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UTOPIE ALS NOTWENDIGKEIT Caspar Krisch über Isa Genzken in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

Am 27. November wird Isa Genzken 75. Im Vorfeld zu ihrem Geburtstag ehrt die Neue Nationalgalerie die Wahlberlinerin mit einer Retrospektive und erhebt hierfür ihr Alter zum kuratorischen Prinzip: 75 Arbeiten für 75 Lebensjahre. In chronologischer Aufreihung zeigen die Kurator*innen Klaus Biesenbach und Lisa Botti einen Querschnitt Genzkens Arbeit, ohne über das Ausstellungsdesign thematische oder inhaltliche Zusammenhänge in ihrem Œuvre zu postulieren. Dennoch lassen sich, wie es der Kunsthistoriker Caspar Krisch darlegt, wiederkehrende Themenfelder ablesen sowie die konsequente Beschäftigung mit westlicher Kunst- und Architekturgeschichte. Diese Komplexität und die über ihre Arbeiten artikulierte Infragestellung eines kanonisierten Skulpturbegriffs tritt jedoch bedauerlicherweise hinter der kuratorischen Fixierung auf ihr Lebensalter zurück.

Wie ein außerirdisches Objekt liegt das rote stromlinienförmige Ellipsoid auf dem Granitboden der Haupthalle der Neuen Nationalgalerie. Mit einer Länge von 560 cm übersteigt die Längsachse der hölzernen Skulptur die vertikale Höhe von 15 cm bei Weitem. Das eigene Volumen wird minimiert, während die flächenhafte Ausdehnung maximiert wird. Diese Perfektion in Form und Maß unterstreichen die komplexen Computerberechnungen, die der Arbeit vorausgegangen sind. Ab 1976 entwickelte Isa Genzken in Zusammenarbeit mit dem Physiker Ralph Krotz die Ellipsoiden und ab 1979 die Hyperbolos, die als ergänzende Negativform trichterförmig mit beiden Enden den Boden berühren. In ihrer Virtuosität suggerieren die handgeschnitzten Skulpturengruppen eine industrielle Fertigung und zeugen einerseits von Genzkens intensiver Auseinandersetzung mit US-amerikanischen Vertretern der Minimal Art wie Sol LeWitt und Carl Andre, grenzen sich andererseits jedoch auf Grund ihrer Fülle an Assoziationen klar von jeglichen Leitsätzen der minimalistischen Skulptur ab. Nicht selten wurden Genzkens frühe Arbeiten unter Anklage gestellt, zu viel Gegenständlichkeit zu besitzen. Insbesondere die von den Kritiker*innen unterbreitete Assoziation zu Stricknadeln, eine offenkundig genderspezifische Lesart, veranlasste Genzken dazu, die Ellipsoide mit Waffen zu vergleichen.

Dem Wunsch zu gefallen, ist Genzken noch nie nachgeeifert; ihr Leben und ihre Kunst sind gekennzeichnet von stetigen Brüchen, Nonkonformität und einer Unverbindlichkeit gegenüber einem spezifischen Medium und Material. Beton, Holz, Pappe, Plastik, Duschvorhänge, Tüten, Schirme, Spielautos oder Schaufensterpuppen; für Genzken ist nichts zu unwürdig und nichts zu trashig. Dennoch lassen sich in ihrem komplexen Gesamtwerk immer wiederkehrende Themenfelder und Fragestellungen ablesen. Seien es die Einflüsse von Musik, Mode und Popkultur, ihre Überlegungen zur westlichen Kunst- und Architekturgeschichte oder die permanente Infragestellung eines kanonisierten Skulpturbegriffs. In der Neuen Nationalgalerie werden die Arbeiten jedoch weder in thematischen Clustern präsentiert, noch werden dramaturgische Akzente oder inhaltliche Zusammenhänge postuliert. Das Raumkonzept folgt einer rigiden chronologischen Ordnung, wobei die Skulpturen einander ranggleich an den rasterartigen Bodenlinien orientiert sind. Dieses arbiträr wirkende Arrangement unterbindet dabei jegliche Kontextualisierung, exemplifiziert aber auch den immensen Facettenreichtum von Genzkens Schaffen. Und so werden auch die glatt schimmernden Ellipsoiden kontrastiert von massiven grauen Betonplastiken, die sich auf schweren stählernen Tischen im Hintergrund erheben.

