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DRESSING AFTER THE GREAT DIVIDE Die Emanzipation des Jonathan Anderson

J. W. Anderson, SS 2013

Dass Mode geschlechtliche Normen dehnt, Elemente der Menswear in die Womenswear überträgt und umgekehrt, ist an sich nichts Neues und mindestens bekannt seit den Hosenröcken Coco Chanels. Neu ist aber womöglich die Konsequenz, mit der das nun geschieht, eine Selbstverständlichkeit, die vielleicht nicht mal mehr als Crossdressing zu bezeichnen ist: Ist das Genderspektrum fluide, gibt es nichts mehr zu überbrücken. Dies lassen zumindest die Entwürfe des Londoner Designers J. W. Anderson vermuten.

Also: Sex sells? Philipp Ekardt stellt die Gegenfrage: Geht es hier denn noch um Sex(ualität)? Irgendwie präsentiert sich diese als zweitrangig, als einem Interesse für Community gewichen, das heute so omnipräsent wie notwendig scheint.

Im Januar 2016 verkündete der Designer Jonathan Anderson, einer der neuen Stars am Mode­himmel, dass er die kommende Herbst/Winter-Männerkollektion seines gleichnamigen Labels J. W. Anderson über einen ziemlich unerwarteten Medienkanal präsentieren werde: Grindr. Andersons schlichte Entwürfe basieren auf schweren Stoffen, asymmetrisch geformten Volumen, einer ausgeprägten Sensibilität für Skulpturales, sporadischen Prints (zwischen grafisch und ornamental) und kräftigen (aber nicht Primär-)Farben; er ist eine der führenden Figuren, die derzeit etwas erforschen, das man als nouveau moche bezeichnen könnte, und die in dieser Hinsicht in der ästhetischen Nachfolge des Werks von Miuccia Prada stehen: eine modische Aufbereitung von Werten, die ansons­ten als „hässlich“ gelten. Seine Präsentationen werden genau verfolgt, und die Entscheidung, seine Schau nicht nur als Livestream zu zeigen, sondern hierfür eine Gay-Dating-App als Plattform zu nutzen, hat das Interesse noch einmal erheblich gesteigert. Interessierte User erhielten einen Zugangscode, um einen konventionellen Livestream der Schau freizuschalten (faktisch diente Grindr nicht als Serverplattform), doch die Geste, Grindr, ein digitales, soziales, auf sexuelle Kontakte ausgerichtetes Portal, als (Weg zum) Runway zu nutzen, erzeugte trotzdem erhebliche Aufmerksamkeit.

Resort wear by Chanel, Biarritz, 1932

Resort wear by Chanel, Biarritz, 1932

Diese digitale Plattform hat durch ihre Kombination von mobiler Kommunikation und Geo-Lokalisierung weite Bereiche des Sexlebens homosexueller Männer neu organisiert. Trotz der Witze darüber, dass Andersons Show mit dem Thema „Der nächste Look ist null Meter entfernt“ spielte, fiel an der darauffolgenden medialen Berichterstattung über die gezeigte Mode auf, dass direkte Bezüge auf Fragen von Sex oder Sexualität – im Sinne des Akts, der Orientierung oder der Identität – offenkundig fehlten. Anders gesagt, schien es Andersons späterer Kommentar auf den Punkt zu bringen: Er interessiere sich für Grindr als eine „sexy“ Community, vor allem aber als ein Medium, einfach weil es eine brauchbare Plattform für die erste Onlinepräsentation seiner Entwürfe war – womit er die Frage nach Sex in den Hintergrund rückte. Weder war seine gewohnte Ästhetik im Geringsten „sexier“ als in seinen üblichen Schauen, noch zeigten seine Entwürfe irgendeinen Bezug zu „Gayness“. Andersons Wahl zog also aufgrund der Assoziation einer Verknüpfung von Sex und Kommunikationstechnologie zweifellos Aufmerksamkeit auf sich. Doch die internen und externen Abläufe, das heißt die Reaktionen auf die Kollektion und die Looks, aus denen sie bestand – die Kleidungsstücke –, waren nicht mehr und nicht weniger mit Sexualität verknüpft, als sie es auch unter anderen Umständen gewesen wären. Letztlich hatte der Designer Grindr wie „irgendeine“ Community, als eine „bloße“ Community oder gemäß ihrer reinen Nützlichkeit behandelt.

