflusst. Allerdings ist es auch wichtig, in anderen Sinneskategorien zu denken, wie zum Beispiel Klang oder Berührung. Memory, könntest du ein bisschen über deine Arbeit mit Auralität, also mit akustischen Elementen, und Klangtexturen sprechen?

MB: In Namibia gibt es ein bedeutendes Klang­archiv und -erbe, das für antikoloniale Bewegungen und die anschließenden Prozesse des Gedenkens von großer Bedeutung ist. Eine der wichtigen Technologien ist die Oral History mit ihren überlieferten Modalitäten, die über Generationen hinweg weitergegeben werden. Durch mündliche Überlieferungen erinnern sich Familien und Communities an ihre Genealogien, an antikoloniale Widerstandsführer*innen, an heilige Orte und Begräbnisstätten sowie an Migrationsgeschichten. Dies sind auch Möglichkeiten der Rückforderung. Robert Machiris und meine Arbeit für Listening at Pungwe befasst sich mit diesen in einer engen Beziehung zueinander stehenden Formen der Auralität zwischen Menschen, dem Raum und unterschiedlichen Entitäten. Wir erforschen auch, inwieweit diese auralen Formen über verkörperte Gedenk- und Kunstpraktiken verbreitet werden und Formen des Wissens konstituieren. Diese Modalitäten sind daher von entscheidender Bedeutung für Prozesse der Restitution.

Listening at Pungwe, „SunBorn Lullabies and Battle Cries“, 2022, and / und „!Nami‡Nûs (Die Poppe Is Aan Dans)“, 2023

Listening at Pungwe, „SunBorn Lullabies and Battle Cries“, 2022, and / und „!Nami‡Nûs (Die Poppe Is Aan Dans)“, 2023

IS: Ich habe mir eine der Arbeiten von Listening at Pungwe angehört, die unter anderem Schlaflieder und Kampfesrufe kombiniert. Es war unglaublich bewegend. Diese beiden affektiven Modalitäten scheinen sehr wichtig zu sein, wenn wir über das komplexe Fortdauern des antikolonialen Kampfes, die Forderungen nach Rückgabe und die Reaktionen darauf nachdenken. In diese Prozesse sind zahlreiche Temporalitäten eingebettet.

MB: Danke, Irene. Die Audioarbeit trägt den Titel SunBorn Lullabies and Battle Cries. Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich auf das Buch von Uazuvara Katjivena mit dem Titel Mama Penee: Transcending the Genocide (2020) verweisen. In dem Buch schreibt elder Katjivena über seine Großmutter, Mama Penee, die im Alter von elf Jahren die Hinrichtung ihrer Eltern durch deutsche Soldaten in Zentralnamibia miterleben musste. Als der Autor noch ein kleiner Junge war, erzählte ihm seine Großmutter diese Geschichte und wie sie den Krieg überlebte, nach Khorixas floh und später von ihren Familienmitgliedern wiedergefunden wurde. Für seine Schreibtechnik verwendete Katjivena Trommelrhythmen, Ursprungsmythen und Oral History, wobei er verschiedene Zeitabläufe und Erzählformen miteinander verbindet, um zu beleuchten, wie Frauen ihre Lebensgeschichten in Namibia während der Kolonisation und Apartheid erzählt und interpretiert haben. Diese verschiedenen Register in seiner Erzählung brechen mit der linearen Struktur, in der uns beigebracht wird, historische Erfahrungen zu verstehen. Also erarbeiteten Robert Machiri und ich das Audiostück SunBorn Lullabies and Battle Cries, das sowohl im zentralnamibischen Okahandja als auch in Berlin spielt. Eine der gesampelten Aufnahmen ist ein Schlaflied, das von Lena Fender gesungen und in den 1950er Jahren in Okahandja eingespielt wurde. [4] Die Audiodatei enthält auch die Stimmen der namibischen Delegation, die 2011 geraubte Körper von Vorfahr*innen zurückerhalten und auf den Stufen des Universitätsklinikums Charité in Berlin ihre Ahn*innen um Schutz und Hilfe während des Prozesses der Rückführung nach Namibia gebeten hatte. Wir haben diese Stimmen und Räume miteinander verbunden, um die Orte gegenwärtigen Gedenkens und der Restitution sowohl in Namibia als auch in Deutschland hörbar zu machen.

