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KATHARINA WULFF, JÜRGEN HABERMAS, DANA VON SUFFRIN Seen & Read – von Isabelle Graw

In dieser Ausgabe von „Seen & Read“ bespricht Isabelle Graw eine Ausstellung und zwei Bücher, die unterschiedliche und doch miteinander in Beziehung stehende Einblicke in die jüngere Gegenwartsgeschichte geben: Katharina Wulffs Bilder, die kürzlich in der Berliner Galerie Neu zu sehen waren, rekurrieren auf Ästhetiken der späten DDR-Zeit. Philipp Felschs Buch über Jürgen Habermas beleuchtet nicht nur Biografie und Werk des Philosophen, sondern auch das Geistesleben der jungen Bundesrepublik. Dana von Suffrins neuer Roman erzählt als Familiengeschichte voll multiperspektivischer Erinnerungen vom „modernen jüdischen Leben zwischen München und Tel Aviv“.

„Katharina Wulff: Guten Morgen, du Schöne“

Katharina Wulff, “Rita,” 2022

Katharina Wulff, “Rita,” 2022

Schon der Auftakt zu dieser Ausstellung, die nach dem DDR-Bestseller von Maxie Wander aus dem Jahr 1977 benannt wurde, ist fulminant: Mithilfe von handgeschnitzten ornamentalen Raumtrennern aus Zedernholz (marokkanische Maschrabiyya), die Wulff häufig verwendet, ist eine zusätzliche Eingangssituation geschaffen worden. Man muss diesen duftenden Türrahmen durchschreiten, um eine Serie von Porträts in Augenschein nehmen zu können, die aufgrund ihrer kleinen Formate und stark leuchtenden Farben an die Malerei der Renaissance erinnern. Jedes Bild trägt den Namen der auf ihm dargestellten Figur, wie etwa Rita – eine stark geschminkte, junge Frau mit kurzen grellroten Haaren, die vor einer De Chirico-haften Kulisse steht und deren Brüste madonnenartig aus ihrem engen Bustier hervorquellen. Die sorgfältig gekämmten Haare und Augenbraunen von Jutta leuchten ebenfalls betont gefärbt in Orangegelb. Auch diese Figur wurde in eine Szenerie aus Altbauten und Industriearchitektur eingelassen. Allein das Sparkassen-Zeichen im Hintergrund, eine Art Punktum im Bild, deutet darauf hin, dass wir uns in der Nachwendezeit befinden. Selbstbewusste Posen einnehmend, im Stil der 1980er Jahre geschminkt und aufwendig frisiert, posieren diese durchgehend weiblichen Figuren vor Plattenbauten (Guten Morgen, du Schöne) oder neben Strommasten (Silke). Die von Wulff gewählte Ästhetik ist auch als eine Hommage an die bekannte Ostberliner Fotografin Sibylle Bergemann zu lesen, die trotzig wirkende Frauen vor sozialrealistischem Hintergrund für die Modezeitschrift Sibylle fotografierte. Speziell Frieda, das eine entschlossen wirkende, kurzhaarige Frau im grünen Rollkragenpullover vor einem postmodernen Gebäude mit Industrietürmen zeigt, ist das malerische Remake eines Porträts der Fotografin. Wulffs Bilder weisen zudem eine ortspezifische Dimension auf, einige nehmen auf die Ausstellungsräume der Galerie Neu Bezug, die sich in einem ehemaligen Heizhaus inmitten einer Plattenbausiedlung in Berlin-Mitte befinden. Die Außenwände dieses Gebäudes bestehen aus jenen „gefestigten Flusskieseln in vorgefertigten Betonplatten“ (Pressetext Dominic Eichler), die sich in einigen Bildern von Wulff wiederfinden. So wie marokkanische Trennwände die Gefahr des Provinziellen bannen, werden auch Wulffs kleinformatige Frauenporträts von einer großformatigen Ausnahme-Bleistiftzeichnung (Untitled, 2024) unterbrochen, die männliche Figuren bei der Arbeit im Fitnessstudio zeigt. Der mit Gewichten oder auf Laufbändern arbeitende männliche Körper wird hier in einer an Fernand Léger und Pierre Klossowski erinnernden Bildsprache aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Im Vergleich zu den Frauenporträts scheinen diese Figuren zu verblassen, so als würde zuletzt das Ende einer sich durch Kraft auszeichnenden Männlichkeit konstatiert.

