Vorwort
Diese Ausgabe ist der Versuch, den Alltag der Kunstkritik aktiv zu bekämpfen. Neben den begeisternden, gut geschriebenen, mit Gesprächsstoff und Inspiration versorgenden „Perlen" des Geschäfts, die sich immer wieder finden lassen, sehen wir diesen Alltag gekennzeichnet von mal angestrengten, mal gehetzten, mal verwunderten oder entsetzten Blicken auf ein kunstkritisches Textmonstrum. Dieses Monstrum breitet sich in exorbitanter Länge zwischen den Bildstrecken aus und reißt dabei alles in mühselig erarbeiteten künstlerischen und kritischen Praktiken gebildete Differenzgut in seinem schnellfließenden Jargon mit sich.
Am Anfang von Texte zur Kunst stand einmal — Ende der achtziger Jahre — eine ähnliche Diagnose. Und man kann sagen, dass das damals avisierte dialektische Bewusstsein der Notwendigkeit von Produktion und Reflexion, auch für das Schreiben von Texten, sich erhalten hat. Doch auch hier ist immer wieder Alltag eingekehrt, der mitunter zu stereotypen Zuschreibungen wie „Theorielastigkeit", „endlose Textmassen" und „Kunstferne" geführt hat. Tatsächlich war gerade in dieser Zeitschrift immer ein ungewöhnlich großes Spektrum höchst unterschiedlicher, vor allem auch „kunstnaher" Schreibweisen und -formate garantiert und das von Anfang an. Dafür sorgte die Entscheidung, Texte von Produzent/innen aus allen Bereichen des Kunstfelds — und weit darüber hinaus — zur Mitwirkung einzuladen. Befördert werden sollten damit ausdrücklich auch „literarische" Textformen, allerdings nicht als pseudoliberale oder joviale Geste, sondern aus der Überzeugung heraus, dass diese Formen gleichberechtigt neben anderen, „wissenschaftlicheren" Erkenntnisweisen stehen.
In dieser Ausgabe regiert nun die Miniatur. Allerdings nicht die Art Miniatur, die im Sinne einer Verwertungslogik oder eines journalistischen Imperativs auf kurze Aufmerksamkeitsspannen hin entworfen wird. Bei „Miniaturen" geht es vielmehr um die konzentrierte Behandlung eines Gegenstands. In Anbetracht des schon geschilderten Alltags muss man allerdings zugeben, dass ein solcher Ansatz auch bedeuten kann, die Kunstkritik von ihrem Gegenteil träumen zu lassen. Denn in den letzten Jahren hat sich eine Form dienstleisterischen Schreibens langatmiger Kunsttexte verstärkt, die in den großen Ausstellungskatalogen, Kompendien und Biennalebänden weithin für Leerformeln und mangelnde Reflexion sorgen.
Wenn nun „Fasse Dich kurz!" auf dem Cover dieses Hefts steht, dann deshalb, weil wir bei der Vorbereitung Autor/innen aufgefordert haben, möglichst kurze und präzise, mit möglichst nur einer These operierende Texte zu schreiben — „Miniaturen" eben -, wenn irgend möglich, unterhalb einer magischen Grenze von 5000 Zeichen. Ausgehend von dieser „Spielregel", bei der uns interessiert hat, wie weit es möglich ist, auch komplizierten Sachverhalten eine fein ziselierte, miniaturisierte Fassung zu geben, „to say things in a nutshell" , stellen wir hier den von ungewöhnlich vielen Autor/innen unternommenen Versuch vor, sich in der Kürze des Formats in eine je neu definierte Nähe zu ihren Gegenständen zu positionieren — oder sich eines anderen poetologischen Aspekts des Schreibens über Kunst anzunehmen. Die 61 Miniaturen dieser Ausgabe stehen in keiner hierarchischen Argumentationslinie, sondern in assoziativer Nähe zueinander, wie die Miniaturen einer Kunstkammer.
Ein besonderer Blick auf die Art und Weise des Gegenstandsbezugs bildet den Auftakt in einem ersten Text, der sich mit der Poetik des französischen Dichters Francis Ponge beschäftigt. Ein Plädoyer für poetisches Schreiben von Roberto Ohrt wird gefolgt von Isabelle Graws Vorschlag, sich noch einmal mit der surrealistischen Textstrategie der „écriture automatique" auseinander zu setzen. Texte von Kunsthistorikern und über Kunsthistoriker wie Wolfgang Kemp und Wilhelm Worringer, Kritiker/innen wie Gary Indiana, James Schuyler oder Frieda Grafe, aber auch über Künstler, die sich in besonderer Weise mit dem Miniaturformat auseinander gesetzt haben, ziehen sich durch das ganze Heft. Ein Gespräch mit der Kunstkritikerin Catherine Millet, die für ihren Bestseller „La vie sexuelle de Catherine M." berühmt wurde, stellt ihr poetisches Verfahren vor, durch das sie sich selbst und ihre Sexualität wie externe Gegenstände — oder wie Kunstwerke — zu fassen versucht hat. Ein eigener Sonderteil ist dem literarischen Medium der Verdichtung par excellence, der Lyrik gewidmet — eingeleitet von einem historischen Text von Max Bense, der aus seiner spezifischen Perspektive der von allen Psychologismen freien Informationsästhetik für einen starken Gegenstandsbezug plädiert. Dort finden sich sowohl Beiträge von Gegenwartskünstler/innen als auch von so unterschiedlichen Autor/innen wie dem Psychiater Ronald D. Laing oder der Kritikerin Linda Nochlin. Die größte Herausforderung stellte es jedoch für uns dar, den Besprechungsteil einzudämmen und zu dem am Anfang von Texte zur Kunst vorgeschlagenen Kurzformat zurückzukehren.