BS: Ich finde das faszinierend, was Memory geschildert hat. Die Verbindung von Geografie, Oralität und Sound mit der Frage der Restitution von Objekten, die sehe ich natürlich anders aus meiner Berliner Perspektive, viel kühler und mit weniger Erinnerung verbunden. Aber was auf jeden Fall mit der Frage der Restitution auf politischer Ebene zusammenhängt, ist eine Sichtbarmachung künstlicher Grenzen. Ich erinnere mich – als wir für die Arbeit am Report [5] zum ersten Mal mit ­Felwine Sarr in Dakar bei Kolleg*innen waren und über das Thema gesprochen haben – wie jemand sagte: „Ja, das ist gut, Restitution wird uns helfen, Berlin abzuschaffen.“ Ich war die einzige Weiße und die einzige Berlinerin in diesem Raum und dachte, was meint der gerade, Berlin abschaffen? Was hat das mit Restitution zu tun? Aber ich habe nicht gefragt und erst später verstanden, was er sagen wollte. Wenn Dinge zurückkommen, zum Beispiel aus der Region des Flusses Niger, wo die Kultur oder die Objekte am Fluss entlang präsent sind, dann hat das nichts damit zu tun, dass sie zu Senegal, zu Mali, zu Niger gehören, sondern sie gehören zur ganzen Region. In dem Augenblick, in dem die Dinge zurückkommen, werden die Institutionen des Landes, die sie zurückbekommen, ermächtigt, sie auch entsprechend zirkulieren zu lassen. Sie werden dazu ermächtigt, sich daran zu erinnern, dass zwischen der Quelle des Flusses Niger und der Mündung dieselben Objekte vorhanden sind. Dadurch wird Berlin – und gemeint ist natürlich die Berliner Konferenz oder Kongokonferenz von 1884/85 – abgeschafft. Es scheint mir sehr wichtig zu sein, dass diese ganze koloniale Geografie ins Wanken oder wenigstens stark ins Gespräch gerät mit der Restitutionsfrage. Also die „Geopolitik des Kulturerbes“ würde man mit administrativen Worten sagen. Aber auch die Geopoetik, also Poetik nicht im ästhetischen Sinne, sondern im schöpferischen Sinne: Durch die Restitution verändert sich die Poetik der Objekte, ihre Handlungsmacht, ihre Agency, in dem Augenblick, wo sie wieder befähigt werden zu singen, wenn man so will. Es gibt im Deutschen dieses schöne Wort „verschollen“. Ein Objekt oder eine Person ist zum Beispiel „im Krieg verschollen“. Ich habe mich mit der Etymologie des Wortes befasst: Es kommt von „Schall“. Die Objekte schallen also nicht mehr, sie haben kein Echo mehr, sie sind verschollen. Ich denke, bei den Restitutionen wird ihnen auch der Schall zurückgegeben. Die Menschen, die damit verbunden sind, sind wieder in der Lage, mit den Objekten zu sprechen oder zu singen oder Sound zu erzeugen. Beides hängt zusammen, der Sound und das Land: die Sprache der Objekte – nicht im BMBF-Sinne eines Forschungsprojekts, sondern die reale Sprache von Dingen, die wirklich sprechen oder mit denen man spricht. Alles, was Memory gerade sagte, hat sehr viel zu tun mit unserer Perspektive hier in den Archiven oder in der Museumstaxonomie; hat mit der Museums­epistemologie zu tun, die eben diesem Schallen, diesem Singen, diesem Sound der Objekte ein Ende setzt.