Galerie Neu, Berlin, 1. März bis 21. April 2024.

Philipp Felsch, Der Philosoph: Habermas und Wir

Jürgen Habermas, 2008

Jürgen Habermas, 2008

Diese sehr gut geschriebene Habermas-Monografie liefert eine kompakte Wissensgeschichte der Bundesrepublik seit der Nachkriegszeit. Vor allem die von Jürgen Habermas maßgeblich mitgeprägten Debatten werden von Philipp Felsch anschaulich nachgezeichnet. Dass das beschriebene Geistesleben jedoch ausschließlich aus männlichen Akteuren besteht, wird von Felsch leider nicht als Problem erwähnt. Dafür gelingt es ihm, die zentralen Konzepte von Habermas, wie etwa den Strukturwandel der Öffentlichkeit oder sein Ideal einer herrschaftsfreien Kommunikation, darzustellen und kritisch zu beleuchten. Es wird deutlich, wogegen sich Habermas mit seinen theoretischen Interventionen jeweils richtete, wie seine Vorschläge damals aufgenommen wurden und worin ihre Grenzen aus heutiger Sicht liegen. Besonders gelungen sind die Passagen über den Historikerstreit und das damit zusammenhängende Zerwürfnis zwischen Habermas und Martin Walser. Auch die Freundschaft zum damaligen Herausgeber des Merkur, Karl Heinz Bohrer, endete aufgrund von politischen Differenzen, weshalb Habermas nie wieder für diese Zeitschrift schrieb. In seinen frühen Essays erweist sich der Philosoph als extrem angriffslustiger Autor, so zum Beispiel in seiner Polemik gegen Arnold Gehlen, dessen Überlegungen er als „politischen Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen“ denunziert. Dass Habermas Felsch zu Protokoll gibt, seine Zeitungsartikel stets „aus Zorn“ geschrieben zu haben, wirkt vor diesem Hintergrund plausibel.

Ullstein, 2024, 256 Seiten.

Dana von Suffrin, Nochmal von vorne

In dieser rasant geschriebenen Familiengeschichte werden noch die einschneidendsten Ereignisse – der Tod des Vaters, der Selbstmordversuch der Schwester oder das Verschwinden der Mutter – mit leichter Hand erzählt. Aus Sicht der Protagonistin Rosa wirkt auch der erbitterte Dauerstreit ihrer Eltern – einem Israeli, der mit seiner deutschen Frau und den beiden Töchtern in Süddeutschland lebt – ganz normal. Zwar machen ihre literarischen Porträts von Mutter und Schwester deutlich, wie heftig diese Frauen gegen ihre Rollen aufbegehrten, indem sie regelmäßig Wutausbrüche hatten oder flammende Reden gegen die Ungerechtigkeit des Patriarchats hielten. Doch auch diese Krisen werden gelassen erzählt, wie etwas Alltägliches. Als Leserin rechnet man deshalb stets mit dem Schlimmsten und liest gebannt weiter. Doch was genau mit der Mutter und ihrem Yogafreund in Thailand passierte, bleibt ungeklärt. Rosa hält sich in der Wohnung des verstorbenen Vaters auf und stößt dort auf Objekte, an denen sich ihre Kindheitserinnerungen entzünden. Dass der Blick auf die eigenen Eltern nach deren Tod milder ausfällt, zeigt sich am Ende des Buches. Während sich die Protagonistin und ihre Schwester Nadja zu deren Lebzeiten ständig über sie lustig machten, entwickeln sie nun im Rückblick ein emphatischeres Verständnis für deren Lage.

Kiepenheuer&Witsch, 2024, 240 Seiten.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Photo Rob Kulisek; 2. Courtesy the artist and Galerie Neu, Berlin, Photo Stefan Korte, 3. Photo Wolfram Huke; 4. © Kiepenheuer&Witsch