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INVESTIERE DICH! Wendy Brown im Gespräch mit Isabelle Graw

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Im Zentrum des 2015 erschienenen Buches „Die schleichende Revolution“ der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown steht die Frage, ob die Versprechen einer flexibilisierten neoliberalen Ökonomie letztlich die Demokratie bedrohen. Nimmt man den alarmierenden Shift zu Populismus und Nationalismus in letzter Zeit als Anzeichen, scheint die Antwort darauf ein klares Ja zu sein. Im Herbst diesen Jahres (vor der US-Wahl) sprach Isabelle Graw mit Brown über die Grenzen neoliberaler Ordnung, den Status des Subjekts und darüber ob sie denkt, dass angesichts der Auswirkungen des Neoliberalismus das von Marx entwickelte Modell vom Verhältnis von Arbeit und Kapital noch immer gilt.

Isabelle Graw: In Ihrem Buch „Undoing the Demos“ (dt.: „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“, Frankfurt/M. 2015) beschreiben Sie sehr überzeugend, auf welche Weise der Neoliberalismus eine neue Phase erreicht hat – eine Phase, die auch mit einer Umgestaltung des Subjekts einhergeht. In einer solchen Ökonomie ist das Subjekt zu dem geworden, was Sie als eine neue Version des homo oeconomicus bezeichnen, der als „finanzialisiertes Humankapital“ bestimmt wird. Zunächst möchte ich Sie fragen, wie wir uns ein solches finanzialisiertes Subjekt vorzustellen haben – wie genau sieht es eigentlich aus? Und wodurch unterscheidet es sich von dem im 18. Jahrhundert erfundenen Modell eines rationalen, souveränen, selbstbestimmten Subjekts, das von ökonomischen Interessen getrieben ist?

Wendy Brown: Hier müssen wir zwei wichtige Denklinien verfolgen: Die eine betrifft den Unterschied zwischen dem Subjekt, das über alle Lebensbereiche hinweg als homo oeconomicus zu verstehen ist, und demjenigen, das nur in einigen, nicht in allen seinen Bedürfnissen ökonomieorientiert ist. Die zweite Denklinie betrifft die spezifische Finanzialisierung der Ökonomie und der ökonomischen Handlungsformen. Beides will ich hier nur in aller Kürze ausführen. Das Zeitalter, das Sie als den Ursprung unseres Denkens über diese Zusammenhänge vorgeschlagen haben, das 18. Jahrhundert, war dasjenige der Aufklärung und früher liberaler Formen des bürgerlichen männlichen Subjekts: ein sich selbst bestimmendes und erschaffendes Wesen, das sich durch Vernunftdenken selbst beherrschen und seine eigenen Zweckbestimmungen setzen soll. Nun hängt diese Bestimmung des Subjekts aber davon ab, ob die Vernunft selbst die Oberhand hat, und auch davon, ob liberale Regierungen – im Sinne sich zurückhaltender Staaten, die einem ein weites Spektrum individueller Entscheidungsmöglichkeiten und persönlichen Lebens lassen – vorherrschen. Abgesehen davon ist hier noch keinesfalls die Rede davon, dass das Subjekt lediglich zur Steigerung seines ökonomischen Werts existierte oder ausschließlich durch Eigeninteresse motiviert wäre (dazu wird es dann bei Bentham kommen). Ebenso wenig geht es hier – selbst bei den frühen politischen Ökonomen, allen voran Adam Smith – irgendwie darum, uns als durch und durch ökonomische Subjekte zu begreifen. Was wir stattdessen sehen, ist ein Selbstverständnis, das uns als selbstbestimmte, autonome Wesen betrachtet, die darüber hinaus von verschiedenen Interessen geleitet sind. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus verändert sich diese Konstruktion des Subjekts und zunehmend auch seine Beherrschung, durch die es nicht nur zum moralisch autonomen Geschöpf und Schöpfer seiner selbst, sondern zu einem Wesen wird, das in jedem Lebensbereich unablässig am Ökonomischen orientiert ist. Das ist eine grundlegende, radikale Veränderung. Die ersten neoliberalen Denker/innen wie auch die späteren Entwicklungen, die sich innerhalb des Neoliberalismus vollziehen, von Public-Choice-Theorien bis hin zu Theorien der rationalen Wahl und zur Spieltheorie, erschaffen eine Figur, die nicht nur (sich selbst beherrschend, selbst erschaffend) über moralische Selbstbestimmtheit verfügt, sondern ihren Wettbewerbsvorteil in jedem Lebensbereich zu verbessern trachtet.

