Amerikanischer Surrealismus als Asyl Kritik und Verklärung in Goth und anderen Schattenbewegungen
Jede aufklärerische, kritische, begriffsstarke Bewegung zieht eine bilderreiche Schleimspur von Irrationalismus hinter sich her. So verhalten sich asiatelnde Hippie-Esoteriker der Sechziger zur Neuen Linken haargenau so, wie sich die Goth-Kultur der frühen Achtziger zu Punk, seinen Anarchismen und Radikalismen verhält. Den Eso-Follower der Aufklärung gibt es aber natürlich schon wesentlich länger (Romantik!?) und manchmal gibt er gerade, weil er im günstigen Fall das spezifische je Ausgeschlossene und Verdrängte einer blindbefleckten Rationalität attackiert und kompensiert, einen guten Bündnispartner ab. Meistens aber glaubt er zu sehr.
Entscheidend an diesem Verhältnis von Kritik und Verklärung ist aber nicht nur das Trennende und gelegentlich Ergänzende, sondern auch dasjenige, was die jeweiligen Träumer mit der jeweiligen kritischen Kultur, der sie folgen, gemeinsam haben: eine grundsätzliche, historisch spezifische Einigkeit über den sinnlich geschmacklichen Charakter des jeweiligen Ziels oder des jeweiligen Guts - weniger in einer expliziten Programmatik, aber in der gefühlsmäßigen Vorstellung davon, was das gute Leben sei, im jeweiligen Kommunismus oder im Paradies. Der je spezifische Sound der Erlösung. Die Politischen und die Religiösen hatten oft ähnliche, historisch spezifische utopische Bilder, nur dass die Politischen sie hinter Begriffen versteckten (wenn sie schlau waren), die anderen zeigten sie offen her und waren daher für Jugend und Kulturindustrie stets attraktiver.
Natürlich gibt es (ungute) Gründe, warum das so ist. Die fraglichen Bewegungen sind ja Kinder einer (falschen) Welt, in der die (alten) Klassenverhältnisse auch um den Unterschied von Abstraktion und Konkretion gebaut sind. Dass diese vom abstrakten Wissen abgekoppelt, jene von sinnlicher Wahrheit, ist nichts Neues. Im Einzelfall hat es zwar die angedeuteten Synthesen oder auch nur Versöhnungen gegeben. Als Jimi Hendrix "Are You Experienced?" fragte, war man sich sicher, dass er von einer Erfahrung gesprochen hat, die den Namen verdient hat: sinnlich-politisch. Heute wird man nicht mehr mit der gleichen Sicherheit sagen können, ob er nicht eigentlich vom psychedelischen Kampf als innerem Erlebnis gesprochen hat. Politisch-begriffliche und sinnlich-erlebnisorientierte Bewegungen haben sich meist schneller von einander abgestoßen, auch wenn Sehnsüchte nach der jeweils anderen Seite immer wieder artikuliert wurden. Dennoch hat es seit dem Surrealismus keine (linke, politische) Bewegung gegeben, die versucht hat, genau dieses Problem systematisch in das Zentrum eben der Bewegung zu stellen.
Natürlich konnte das auch dem Surrealismus nicht gelingen. Aber es ist in vielen seiner Ausprägungen spürbar. Seine Bosheit, seine Sexbesessenheit, sein Sarkasmus, sein unsauberes Denken, das doch nie aufhört Denken zu sein und bleiben zu wollen. Die merkwürdigen Versuche der Bataille-Fraktion, Community und Tribe als Alternative zu Faschismus und Sozialismus neu zu entwerfen, das Insistieren auf einerseits die KP und andererseits das Abjekte. Es ist kein Wunder, dass beim Surrealismus immer wieder das Telefon klingelte, wenn einer nicht mehr wusste, wonach Jimi Hendrix eigentlich gefragt hatte.
Leider verschwand der historische Surrealismus aber im Laufe der Geschichte hinter persönlichen Stilen und verdinglichten Sensibilitäten. Im europäischen Gedächtnis hängt er bei ein paar Malern und Manifesten fest. Der Mechanismus des vorhersehbaren Auseinanderfallens neuer Aufbegehrlichkeiten blieb. Zuletzt hatte in den Neunzigern auch die Konstellation aus Techno, Feminismus und Dekonstruktion ihre dunklen bilderreichen Nachtseiten hinter sich hergezogen. Nicht nur das Wiederaufleben existenzialistischer und - oft queer kodierter - kunstreligiöser Strömungen unter Namen wie Industrial bzw. dessen Revival, sondern auch eine neue digitale Psychedelia übernahmen den vertrauten Job.
Seit dem Niedergang der Neuen Linken und der Kritischen Theorie waren aber zwei Entwicklungen auffällig. Die je neuen Bewegungen auf der aufklärerischen Seite hatten ihrerseits schon jeweils in ansteigender Dosierung aufklärungsskeptische Komponenten in sich aufgenommen. Dies führte aber, z.B. bei Punk, nicht zu der eigentümlich systematischen Synthese aus Linksradikalismus und Rationalitätsskepsis wie im Surrealismus, sondern nur zu Verschiebungen in der Aufstellung auf dem geistesgeschichtlichen Sportfeld. Die alte Mechanik wurde nicht außer Kraft gesetzt. So dass auch Punk seine - im Verhältnis zur Vorgängerkultur: gesteigerte - irrationale Variante bekam.