Michael Alig and DJ Keoki at Larry Tee’s Love Machine, New York, 1990

Michael Alig and DJ Keoki at Larry Tee’s Love Machine, New York, 1990

Das soll selbstverständlich nicht heißen, dass sich Andersons Entwürfe generell und insgesamt nicht auf Fragen von Sexualität – oder Gender – beziehen. Schließlich hinterließ er einen seiner ersten bleibenden Eindrücke mit einer Frühjahrskollektion 2015, in der er bauchfreie Stricktops zu Hosen mit tiefem Bund zeigte, und der nackte Bauch des jungenhaften Models löste zweifellos allerhand Alarm aus. Dies galt auch für seinen Londoner Designerkollegen Craig Green (der in seiner ersten Kollektion das bauchfreie Top als Element seiner seltsam formalistischen, sich ständig weiterentwickelnden, manchmal skulpturalen Herangehensweise an informelle Kleidungsstücke wie Kimonos, Pyjamas und gepolsterte Aikido-Anzüge einsetzte), wie auch für die schwedische, ebenfalls in London arbeitende Designerin Astrid Andersen, die dem Thema durch die Verarbeitung von Materialien, die man ansonsten für Fallschirme und Sportbekleidung verwendet, einen besonderen Dreh gab. In all diesen Entwürfen zeigte sich eine eigentümliche Überlagerung: Es gab einen Genderaspekt – weil das bauchfreie Top ein Kleidungsstück ist, das weitgehend mit „femininen“ Outfits assoziiert wurde (wobei die nackte Taille Gegenstand weitschweifender Spekulation über eine neue Erotisierung des weiblichen Bauchs war, der biologisch betrachtet der Ort der Schwangerschaft ist). Doch das Crop Top erinnerte zugleich an zwei kurze Momente in der jüngeren Geschichte der Mode, in denen man es auch an männlich kodierten Körpern sah: während der Fitnesswelle der 1980er Jahre, als es die Körpermitte beim Training gleichzeitig bekleidete und zur Geltung brachte, und in den 1990er Jahren, als es zur Grundausstattung der Raver gehörte.

In Jonathan Andersons eigenem Schaffen könnte man auch an seine – inzwischen wohl ikonischen – Hotpants denken, die nicht „kaum vorhanden“, sondern irgendwie massiv sind und angesichts ihrer gedämpften Farben und leichten Kombinierbarkeit mit passenden Oberteilen – eine contradictio in adiecto – als (wenn auch eigenwillige) bürotaugliche Kleidung interpretiert werden können. Als hätte sich eine überdimensionale Rüsche in ein Paar Shorts verwandelt, die Schritt und Hintern bedecken, zeigen sie eine weich wogende, aber trotzdem irgendwie sehr materielle Raffung an den unteren Säumen. Diese Teile, die gleichzeitig modelliert, sexy und förmlich wirken, kombinieren Modewerte, die ansonsten als schwer oder gar nicht vereinbar gelten. Ein ähnlicher Fall sind richtige Officehosen, die die Silhouette eines knöchellangen (Sekretärinnen-?)Rocks nachahmen.

Fantastic Man, SS 2015, Cover

Fantastic Man, SS 2015, Cover

Bei der Betrachtung dieser Hosen, die „hot“ sind und auch wieder nicht, stellt man fest, dass hinsichtlich der mittlerweile klassischen Mechanismen, mit denen Mode an der Dekonstruktion von Gender arbeitete, ein Wandel stattgefunden hat: Wir beobachten beispielsweise nicht die Erfindung des Unterstatements von „weiblicher“ Kleidung durch die Integration „männlich kodierter“ Elemente (wie es Chanel tat), noch erleben wir die Konstruktion einer angeblich „femininen“ Position durch das Postulieren der Konstruktion aller Gender qua Trans-Vestismus (Gaultier, Mugler etc.), das einige Designer in der Zeit der „Mode nach der Mode“ – um Barbara Vinkens wegweisendes Buch zu zitieren – herausgearbeitet haben. [1] Stattdessen sehen wir Hosen, die wie Röcke aussehen, aber eigentlich immer noch Hosen sind. Mit diesem Kleidungsstück hat Anderson durchaus faszinierende Objekte entwickelt, die Zeichen in mehr als eine Genderrichtung senden und sich gleichzeitig weigern, sich an dem einen oder anderen Ende eines vorgeblich binären Systems (falls es noch existiert) zu positionieren. Es ist, als hätte man die Lösung der Culotte – um Frauen ein Kleidungsstück mit zwei Beinen zu bieten, das aus Gründen der Schicklichkeit immer noch wie ein Rock aussehen musste – einen weiteren Schritt vorangebracht. Oder als hätte das Verwirrspiel der (schnitt-)technischen Kategorien – Rock? Hose? Hosen als Röcke als Hosen? – die Frage nach dem vermeintlichen Gendering einfach hinter sich gelassen.