Brexit-Befürworter, London, 2016

Nun zurück zu der anderen Denklinie, die ich erwähnte. Wenn wir wie bei Adam Smith der Figur des homo oeconomicus begegnen, dann ist das die Figur des Dealmakers. Adam Smith sagte bekanntlich, wir alle seien Lebewesen, die in Beziehung zueinander treten, handeln und tauschen. Das ist etwas vollkommen anderes als die Figur, die wir 100 Jahre später dann bei Bentham finden: das Subjekt, das auf Lustmaximierung und Schmerzminimierung angelegt ist, ein rein am Nutzen orientierter, berechnender Mensch. Und es ist auch vollkommen anders als das Subjekt, das Foucault als Subjekt des frühen neoliberalen Denkens skizziert hat: das unternehmerische Subjekt, das Subjekt, das seine Aktivposten in jeder Lebensdimension auf unternehmerischem Wege vergrößern will. So wie jede dieser Subjektformationen tatsächlich bestehenden – und in verschiedenen Staatsformen regierten – Ökonomien entspricht, innerhalb derer das Subjekt handelt, verschafft uns unsere derzeitige finanzialisierte Ökonomie wiederum eine weitere Fassung des homo oeconomicus: ein Subjekt, das für seinen gegenwärtigen und zukünftigen Wert Sorge trägt, das nicht einfach die Menge seiner Geschäftsabschlüsse maximieren will, auch nicht einfach sich selbst unternehmerisch definiert, sondern in sich selbst investiert, um seinen eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Wert zu steigern und auch andere Investoren anzuziehen. Hier vielleicht noch eine Anmerkung: Am treffendsten fasst diese Form der französische Philosoph Michel Feher, der uns daran erinnert, dass es dem sich unternehmerisch verstehenden homo oeconomicus nur darum geht, wie er möglichst erfolgreich seine Aktiva umfassend unternehmerisch einsetzen kann, um deren Wert in der Gegenwart zu maximieren, dass aber der finanzialisierte homo oeconomicus nicht nur für die Gegenwart auf Investition in sich selbst abzielt, sondern auch für die imaginierte Zukunft. Das heißt, er ist auf die Steigerung seines gegenwärtigen und zukünftigen Werts durch Spekulation fixiert, darauf, was Investoren anziehen wird; so handeln große, durchfinanzialisierte Firmen, aber so funktioniert eben auch das finanzialisierte Humankapital. Da geht es um einen ganz anderen Subjektbegriff als den eines solchen Humankapitals, das einfach auf den unternehmerischen Einsatz seiner Vermögenswerte abzielt, auch wenn davon einige Aspekte noch enthalten sind. Niemand weiß das heute besser als unsere jungen Studierenden an den Universitäten. Die erkennen sich in dieser Beschreibung sofort wieder; denen ist sehr früh und sehr genau klar, dass sie genau das mit ihrer Ausbildung, ihrem Beziehungsleben, ihrem Facebook-Leben, ihrem LinkedIn-Leben, mit ihren Praktika und ihren Netzwerken, ihrer Auseinandersetzung mit Branding machen.

Graw: Ich finde Ihre Darstellung der verschiedenen historischen Phasen eines immer stärker ökonomisierten Subjekts sehr überzeugend. Und doch frage ich mich, ob man diese theoretischen, normativen Beschreibungen des finanzialisierten homo oeconomicus mit der Lebenswirklichkeit und den Verhaltensweisen gleichsetzen darf, die etwa an Ihren Studierenden erkennbar werden. Anders gesagt: Besteht nicht bei einer solchen Perspektive das Risiko, dass man das Normative und das Deskriptive miteinander vermischt? Und werden wir denn, wie Sie in Ihrem Buch andeuten, tatsächlich allesamt zu „Humankapital“ – was ja bedeuten würde, dass wir uns auch wie Kapital verhalten müssten? Nach Marx ist Kapital lediglich ein bestimmter Wert, der investiert wird, um einen höheren Wert zurückzuerhalten. Lässt sich das komplexe Verhalten von Subjekten wirklich so eindimensional beschreiben?