Adalbert von Roessler, Congo Conference / Kongokonferenz, Berlin, 1884

Adalbert von Roessler, Congo Conference / Kongokonferenz, Berlin, 1884

MB: Das ist eine interessante Idee im Kontext von Echo, Repliken und Restitution. Ich habe in diesem Zusammenhang auch wieder über das Berlin der Gegenwart nachgedacht. Im Jahr 2022 haben wir an einer Zeremonie zur Rückgabe von 23 Kulturgegenständen aus dem Berliner Ethnologischen Museum an Namibia teilgenommen. [6] Diese Gegenstände waren zuvor noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt worden, weder in diesem spezifischen Museum noch anderswo. Einer der Gegenstände, der potenziell zurückgegeben werden sollte, wurde im Namibia-Katalog des Museums als „Decke“ aufgeführt. Diese Decke ist in einem unglaublich schönen Patchwork-­Design gefertigt. Sie wurde nicht nach Namibia zurückverbracht, da sie als zu fragil galt. Wenn man sie sich jedoch sehr genau anschaut, kann man erkennen, dass die*der Vorbesitzer*in sie mit kleineren Stoffstücken repariert hat, was über die Methoden des konservatorischen Paradigmas des Museums hinausgeht, während noch über die Fragilität der „Decke“ diskutiert wird. Historisch gesehen wurde sie aus !Nami‡nûs im südlichen Namibia, aus der Stadt, die heute Lüderitz heißt, entwendet. Gustav Nachtigal, Reichskommissar für Deutsch-Westafrika, nahm sie auf seiner Reise von Namibia nach Westafrika im Jahr 1884 von dort mit. Die Decke wurde wahrscheinlich während der Unterzeichnung des ersten Schutzvertrags mit Gaob Joseph ­Fredericks vom !Aman Nama Clan requiriert. Durch diesen Vertrag erhob Deutschland Anspruch auf das Territorium und das kolonisierte Namibia. Wir haben erfahren, dass Fredericks tatsächlich Deutschland um das Land ersuchte, das zuvor an den in Bremen ansässigen Kaufmann Adolf ­Lüderitz verkauft worden war, und dass Nachtigal mit dieser Petition und verschiedenen Gegenständen, zu denen auch die Patchwork-Decke gehörte, die sich noch immer im Depot des Museums in Berlin befindet, abgereist ist. [7] In einem anderen Audiowerk haben wir sowohl über die Anwesenheit von Nachtigal als auch [Heinrich] Vogelsang nachgedacht, einem ebenfalls aus Bremen stammenden Kaufmann, der im Namen von Lüderitz die Grundstücksgeschäfte mit Fredericks abschloss. Diese beiden Typen haben also Vogelnamen. Im Rechercheprozess fanden wir auf YouTube ein Nachtigallenlied, das im Nest Hotel, einem bekannten Hotel in Lüderitz, aufgenommen wurde. Interessant ist auch, dass Berlin aktuell die Hauptstadt der Nachtigallen ist. Die Zugrouten des Vogels entsprechen der Bewegung von Menschen und von verschiedenen Gegenständen zwischen Afrika und Europa. Außerdem verfügt die Nachtigall über ein einzigartiges Repertoire von fast 200 Gesangssequenzen. Wir haben über diese Art von Verbindungen zwischen den Geografien, zwischen Berlin und !Nami‡Nûs, nachgedacht und darüber, dass Nachtigal die Patchwork-„Decke“ von Namibia nach Westafrika mitnahm und dass sie letztendlich im Berliner Museum landete, zunächst als Teil der westafrikanischen Kunstwerke und Gegenstände. Wir haben ein Audiowerk mit dem Titel !Nami‡Nûs produziert, und auf dem Track ist die fiepende, eindringliche Serenade einer Nachtigall zu hören. Wir haben den Klang verwendet, um diese Arten von Echos zu erzeugen. Diese sind immer noch präsent in der Art und Weise, wie wir diese Geschichten hören.

BS: Wow, das ist sehr cool!

Restitution Study Group and / und USAVIOR, „They Belong to All of Us“, 2022, Filmstill

Restitution Study Group and / und USAVIOR, „They Belong to All of Us“, 2022, Filmstill

IS: Ich habe eine weitere Frage, die sich auf rechtliche Eigentumsansprüche und bestimmte Unvereinbarkeiten bezieht, die aus kolonialen Geschichten entstehen. Die Restitution Study Group, die von Deadria Farmer-Paellmann in New York gegründet wurde, weist zum Beispiel darauf hin, dass die Benin-Bronzen, von denen nun einige, wie Mahret erwähnte, an den Oba restituiert werden, tatsächlich in Benin als Folge des trans­atlantischen Sklav*innenhandels entstanden. Es geht um das Material: Die Bronze der Manillas, einer damals wichtigen Währung, wurde, wie sie feststellte, eingeschmolzen, um die Skulpturenwerke zu erschaffen. Es besteht also eine direkte Beziehung zwischen diesen Objekten und ihrem finanziellen Wert: dem finanziellen Wert von Menschen als Waren und dem aktuellen finanziellen Wert der Objekte, den die Restitution Study Group auf etwa 30 Milliarden Dollar schätzt. Die Restitution Study Group argumentiert, dass jede Geste der Rückgabe bzw. Entschädigung daher geteilt oder finanziell an afrikanische Diaspora-­Communities umverteilt werden müsse, da diese aus einer langen Geschichte der Enteignung heraus entstanden. [8] Nun könnte man dagegenhalten, dass dieser Anspruch auf sehr spezifischen Definitionen von Wert (als vom Markt bestimmt) und Eigentum beruht. Ich frage mich, ob diese Debatten es ermöglichen, die westlichen Vorstellungen von Eigentum insgesamt neu zu überdenken? Wie können wir Ansprüche verstehen, die manchmal auf ontologischer Ebene unvereinbar sind?