Mit dem Einsatz von Beton lässt Genzken ab 1986 die eleganten geometrischen Skulpturen hinter sich und wendet sich einem Material zu, das aus dem Bauprozess selbst stammt, und adaptiert architektonische Logiken von Masse, Gewicht, Verdichtung und Gleichgewicht. Vor dem glatt polierten grünen Tinos-Marmor der Versorgungsschächte wirken die Betonskulpturen wie eine radikale Antithese zu Mies van der Rohes Tempelbau für moderne Kunst. Die Titel Pavillon II (1989), Atelier (1990) und Kapelle (1990) verdeutlichen die räumlichen und architektonischen Reflexionen. In der Betrachtung geht man mit den Arbeiten ähnlich zu architektonischen Modellen um. In einem Spiel aus Verbergen und Enthüllen werden die Blicke durch kleine Öffnungen, dunkle Schächte, Risse und Gänge geführt, die jedes Mal aufs Neue die leeren Höfe der rechteckigen Skulpturen sichtbar werden lassen. Die Arbeiten aus Beton reagieren wie ein visuelles Korrelat auf die direkte architektonische und urbane Umwelt der Neuen Nationalgalerie und des Kulturforums, wobei sie als paradoxale Symbiose aus Neubau und Ruine die utopischen Aspirationen modernistischer Architektur zitieren und schließlich scheitern lassen. Ab 1960 begannen auf der Trümmerbrache des einstigen Tiergartenviertels die Bauarbeiten für das Kulturforum nach Plänen von Hans Scharoun und Hermann Mattern. In der Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung von Ost und West und als ein radikaler Gegenentwurf zu Albert Speers „Welthauptstadt Germania“ sollten Philharmonie, Staatsbibliothek und Ludwig Mies van der Rohes gläserner Pavillon Kultur und Kunst als demokratisches Gemeinschaftserlebnis erfahrbar machen. [1] Dabei entstanden ist jedoch ein ästhetisch inkonsequenter Ort, der sich primär durch seine formalen Brüche auszeichnet, wenig identitätsstiftend ist und sich nur widerspenstig in den Berliner Stadtraum einfügen möchte.

An diversen Stellen schafft die Ausstellung visuelle Verknüpfungspunkte zwischen den Skulpturen, dem eigenen Haus, dessen urbaner Umwelt und Berlin – einer Stadt, die neben New York für Genzkens Schaffen besonders prägend ist. Für Fuck the Bauhaus #2 (New Buildings for New York) (2000) klebte sie mit rotem und gelbem Klebeband einen Pizzakarton zusammen mit den Überresten einer Papiertüte, Plastikblumen und einer Netzstruktur, die sie auf einer Baustelle fand. Die Skulptur verneint augenscheinlich jegliche Bauhausprinzipien und bekennt sich lautstark durch den Einsatz von billigen Materialien, bunter Farbe und Ornamenten zum schlechten Design und zum Kitsch. Diese Assemblage aus industriell produzierten Objekten referenziert dabei nicht nur André Bretons Überlegungen zum Objet trouvé und zu Kunstströmungen wie dem Dadaismus, der Pop Art und der Conceptual Art, sondern verweist die Materialität ganz direkt auf Genzkens kritische Betrachtung der westdeutschen Nachkriegsarchitektur. Im Interview mit Wolfgang Tillmans spricht sie über die Rückkehr nach Berlin nach ihrer ersten New York-Reise mit 21 und beschreibt die Resignation gegenüber der urbanen Umwelt, die sie auffand: „Das Schlimme ist ja hier bei der Architektur, dass wirklich alles im billigsten Baustil gemacht wird […] guck dir mal den Potsdamer Platz an, der ist wie eine Kulisse! So wie ich […] im Hier und Jetzt immer mit Billigmaterial kämpfe, weil ich ja auch hier lebe und ja nicht so tun kann, als wäre ich in New York.“ [2]

Dieser artifiziellen und kulissenartigen Architektur des benachbarten Potsdamer Platzes trotzen die dünnen, aneinandergelehnten lackierten Glas- und Epoxidharzplatten der New Buildings for Berlin (2005). Die Türme präsentieren eine bunte Stadtlandschaft, die mehr punk als corporate zu seien scheinen, und schlagen Utopien eines alternativen Stadt- und Sozialraums vor. Bereits Anfang der 1970er Jahre, vor ihrem Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, setzte sich Genzken mit der deutschen Nachkriegsarchitektur Westberlins auseinander. Im Fotobuch Berlin, 1973 (1973) stellt sie die Berliner Mietskaserne der Kaiserzeit in harten Kontrast zu den brutalistischen Plattenbauten am Kottbusser Tor und im Märkischen Viertel. Die Bilder zeigen dystopisch anmutende und menschenleere Räume, die das kollektive Trauma, den inständigen Drang nach Neuaufbau und die politische Dimension von Architektur und Stadtplanung versinnbildlichen.