Melania Trump in ihrem Penthouse, New York, 2012

Brown: Sie scheinen hier zweierlei verschiedene Fragen anzusprechen. Die eine lautet, ob das von mir angebotene Schema, das sich gleichermaßen auf politische Theorie wie auch auf politische Ökonomie bezieht, geeignet ist, die unterschiedlichen Formationen und Subjekte akkurat zu beschreiben und zu beherrschen. Die andere fragt, wie schonungslos diese Beschreibungen bei ihrer Erfassung des Subjekts vorgehen. Um mit der ersten Frage zu beginnen: Ich sage ja nicht, dass Adam Smith oder Jeremy Bentham empirisch genau argumentiert hätten – ich sage nur, dass sie uns jeweils eine Figur gegeben haben, die auf bestimmte Weise mit ihrer Ökonomie umgeht und so zum jeweiligen homo oeconomicus ihres Zeitalters wird. Wenn Sie aber zwischen dem Empirischen und dem Normativen unterscheiden, rufen Sie eine Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert auf, die ich zurückweisen möchte, insbesondere mit Verweis auf Foucault.

Graw: Richtig – Foucault weist diese Unterscheidung dadurch zurück, dass er aufzeigt, wie Normen tatsächlich gesellschaftliche Wirklichkeit erzeugen.

Brown: Genau. Wichtig an Foucaults Beitrag zu unserer Diskussion ist doch die Anerkennung der Verflechtung der Ordnung der Welt mit den uns beherrschenden und leitenden Normen. Was Sie als empirische Wirklichkeit beschreiben, die ganz anders sein soll als die herrschenden Normvorstellungen, rückt uns näher an eine marxistische oder neomarxistische Lesart heran, bei der Ideologie und Wirklichkeit scharf voneinander getrennt sind. Ich beziehe mich bei meiner Arbeit zwar auch auf Marx, doch finde ich gerade diese Trennung weder für ein Verständnis der Transformation des Subjekts noch für ein Verständnis der Transformation der Ökonomie durch einen neuen Vernunftbegriff besonders hilfreich. Normen sind nicht ganz und gar für die Produktion des Subjekts verantwortlich, sie konstruieren und interpretieren es jedoch auf eine Weise, die Ideologie nicht umfassen kann.

Um es zugespitzt zu formulieren: Teil der neoliberalen Revolution – die zweifelsohne auch eine gewaltige Menge an wirklichen politischen Veränderungen und ökonomischen Neuordnungen mit sich brachte – war es eben auch, dass eine neue Form der Regierung von Staaten und Subjekten entstand. Hier erscheint Thatchers kleine, beiläufige Bemerkung ganz passend: „Ökonomie ist die Methode, Ziel ist es aber, die Seele zu verändern.“ An einer Vielzahl von Orten bestand das Ziel der neoliberalen Revolutionen nicht nur in der Stärkung des Wettbewerbs in Gesellschaften, in denen er rückläufig war, oder im Abbau des Wohlfahrtsstaates, im Strukturwandel der Besteuerung oder im Ausbau des Freihandels; es ging genauso um die Produktion einer anderen Art von Subjekt. Am England der Thatcher-Zeit lässt sich das tatsächlich sehr schön zeigen: Ganz explizit ging es ihr darum, eine ganz und gar neue Form der Regierung des Einzelnen zu verwirklichen – und zwar nicht bloß durch Ideologie, sondern durch eine Umwandlung des Wohlfahrtsstaates, auf dass dieser den Subjekten Unternehmertum und Selbstsorge (oder was damals als Eigenverantwortung bezeichnet wurde) bringe. Bedeutet das, dass wir gnadenlos von einer normativen Vernunftordnung beherrscht werden, der es gelingt, uns zu nichts anderem als zu in sich selbst investierende Partikel von Humankapital zu machen? Nein. Ist diese Art der Herrschaft umfassend oder erfolgreich zu nennen? Nein, denn sie ist nur teilweise verwirklicht, unausgewogen, und außerdem gibt es alle möglichen Widerstandsformen, die sich dagegen gebildet haben, alle möglichen Formen psychischer, unbewusster Widerstände und Auswirkungen. Foucault erweist sich auch hier als hilfreich. Er hat nie die Auffassung vertreten, eine bestimmte ratio sei total gegeben; er vertrat stets die Auffassung, es gebe vielerlei Diskurse, vielerlei Rationalitäten – die sich außerdem auch nur in begrenztem Maße durchsetzten und unberechenbare Veränderungen und Wirkungen hervorbrächten. Es ist Nietzsche und nicht Marx, der hinter Foucaults Vorstellung von Geschichte und Subjektbildung steht.