BS: Die Diskussion über die Rückgabe an den Oba oder den Staat Nigeria, die Intervention dieser Gruppe in New York, die sagt: Nein, das muss geteilt werden! etc. – für mich ist das auch Restitution. Irene, Sie haben gerade vorgeschlagen, dass Restitution vielleicht den Begriff oder die Denotation von Eigentum oder Besitz verändern sollte oder dass wir das anders denken sollten. Für mich ändert der Begriff von Restitution mehr den Begriff von Kulturerbe. Wir denken zu sehr, dass Kulturerbe etwas Monolithisches ist, ein Ding, dass man von A nach B zurückgibt, und das war’s dann. Kulturerbe – und das zeigt die Debatte um Restitution – ist auch die Diskussionen darüber, wie eine politische Gemeinschaft in einem Land, in einer Nation mit den Diasporas über die in Form von Dingen überlieferte Vergangenheit verhandelt. Was wollen wir damit machen, wo wollen wir es haben, wie viel davon wollen wir haben? All diese Diskussionen, die entstehen in jeder politischen Gemeinschaft nur, wenn die Dinge da sind. Das ist notwendig und es ist eine große Freude, wenn im Zuge der Debatte über Restitution eben genau diese, auch kontroversen Diskussionen entstehen, auch Streits, denn wir in Europa sind es total gewohnt, dass wir permanent über unser kulturelles Erbe sprechen, gerade in Deutschland. Warum gibt es fast keine DDR-Kunst in den Museen in Leipzig und Dresden? Wann wird sie kommen? Wie viel wollen wir davon in unseren Museen haben? All das Sprechen darüber, wo unsere Sachen hin sollen, wie viel davon, wer darüber entscheiden soll – das ist Kulturerbe. Ich glaube, kein Unrecht zu tun, wenn ich sage, dass in den letzten 30 Jahren zahlreiche afrikanische Staaten viele Diskussionen über Erinnerung, Geschichte, Vergangenheitsbewältigung unter sich geführt haben – aber genau der Umgang mit dem materiellen kulturellen Erbe, diese Diskussion hat nicht oder kaum stattgefunden, weil die Dinge nicht da waren. In dem Augenblick, wenn es entweder das Versprechen gibt, dass sie zurückkommen oder sie tatsächlich zurückkommen – wie jetzt die 2,5 Tonnen materielles historisches Erbe (Statuen, Throne, Textilien) in die Republik Benin –, dann fangen diese Diskussionen an, und das ist Kulturerbe, das ist Kulturbesitz. Kulturbesitz ist auch, darüber zu sprechen. Es ist lebenswichtig für eine Gemeinschaft, auch über das kulturelle materielle Erbe zu sprechen. Solange man das nicht machen kann, weil die Dinge nicht vor Ort sind, verpasst man das, was eine Gemeinschaft zu einer solchen macht. Deswegen ist es gut, dass das jetzt stattfinden kann. Es wird nicht in drei, vier Wochen erledigt sein, sondern begleitet eine Gesellschaft ihr Leben lang. In Frankreich diskutiert die Gesellschaft über le patrimoine seit der französischen Revolution, und es ist ein Teil von uns, die Dinge nicht nur zu haben, sondern über sie zu sprechen. Ich denke, jede Gemeinschaft auf der Welt hat das Recht, sich darüber streiten zu dürfen. Das ist sehr lebendig.

Bismarckstraße 1, Lüderitz, 2017

Bismarckstraße 1, Lüderitz, 2017

MB: Ich frage mich, wie wir diese Gespräche und Debatten auch weiterhin beleben können. Welche Art von Räumen müssen wir schaffen, damit sie fortgeführt werden können? Im Fall von Namibia sei an das Beispiel der nicht vollzogenen Rückgabe der Bibel und der Peitsche von Hendrik Witbooi durch das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 2019 erinnert. Es gibt noch immer Familienmitglieder in Namibia – Urenkelinnen von Hendrik Witbooi zum Beispiel –, die erwartet hatten, dass die Objekte an sie zurückgegeben würden. Doch der namibische Staat entschied, die Dinge im Nationalmuseum und im Nationalarchiv aufzubewahren, weil diese Objekte Teil des nationalen und universellen Erbes seien. Das war genau das, was europäische Museen vor ein paar Jahren behauptet hatten. Dieses Argument wurde verwendet, weil die Papiere von Hendrik Witbooi zum UNESCO-Weltregister „Memory of the World“ gehören. Es gibt Kontroversen um die Verwahrung von Bibel und Peitsche. Die Regierung hat beides beansprucht, weil Witbooi ein nationales Symbol ist. Wie Bénédicte sagte, sind dies sehr wichtige Gespräche, die wir jetzt führen müssen. Es geht dabei um die komplexen historischen Prozesse, die sich auf Formen der Enteignung an vielen Fronten beziehen – und Forderungen nach Restitutionen eröffnen Möglichkeiten, mit denen diese Ansprüche geltend gemacht werden. Diasporische Ansprüche und Debatten sind berechtigt, da die Restitution diese transnationalen Konstellationen umfasst.