Dennoch gehört dieser vor allem als jeweiliges Gegenüber der kritisch-rationalen Nachkriegsbewegungen und -attitüden (Skepsis, Existenzialismus, Neue Linke, Punk, Techno/Feminismus/Poststrukturalismus) bekannten irrational-verträumt-bilderreiche Schattenbewegung mittlerweile das gesamte Feld der meisten Kulturen. Eine restbeständig kritische Kultur, der sie folgen und antagonistisch bis kompensatorisch gegenüber stehen könnte, gibt es nämlich nur noch am akademischen Rand der bildenden Kunst und der Kinokulturen, ist anderswo weitgehend verschwunden. Die Schattenbewegungen haben aber nun, wo sie nicht mehr auf eine hegemonial behauptungsstarke kritische Gegenkultur bezogen waren und sein konnten, ihren eigenen kleinen Fortschritt begonnen.
Was sich im Spannungsfeld der Sensibilitätstypen Gothic und Industrial in der Zwischenzeit - also in einer Zeit, in der die kritische Bewegung schwächer wurde, um schließlich in diesem Jahrzehnt ganz auszubleiben - entwickelt hat, ist nicht nur unübersichtlich, vielgestalt und komplex, sondern streckt langsam immer deutlicher Fühler nach nicht verträumter Kultur aus: zum Teil, indem diese Kulturen offen rechts oder konservativ sprechen, ohne dass die hermeneutischen und ideologiekritischen Operationen, die dergleichen aus früheren Stadien dieser Kulturen herauspräparieren mussten, noch nötig wären; zum anderen Teil, indem sie sich am eigenen Schopf aus dem - sozusagen - Sumpf ziehen und eigenes kritisches Potenzial sich selbst zu entbinden beginnen.
Dieser merkwürdige allein gelassene bilderreiche Irrationalismus, diese sich langsam aufrichtende, aufwachende Welt der Träumersubkulturen ist aber nicht ganz allein mit sich selbst und ihren Sadismen und Masochismen, ihrer Drastik und ihren Gesichten. Als der historische Surrealismus im Laufe und vor allem nach dem Krieg in Einzelprojekte, Künstlerkarrieren und fetischisierte Stile zerfiel, gab es ein Exil für seine merkwürdige Binnenlogik, in der diese ihre Spannung und ihren synthetischen Eigensinn bewahren konnte. Dies waren die USA, nicht nur in ihrer Eigenschaft als buchstäbliches Fluchtland für eine "Boatload of Madmen" (Dickran Tashijan) aus Europa, sondern vor allem durch den amerikanischen Surrealismus. Dieser war zunächst zwar nicht unmittelbar politisch und wurde auch von den zuständigen kritisch politischen Modernisten mit großen Gesten weggefegt.
Aber er war langlebig, nicht fetischisierbar und stiftete einen kulturellen Nebenstrom, der über Jahrzehnte ästhetische Valeurs stiftete, die zugleich aus der Willkür bilderreicher Träume wie aus einer rabiat dezidierten Ablehnung des Bestehenden abgeleitet zu sein schienen, die auf das Vorhandensein spezifischer, kritischer Ideen zumindest schließen ließ. Vom als poetisch exzentrische Version Duchamps gehandelten Joseph Cornell, über die schwulen Dichter und Historiker Charles Henri Ford und Parker Tyler, Verbindungsleute zur Harlem-Renaissance wie den "schwarzen Proust" Jean Toomer und den Sensibilitäten-Sammler Carl Van Vechten, frühe poetische Filmavantgardisten wie Maya Deren und Kenneth Anger, und vor allem den vielseitigen Lehrmeister von - nicht zuletzt Jack Smith - Ken Jacobs, über exzentrische Maler wie Pavel Tchelitchev und Florine Stettheimer bis zur queerpolitischen Stilrevolte der frühen Sechziger mit Jack Smith, dem Ridiculous Theatre, mancher Episode der Factory und einzelnen ersten Erscheinungen von Hippie-Kultur, gibt es hier ein Kontinuum von zum großen Teil untereinander befreundeten Leuten verschiedener Generationen, die unabhängig vom Modernismus der Greenberg-Prägung einerseits und der Kulturindustrie andererseits einen surrealistischen Weg gingen, der eben auch nicht nur die jugendlich-schwärmerische Schattenbewegung eben dieser Moderne war, sondern die verloren gegangenen Synthese-Leistungen des französisch-spanisch-belgischen Surrealismus - unter ganz anderen Bedingungen - am Leben erhalten hatte.