Bastian Schweinsteiger, 2012

Graw: Foucault hat sicherlich gezeigt, dass neoliberale Normen sich bis in unsere Körper und Seelen hinein erstrecken, und dennoch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Beschreibung dieses neuen homo oeconomicus, wie sie in Ihrem Buch zu finden ist, etwas leicht Totalisierendes hat. Subjekte als Humankapital zu entwerfen, das stets die Wertsteigerung seines Portfolios im Auge hat, setzt zudem einen eher voluntaristischen Subjektbegriff voraus – und geht von einem Subjekt aus, das strategisch handelt, weiß, was es tut, und seine Ziele mithilfe bestimmter Mittel erreicht. Eine solche Annahme eines voluntaristischen Subjekts erscheint mir fragwürdig, vor allem aus psychoanalytischer Sicht, denn gemäß Freuds berühmter Formulierung ist das Subjekt ja nicht Herr im eigenen Haus. Und doch scheint ein solches Subjekt, das keine Kontrolle über sich selbst hat, in dem von Ihnen entwickelten Szenario keinen Platz zu haben.

Brown: Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, das Buch habe gewisse Tendenzen in Richtung einer Totalisierung. Ich denke allerdings auch, dass ein gewisser Wille zur Totalisierung für das Projekt des theoretischen Denkens nahezu unverzichtbar ist.

Graw: Das ist richtig, man muss oft zuspitzen, um eine starke theoretische Setzung zu machen.

Brown: Und ja, Sie haben auch recht, wenn Sie sagen, dass es im Buch mitunter so scheint, als seien wir dieser Rationalität bereits ganz und gar erlegen, und das stimmt nun auch wieder nicht. Ich finde allerdings interessant, dass so viele Leser/innen dieses Buch als eine Theorie des Subjekts – und nicht als eine Theorie der Entdemokratisierung – verstanden haben. Das Ziel von „Die schleichende Revolution“ war nicht, wie detailliert oder ungenau auch immer, die Wechselfälle neoliberaler oder finanzialisierter Subjektformen zu beschreiben; zu diesem wichtigen Thema gibt es bereits viele gute Studien, und viele weitere befinden sich in Entstehung, aber das ist nicht mein Thema. Meine Absicht war vielmehr zu beschreiben, was im Zuge der neoliberalen Veränderungen ihrer Praktiken und Bedingungen – Gleichheit, Freiheit, Universalität – mit der Demokratie passiert. Aber viele haben das Buch genau wie Sie als Studie zum neoliberalen Subjekt aufgefasst.

Graw: Was mich betrifft, so rührt meine Konzentration auf das neoliberale Subjekt ganz einfach daher, dass unser Gespräch im Rahmen eines Heftes stattfindet, in dem es um „das Individuum“ geht.

Brown: Ich verstehe. Und Sie sprechen einen wichtigen Punkt an, wenn Sie fragen, welcher Unterschied zwischen einerseits den Weisen besteht, in denen wir auf bestimmte Zielsetzungen hin regiert, konditioniert und konstruiert werden, und andererseits dem Seelenleben des Subjekts. Ich finde, dieser Differenz muss unbedingt nachgegangen werden, vor allem wenn es darum geht, demokratischen Widerstand zu kultivieren. Andererseits finde ich es aber auch nicht ganz angemessen, dieses Subjekt „voluntaris­tisch“ zu nennen. Nehmen wir z. B. den Wandel der Universitäten von öffentlichen Einrichtungen zu privatwirtschaftlichen Investitionsobjekten. (Darum geht es auch an einer Stelle in meinem Buch.) Wenn die Investitionslast bei einer Ausbildung ganz dem Individuum aufgebürdet wird, sinken dessen Chancen, eine Horizont erweiternde, kritische, staatsbürgerliche Ausbildung zu erfahren, ganz erheblich. Es geht nicht darum, dass sich da jemand freiwillig auf die Jagd nach kapitalmäßiger Verbesserung der eigenen Position begibt, sondern um die ökonomischen Einschränkungen einer herrschenden Vernunftordnung, für die eine Universitätsausbildung allein der Steigerung des zukünftigen Werts als Humankapital dient und sonst nichts. Wird man auf diese Weise beherrscht, versetzt einen das in die wirtschaftliche Zwangslage, sich stark zu verschulden, um für seine Zukunft zu sorgen, und man beginnt, sich wie wertsteigerndes Humankapital zu verhalten. Ich glaube nicht, dass das voluntaristisch ist.