MIK: Es ist auch interessant zu sehen, wie bestimmte europäische Vorstellungen von kulturellem Erbe mit den Objekten mitreisen. Als die Eigentumsrechte an den aus Deutschland restituierten Benin-Bronzen von der nigerianischen Regierung offiziell an den Oba von Benin, dessen Familie traditionell in Besitz der Bronzen ist, übertragen wurden, ging eine Welle des Entsetzens durch die deutschen Feuilletons. Jetzt seien sie in Privatbesitz, hieß es, und man habe jede Kontrolle über sie verloren. Nicht wenige sahen in der Restitution einen großen Fehler, den Verlust von Weltkulturerbe. Die Idee war, dass die Bronzen im neu zu gründenden Edo Museum for West African Art (EMOWAA), einer staatlichen Institution in Benin City, die mittlerweile in MOWAA umbenannt wurde, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Deutschland hat viel Geld in diese Museumsneugründung investiert. Jetzt ist die Zukunft der Bronzen ungewiss. Die Familie des Oba möchte ein eigenes Museum bauen. Das ist ihr gutes Recht. Dieser ganze Vorgang zeigt, dass nationale Grenzen und Zuständigkeiten in Nigeria anders gehandhabt werden als in Deutschland. Kulturelles Erbe aus kolonialen Kontexten an eine Privatperson zu übergeben, ist in Deutschland bisher undenkbar. Der Oba ist in Nigeria allerdings keine Privatperson, sondern Repräsentant des Edo-Volkes, zu deren Kultur die Benin-Bronzen gehören. Dass ihm die Rechte übertragen werden, sollte, wenn man die Geschichte des Landes kennt, nicht überraschen.

MB: Ich denke, es ist sehr schwierig, über Restitution im Kontext von Namibia und Deutschland zu reflektieren, ohne auf die Geschichte des Leugnens in Deutschland einzugehen. Man spricht gern über Deutschlands Erinnerungskultur. Wir jedoch sprechen über die Kultur des Leugnens in Deutschland in Bezug auf Namibia. Die Position des Staates in der Anfangsphase der Rückführung von menschlichen Überresten aus deutschen Institutionen nach Namibia bestand darin, zu versuchen, die historische Verantwortung für den Völkermord aus dem Gedächtnis zu streichen. Es schien, als ob nur die Wissenschaftler*innen und Institutionen für das verantwortlich waren, was innerhalb der Institutionen zu verabscheuungswürdigen Handlungen geführt hatte. Allerdings waren diese Taten letztlich vom deutschen Staat in Namibia und Deutschland sanktioniert worden. Die Forderungen, die als Reaktion darauf von traditionellen Führungspersonen und Völkermord-Komitees, die sich zu der Zeit organisierten, erhoben wurden, veränderten nicht nur die Art und Weise, wie die Prozesse gestaltet wurden, sondern führten zu mehr öffentlicher Aufmerksamkeit im Hinblick auf Restitution und schließlich zu einem Wandel deutscher wie namibischer Museumspolitiken und -praktiken. Restitution als institutionelle Praxis wird oft als getrennt von den fortwährenden Forderungen an den deutschen Staat betrachtet, die historische und zeitgenössische Enteignung in Namibia anzuerkennen und sich hin zu ganzheitlicheren und angemesseneren Reparationen zu bewegen. Spätere Rückgaben von menschlichen Überresten und kulturellen Artefakten aus deutschen Museen wurden infolgedessen nicht innerhalb dieses Kontextes behandelt. Alle diese Fragen rund um die Restitution als institutionelle Praxis und was sie in der Gesellschaft insgesamt bedeutet, sind eng mit der Kultur des Leugnens in Deutschland verbunden. Deshalb ist es wichtig, Restitution zu historisieren.