Konstruktion und Destruktion stehen in Genzken Arbeiten dabei nicht in Oppositionen zueinander. Mit Hospital (Ground Zero) (2008) präsentiert sie einen Gegenvorschlag zur Neubebauung des World-Trade-Center-Areals, der Tod und Blüte schauerlich miteinander vereinigt. Die Assemblage aus Plastikblumen, die in einer Glasvase auf einem mit neongrünem Stoff umhüllten Würfel thronen, stehen lediglich auf einem dünnen Servierwagen, auf dessen unterster Etage acht Schnapsgläser platziert sind. Getragen wird der Wagen von einem weiteren kleinen Rollwagen. Der geringste Stoß würde genügen, um die Konstruktion zu Fall zu bringen. Diese, den Skulpturen durch ihre Struktur und Materialität, inhärente Fragilität wird durch das Abschreiten von Genzkens gesamten Schaffensphasen potenziert. Die Werke fordern Sensibilität und laden die Betrachtenden ein, sie individuell mit Bedeutung zu füllen.

„75 Skulpturen treten zu Ehren ihres 75. Geburtstags nun erstmalig mit dem Architekten Mies van der Rohe sowie seinem baulichen Monument der Neuen Nationalgalerie in Berlin in den direkten Dialog“, schreiben die Kurator*innen Klaus Biesenbach und Lisa Botti im Einführungstext zur Ausstellung. Jede Skulptur soll symbolisch für ein Lebensjahr stehen. Es ist fraglich, ob die Prämisse, die Anzahl der Exponate an Genzkens Alter festzumachen, sonderlich fruchtbar ist. Benjamin Buchloh spricht in seiner Auseinandersetzung mit Genzkens Skulpturen vom „Gender of Sculpture“ [3] , wobei er das feministische Potenzial der Arbeiten betont und beschreibt, wie sich Genzken der traditionell männlich definierten Bildhauerei entgegenstellt, indem sie sich bewusst als Frau in der Praxis positioniert. Faktisch musste sie sich im Laufe ihrer Karriere jedoch immer wieder gegen einen patriarchal geprägten Kunstkanon wenden; sei es gegen den Vorwurf der Minimal Art, ihre Skulpturen hätten zu viel Inhalt und Narration, oder die sich hartnäckig haltenden Assoziationen zu ihrem Lehrer und Expartner Gerhard Richter. Umso ungeschickter ist es, Richters langfristige Leihgaben aktuell unter dem Titel „100 Werke für Berlin“ im Untergeschoss zu präsentieren. Es scheint geradezu so, also müsse sich Genzken abermals im Programm der Neuen Nationalgalerie als Frau unter Männern beweisen. Ihr heterogenes Œuvre auf numerischer Grundlage an ihr Lebensalter zu knüpfen, reproduziert dabei nicht nur das Bild einer zeitgenössischen Künstlerin, die erst im Alter vom internationalen Kunstbetrieb Aufmerksamkeit erfährt; sondern es wird damit die Chance verpasst, zu beleuchten, worum es im Werk eigentlich geht: Skulptur radikal neu zu definieren.

„Isa Genzken. 75/75“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 13. Juli bis 27. November 2023.

Caspar Krisch ist Kunsthistoriker und lebt in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf deutscher und US-amerikanischer Kunst nach 1945.

Aus rechtlichen Gründen können die Bilder, die diesen Text zum Zeitpunkt der Veröffentlichung begleitet haben, nicht mehr gezeigt werden.

Anmerkungen

[1]Eckehard Janofske, Architektur-Räume. Idee und Gestalt bei Hans Scharoun, Braunschweig 1984.
[2]Isa Genzken im Gespräch mit Wolfang Tillmans, in: Camera Austria International, 81, 2003, S. 7.
[3]Benjamin H. D. Buchloh, „Isa Genzken. Fragment as Model“, in: Isa Genzken, October Files, Vol. 17, Januar 2015, Cambridge, S. 24.