Wir könnten diese Analyse ausweiten und das Markenzeichen des Designers, die häufig ärmellosen Tops, betrachten – weite Schnitte, die manchmal voluminös wie eine Tunika und gelegentlich bedruckt sind. Hier fiele es wirklich schwer, zu sagen, für welche Genderposition – wenn überhaupt – diese Teile entworfen wurden. Der strategisch eingesetzte weite Schnitt macht sie für Körper mit den unterschiedlichsten Anatomien perfekt tragbar. Es handelt sich um Teile, die tatsächlich für „feminine“, „maskuline“ und Körper aller anderen Gender produziert werden. Was man – mit Verlaub – nicht einmal von den einfachsten American-Apparel-T-Shirts behaupten kann.

J W Anderson, AW 2016, Live-Stream via Grindr, rendering

J W Anderson, AW 2016, Live-Stream via Grindr, rendering

Das Bild, das alles am prägnantesten zusammenfasst, ist vielleicht Andersons Erscheinung auf dem Cover der Zeitschrift Fantastic Man. Der Designer – leicht unscharf fotografiert, das Haar in einer Appropriation linkischer Geekiness durch einen Stylisten tadellos in der Mitte gescheitelt –trägt hier einen seiner Entwürfe für Loewes Damenkollektion. Was man in seiner Arbeit sieht, ist weder Cross-Dressing noch Unisexing, sondern eine neue Souveränität in der Herangehensweise an den Zusammenhang von biologischem Geschlecht, Gender und Mode. Eine Herangehensweise, die die richtigen Konsequenzen gezogen hat: Sie führt ihre potenziellen Vorläufer in der Männermode – man denke an Yamamotos fließende Hosenschnitte – zu neuen kreativen Höhen, während sie gleichzeitig jede potenzielle Arbeit am Genderthema paritätisch auf beide „Geschlechter“ verteilt (es war lange das Vorrecht der Frauenmode, als eigentlicher konzeptueller Hort der Bearbeitung von Genderfragen durch Kleidung zu fungieren; doch diese Zeiten sind vorbei). Auch hat Anderson, mit seinem Mut zum Formellen, offenkundig alles über das Verhältnis Fashion/SEX (in Großbuchstaben) gelernt, was man von seinen ehemaligen Kooperationen bzw. seiner früheren Arbeit für Donatella Versace lernen konnte. Doch während Sex für viele Designer aus der Ära der Versace-Geschwister quasi ein Zentrum des Design-Universums bildete, wurde er in Andersons Arbeit zur süßen Eventualität in einer allgemeinen Umstrukturierung von Potenzialen, Prioritäten und Prärogativen. Es gibt Sex, aber nur als eine Nebensache unter vielen anderen – eine Haltung, die es Anderson ermöglicht, Grindr ernsthaft als eine (Fashion-)Community unter vielen anderen zu behandeln. [2] Tatsächlich könnte Emanzipation am Ende so aussehen.

Philipp Ekardt

With thanks to Barbara Vinken for our conversations.

Übersetzung: Barbara Hess

Anmerkungen

[1]Barbara Vinken, Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1993; dies., Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Stuttgart 2013.
[2]Das gilt in Wirklichkeit für alle privatistischen, auf weitgehender Gleichheit basierenden Mikro-Communities: Hier gibt es keine „Freunde“ auf dem Laufsteg und keine die vestimentären Gemeingüter erforschenden Produktionsweisen, die sich leicht zu einer Marke machen lassen – daher die erfrischende Unlesbarkeit von Andersons Mode für Kimye und ihresgleichen.