Family bible of Nama leader / Familienbibel des Nama-Anführers Hendrik Witbooi, 1886

Family bible of Nama leader / Familienbibel des Nama-Anführers Hendrik Witbooi, 1886

MIK: Wir führen dieses Gespräch Anfang November 2023, und es wird erst im März 2024 veröffentlicht. Ich habe keine Ahnung, in welcher Welt oder politischen Situation es veröffentlicht wird. Wie seht ihr die Zukunft der Restitutionsdebatte? In den letzten Jahren bestand daran großes Interesse, Restitutionen wurden vorgenommen, und es gab zumindest einige Versuche, sich mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands auseinanderzusetzen und diese in das Konzept des Erinnerns einzubeziehen. Wie seht ihr die weitere Entwicklung des Restitutionsdiskurses aktuell, im Kontext der neuesten politischen Entwicklungen? Erleben wir eine Hochphase, nach der die Aufmerksamkeit wieder abnehmen wird, wie es in den 1970er Jahren der Fall war?

MB: Restitution im Kontext von Reparationen erfolgt auf mehreren Ebenen: intern, in unseren Communities, wo Prozesse im Anschluss an den antikolonialen Widerstand darauf abzielten, Communities zu regenerieren, und wo wir in den letzten Jahrzehnten Kämpfe um Land und Ressourcen erlebt haben. Das ist die Arbeit, die fortbestehen wird, und wir haben eine gemeinsame Verantwortung, sie anzunehmen. Die Restitution im kulturellen und künstlerischen Bereich ist eine unaufhaltsame Bewegung. Aktivist*innen, Führungspersonen, Kulturschaffende und Institutionen sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch in der Diaspora machen weiterhin Fortschritte dabei, den Diskurs und die Programme zur Reparation zu verändern. Die Forderungen nach Wiederherstellung, nach Instandsetzung werden an Fahrt aufnehmen, da sie mit allen Kämpfen auf der Welt verbunden sind. Es bestehen jedoch weiterhin asymmetrische Machtverhältnisse in Bezug auf Forschung und Ressourcen sowie darauf, wer die Wissensproduzent*innen und Verwalter*innen der Rückgabe- oder Restitutionsprozesse sind. Ich glaube nicht, dass dies unbedingt nur eine Art Höhepunkt ist. Die Arbeit rund um Reparationen wird weitergehen – und viele andere verwandte Bereiche beeinflussen.

IS: Memory, du hast vorhin mehrere Ontologien erwähnt, und es scheint wichtig, sie auch in diesem Zusammenhang zu betonen. Anstatt im Rahmen eines Vorher-Nachher-Schemas für Objekte nach ihrer Rückkehr zu denken, stellt sich die Frage: Welche sich ausbreitenden Modelle für das Nachdenken über Institutionen, Fürsorge und Zugehörigkeit könnten diese Objekte und ihre allseits bekannten sowie zukünftigen Geschichten anbieten?

MB: Auf jeden Fall. Diese Ontologien sollten mögliche Formen der Restauration, der Wiederherstellung, in der Zukunft beeinflussen. Kürzlich hörte ich, wie ein Mitglied des Ältestenrats die Bedeutung des Namens der Gegend in der Nähe von !Nami‡Nûs beschrieb, die von der deutschen Regierung aufgrund des Diamantenabbaus in der Wüste entlang der südlichen Küste Namibias zum Sperrgebiet erklärt worden war. Er bezeichnete es als das Territorium, in dem der weiche, schimmernde Sand gegen deine Haut weht (Tsau //Khaeb). [9] Dieser Name bringt die Beziehungen zwischen Menschen und Land zum Ausdruck, er vermittelt ein Gefühl der verkörperten Zugehörigkeit. Solch eine Zugehörigkeit spiegelt sich auch in der Bedeutung von Rückgaben und Restitution wider. In den vergangenen Jahrzehnten ist so viel geschehen, von dem wir lernen können: neue organisatorische Konfigurationen zwischen Communities, Versuche, politische Richtlinien zu ändern, neue Lehrpläne und Programme zwischen Kulturerbe-Institutionen sowie zwischen Kulturschaffenden aus verschiedenen Teilen der Welt, die ebenfalls Wiederherstellung fordern. Es war kaum vorstellbar, dass dieser Wandel in diesem beispiellosen Tempo stattfinden würde. Dies ist ein Moment, um diese Fortschritte zur Kenntnis zu nehmen und voranzuschreiten.