Auf diesen "amerikanischen" Surrealismus, den, unter Nennung fast aller hier aufgezählten Personen, John Zorn etwa schon vor ein paar Jahren als sein spezifisches Erbe reklamiert hat, beziehen sich mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger offen eine Reihe von öffentlichen Aktivitäten der letzten Jahre, wie zuletzt in besonders plakativer Weise und unterschiedlich erfolgreich die beiden Biennalen des letzten Jahres in New York und Berlin. Aber auch neue Pop-Musik von Antony und Coco Rosie bis zu den poetisch-tribalistischen und radikalen Spinnerkollektiven des New Weird America sowie essayistische Ausstellungsprojekte von der NGBK bis zum Museum Ludwig. In diesen, meist ja nicht von kultur- und diskurspolitischer Strategie, sondern von Konjunktur, Markt- und persönlicher ästhetischer Politik bestimmten Projekten erscheint der Rückgriff auf den amerikanischen Surrealismus und seine Traditionslinien in doppelter Weise: zum einen als eine bessere, entwickeltere, politischere Irrationalität, eine eingreifende Schattenbewegung; zum anderen aber als der Ersatz für die ausgebliebene Fortsetzung der kritischen Kultur, sozusagen als die endlich verspätet eingetroffene nächste Stufe einer nicht nur selbstreflexiven, sondern selbstskeptischen kritischen Kultur. Oder zumindest als deren Versprechen.
Leider erfüllen dieser neue alte kulturelle Reichtum und seine Verbindung zu einer antinormalen homosexuellen Widerstandskultur auch die falschen Funktionen seiner irrationalistischen Vorläufer in den Schattenbewegungen. Als nämlich nostalgische und eskapistische Subjektivitätsverklärung wird er von heutigen, ungefährdeten Narzissten übernommen, die eine ganz und gar konforme Feier endloser Individualität und Niedlichkeit einer ewigen, beschützt-bourgeoisen Kindheit aufführen.
Politisierbarkeit taucht darin allenfalls als aktuelle Fortsetzung der nach wie vor - unbestritten - massiv verführerischen Verklärung der Sechziger auf und deren unerschöpflichen Imaginariums. Doch ihre antinormale Verankerung und die mit ihr verbundene kritische Position, wie sie mühelos aus der spezifischen Schönheit jeder noch so flüchtigen Pose Jack Smiths aufscheint, ja auch die produktive Gedankennot mancher der "surrealistischen" Projekte dieser amerikanischen Tradition trägt sie zu Recht auch in jene andere Linie ein. Ihr Bilderreichtum wird in seiner aggressiven Abgrenzung der, wie Stefan Brecht es beschrieb, "free person" gegen den "authoritarian phony", zu einem Reservat der kritischen Energien des antinormalen Individualismus, die zwar auf der begrifflichen Ebene längst vom neoliberalen Management-Diskurs eingemeindet und banalisiert wurden. Und auch deren Bilder sind natürlich wie alle Bilder prinzipiell endlos fetischisierbar: ihr dokumentarischer Charakter aber enthält die Wahrheit eines politischen Konflikts zwischen Norm und Person und denunziert so dessen Scheinlösung in der ideologischen neoliberalen Behauptung, der Markt belohne diese Gegnerschaft zur Norm. Er belohnt lediglich die Herstellung von (durchaus zuweilen hilfreichen) Fetischen und Objekten, die davon erzählen. Er installiert stattdessen eine falsche Ununterscheidbarkeit von Strebertum und Antinormalität. Dieser Komplex und seine Brisanz sind in letzter Zeit unter unterschiedlichen Namen und heuristischen Zielen immer häufiger aufgetaucht. Auch viele Stammgäste dieser Zeitschrift haben sich ihm gewidmet, genannt sei Albert Oehlens Projekt "Offene Haare, offene Pferde - Amerikanische Kunst 1933-45" (2001, Kölnischer Kunstverein), in dem sich zeitgenössische Künstler mit dem russisch-amerikanischen Maler und Theoretiker John D. Graham (1880-1961) auseinander setzten, einem Freund und Vorbild von Arshile Gorky und Kurator der ersten Show, die Jackson Pollock in New York zeigte, der aber von Breton und dem französischen Surrealismus beeinflusst war und als Maler vor allem gegen Ende seines Lebens, einige Spiralstufen höher, dahin zurückkehrte. Auch Mike Kelley hat stets eine Verbindung zwischen Surrealismus und den provinziellen, subkulturellen, proletarischen, gothic-spritistischen und politisch-aktivistischen Kunstproduktionen gezogen, die er, vor allem in den USA, dokumentiert, analysiert und in vieler Hinsicht als Inspiration verwendet hat. Und Dietmar Daths Theorie der Drastik weist in ihrer Analyse von (z.B. italienischem) Horror und (z.B. norwegischem) Death Metal weitreichende Parallelen mit dem hier skizzierten Zusammenhang einer (anti)modernen, spirituell-linksradikalen, antinormalen, nichtbürgerlichen Surrealismus-Konstante auf - der dieses Ausplaudern ihrer Strukturen hoffentlich weniger schaden wird, als es die vorübergehende Aufmerksamkeit einiger Verwöhnter schon getan hat.