Warning sign / Warnschild, Tsau //Khaeb National Park, 2018

Warning sign / Warnschild, Tsau //Khaeb National Park, 2018

BS: Ich teile diese Einschätzung von Memory, ich glaube auch nicht, dass wir es mit einem Peak zu tun haben. Mein Eindruck ist eher, dass wir mit dem Thema Restitution so etwas wie ein Passwort, ein Codewort oder ein Schibboleth, also eine Art Maske gefunden haben, die es uns erlaubt, sehr schwierige und gewaltsame Themen wie Genozid oder Massenvergewaltigung zu behandeln. Seit drei Jahren arbeite ich zum Kameruner Kontext mit Albert Gouaffo und anderen Kolleg*innen an der Université de Dschang, wo wir Tausende Seiten von Offiziersberichten gelesen haben, wirklich brutale Begebenheiten, die uns im Grunde sehr stark an heutige Massaker erinnern. Mit dem Komplex Restitutionen haben wir uns kollektiv eine Art Methode erarbeitet, mit der wir zwar über Kunst, Museen, Poesie, über Sound, Ahnen und Memory sprechen, was alles weich klingt. Aber so adressieren wir indirekt brutale Themen: Land, Tod, Genozid, Übergriffe, Extraktivismus. Die Debatte um Restitution hat sich sehr erweitert. Sie umfasst nun auch ein kollektives Bedürfnis über historisches Unrecht, über Kolonisierung, über Wiedergutmachung und vielleicht auch über aktuelles Unrecht zu sprechen. Es sieht so aus, als ob der Umweg über die Restitution immer mehr genommen wird, weil uns Restitution – auch repair, care – all die Sanftmut, die wir kollektiv brauchen, als Hoffnung mitgibt. Irgendwann wird es gar nicht mehr um Museen und Projekte gehen, sondern um Wege der Wiederbegegnung oder der neuen relationalen Ethik, die wir miteinander brauchen als Menschheit. Ich beobachte zunehmend, wie der Begriff Restitution – um die terminologische Schleife zu schließen – verwendet wird, um über viel schwierigere Sachen zu sprechen. Wir verständigen uns über Objekte und Museen, aber wir meinen oft mehr und anderes. Manche haben darin eine Möglichkeit gefunden, auch aktuelle Scheußlichkeiten zu besprechen, ohne sie allzu genau zu benennen.

MIK: Damit schließt sich ein Kreis: Wir haben am Anfang über Terminologie gesprochen, darüber, was wir unter Restitution verstehen, und blicken nun in die Zukunft zu einer Zeit, die unsicherer und gespaltener scheint denn je. Uns fehlt für so vieles die Sprache, der Raum zur Artikulation, und ich stimme dir, Bénédicte, unbedingt zu, dass wir mit unserem Verständnis von Restitution in der Lage sind, Räume zu schaffen, um über Dinge zu sprechen, die an anderer Stelle noch zu schwer wiegen, als dass sie mit adäquaten Begriffen besprechbar wären.

IS: Sowohl du, Bénédicte, mit deiner historischen Arbeit, als auch du, Memory, mit dem, was du gerade sagst: Ihr zeigt, dass Widerstand stets stärker ist als die Versuche, ihn zu unterdrücken. Widerstand findet immer Fluchtmöglichkeiten und Mechanismen für Lesbarkeit (oder Tarnung, fall sie benötigt wird). Er ist immer da. Deshalb müssen wir weiterhin Wege finden, auszudrücken, dass sich die Geschichte wiederholt, in die Gegenwart einfließt und innerhalb der Gegenwart verdrängt wird. Wir müssen weiterhin nach diesen widerhallenden Schwingungen Ausschau halten und auf sie hören. Ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr diesen Raum des Austauschs teilt und uns zur Dringlichkeit des Jetzt zurückführt.

Übersetzung: Uli Nickel

Memory Biwa Historikerin und Künstlerin. Ihre Arbeit über Gedenk- und Reparationsprozesse in Namibia schließt umfassende Diskurse und Praktiken von Restitution und Reparation ein. Biwas Fokus auf Auralität und Performance prägt Konzepte von Subjektivität und die Zentrierung alternativer Epistemologien und Imaginationen. Sie co-kuratierte „Die Vibration der Dinge“ (Triennale Kleinplastik Fellbach, 2022), „P(r)ossession Pedagogies“ (Namibia-Künstlerresidenzprogramm an der Akademie Schloss Solitude, 2023) und „A Sacred Story at the Tree of Life“ (IFA-Galerie Berlin, 2023). Biwa ist Teil des Duos Listening at Pungwe zusammen mit Robert Machiri.

Bénédicte Savoy ist Leiterin des Fachgebiets Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Museumsgeschichte, deutsch-französischer Kulturtransfer, NS-Kunstraub und postkoloniale Provenienzforschung. Gemeinsam mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr erstellte sie 2018 im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron den „Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“. Für ihre Forschung und ihre akademische Lehre erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, und sie unterhält eine Reihe von Mitgliedschaften in akademischen Institutionen, Beiräten und Gremien. Zuletzt erschienen von ihr das Buch Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage (C. H. Beck, 2021) sowie die Gemeinschaftspublikation Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland (Universität Heidelberg/Universitätsbibliothek, 2023).

Mahret Ifeoma Kupka ist Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und freie Autorin. In ihren Ausstellungen, Vorträgen, Texten und interdisziplinären Projekten befasst sie sich mit den Themen Rassismus, Erinnerungskultur, Repräsentation und Dekolonisierung von Kunst- und Kulturpraxis in Europa und auf dem afrikanischen Kontinent.

Irene V. Small ist Professorin für Contemporary Art and Criticism am Department of Art and Archaeology der Princeton University, wo sie Mitglied des Vorstands des Program of Media and Modernity ist und dem Department of Spanish and Portuguese sowie dem Program in Latin American Studies angehört. Sie ist die Autorin von Hélio Oiticica: Folding the Frame (University of Chicago Press, 2016) und hat zu Themen wie dem Erbe der Avantgarde, radikaler Pädagogik, sozialer Skulptur, dekolonialen Praktiken und dem Nachleben der Sklaverei veröffentlicht. Ihr zweites Buch, The Organic Line: Toward a Topology of Modernism, erscheint 2024 bei Zone Books.

Image credit: 1. © Satch Hoyt; 2. Photo Ola Zielińska; 3. Courtesy of Listening at Pungwe (Memory Biwa, Robert Machiri); 4. Public domain / Adalbert von Rößler; 5. Courtesy of Deadria Farmer-Paellmann; 6. Public domain; 7. © Linden-Museum Stuttgart, photo Dominik Drasdow; 8. Photo Hanspeter Baumeler

Anmerkungen

[1]Siehe auch: Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München: C. H. Beck, 2021.
[2]Siehe auch: Memory Biwa, „Afterlives of Genocide: Return of Human Bodies from Berlin to Windhoek, 2011“, in: Memory and Genocide: On What Remains and the Possibility of Representation, hg. von Fazil Moradi/Ralph Buchenhorst/Maria Six-Hohenbalken, London: Routledge, 2016.
[3]Anm. d. Red.: Über Eigentumsübertragungen entscheiden in Deutschland die Träger der jeweiligen Sammlungen, also Länder und Kommunen. Aus dem zuständigen bayerischen Ministerium heißt es aktuell: „Bislang wurde durch das Kunstministerium kein Beschluss zur Eigentumsübertragung von Benin-Objekten aus dem Museum Fünf Kontinente getroffen.“ (1.12.2023)
[4]In der Aufnahme hört man die Stimmen der elders Lena Fender und Fritz //Hamaseb in Okahandja, Zentralnamibia, 1954 (aus der Ernst und Ruth ­Dammann-Tonsammlung, Basler Afrika Bibliographien, Basel), sowie Jarimbovandu Alex Kaputu mit Ovaherero- und Nama-Delegierten – einschließlich Mitglieder der Völkermord-Komitees – in der Charité, Berlin (Originalaufnahme von Larissa Förster an der Charité, September 2011, https://soundcloud.com/europeannomadicbiennial/sunborn-lullabies-and-battle-cries-by-memory-biwa).
[5]Felwine Sarr/Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin: Matthes & Seitz, 2019.
[6]Die Forschung wurde im Rahmen des REPATRIATES-Projekts durchgeführt. Dank an Julia Binter und Johanna Ndahekelekwa Nghishiko, die an dem Projekt Confronting Colonial Pasts, Envisioning Creative Futures zwischen den Museen in Berlin und Namibia beteiligt sind, sowie an ­Robert Machiri und Gabriel Rosell-Santillán, die gemeinsam Teile der Forschungsarbeit in Berlin während und nach den Rückgaben gestaltet haben.
[7]Die Provenienzforschung wurde von Werner Hillebrecht durchgeführt in Zusammenarbeit mit dem Projekt Confronting Colonial Pasts, Envisioning Creative Futures des Museum Association of Namibia und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
[8]Für Informationen über die Restitution Study Group siehe deren Website https://rsgincorp.org.
[9]Das !Aman-Ratsmitglied Cornelius Fredericks sprach über Tsau //Khaeb im Rahmen eines Workshops des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin im Dezember 2023, als Teil des Projekts Inherited Testimonies. Das Projekt, das sich mit historischen Orten der deutschen Besatzung und des Völkermords in Namibia befasst, ist eine Partnerschaft zwischen Forensic Architecture, Forensis, Nama Traditional Leaders Association, Ovaherero Traditional Authority und ECCHR.