Graw: „Voluntarismus“ ist für mich ein problematischer Begriff, und dies nicht zuletzt aus einer psychoanalytischen Perspektive, in der sich das Ideal eines voluntaristischen Subjekts als eine Fiktion erwiesen hat. Das Konzept „Voluntarismus“ unterschätzt zudem, da stimme ich Ihnen zu, auch die Auswirkungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zwänge – wie diese unsere Wahlfreiheit begrenzen und unsere Absichten beeinflussen. Und es ist richtig, dass sich viele Forscher/innen mit dem beschäftigt haben, was dem Subjekt in einer solchen Ökonomie eigentlich widerfährt: z.B. Alain Ehrenberg mit seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ [„La fatigue d’être soi“, 1998/2009], in dem er sich auf die verheerenden mentalen und psychischen Auswirkungen konzentriert, die einem System entspringen, das einen unablässig nötigt, seinen eigenen Wert unter Beweis zu stellen und sich besonders im Falle des Versagens auch noch selbst verantwortlich zu fühlen. Es gibt allerdings doch eine Frage, die ich in Ihrem Buch vermisse: Warum wird die neoliberale Rationalität, wie Sie das nennen, von so vielen Menschen so begierig internalisiert? Was ist so attraktiv an dieser Form des Regiertwerdens? Könnte es sein, dass Menschen das Investieren in sich selbst auch genießen, dass sie diese Selbstinvestition durchaus auch als Selbstermächtigung erfahren? Weil sie in gewisser Weise dem „neuen Geist des Kapitalismus“, wie ihn Boltanski und Chiapello beschrieben haben, den Vorzug geben, in dem sich die Herrschaftsform über Netzwerke verwirklicht, in denen es flache Hierarchien, Ko­operation, Teamwork, Konsensbildung, Selbstorganisation, alle diese Dinge gibt? Vielleicht ist ja dieser neuere Geist des Kapitalismus tatsächlich dem alten, repressiveren gegenüber zu bevorzugen?

Freizeitanlage, Utah Valley University, 2014

Brown: Auch hier möchte ich auf zwei unterschiedlichen Wegen argumentieren. Zum einen ist wichtig, das Subjekt nicht als konstant oder durch eine Reihe bestimmter Vorlieben gekennzeichnet zu behandeln, die sich mit einem Modus besser fassen oder weiterentwickeln lassen als mit einem anderen. Wenn man die Vorstellung ernst nimmt, dass es sich bei Subjekten selbst um Effekte von Macht handelt, die durch Macht, Regierungsweisen und Normen produziert werden, dann funktioniert es nicht zu sagen, dass der eine Modus dem anderen gegenüber bevorzugt wird. Vielmehr sind wir organisiert, konstruiert, darauf konditioniert – und ich sage bewusst nicht determiniert –, in einer bestimmten Lebensweise Befriedigung zu suchen und vielleicht sogar zu finden. Es wurde öfter argumentiert, dass es doch tatsächlich etwas äußerst Attraktives gebe an der Freiheit und Selbstkultivierung, die mit den neoliberalen Wertvorstellungen, inklusive mit deren finanzialisierter Form, einhergehen. Denn im Gegensatz zu den alten Vorstellungen davon, entweder der „Berufung“ oder dem eigenen „Handwerk“ lebenslang tagtäglich als mühselige Existenz nachzugehen oder als Arbeiter/in zu leben und in seiner Arbeitskraft ausgebeutet zu werden, hat doch diese neue, flexiblere, netzwerkförmig organisierte Ökonomie durchaus ihre aufregenden Aspekte, ihre reizvollen Seiten, ihre Freiheiten. Es wurde ja mehrfach in Betracht gezogen, Foucaults Interesse am Neoliberalismus sei durch sein Interesse an den Freiheiten, die er scheinbar bietet, begründet. Und inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Büchern von kritischen Denkerinnen und Denkern, die nicht nur den Subjektivierungen und Grausamkeiten neoliberaler Ordnungen, sondern auch deren emotionaler oder affektiver Anziehungskraft nachgehen. Zugleich möchte ich anregen, dass wir hier nicht nur psychoanalytisch, sondern auch psychopharmazeutisch denken sollten. Es ist ja offensichtlich: Noch nie zuvor wurden so häufig routinemäßig Antidepressiva wie auch angsthemmende Medikamente verschrieben. Und dann gibt es auch noch den Off-Label-Gebrauch von Adderall (ein Amphetamin zur ADHS-Behandlung) – jener Hochleistungsdroge, die inzwischen nicht nur am Arbeitsplatz und auf dem Börsenparkett der Investmentfirmen allgegenwärtig ist, sondern auch an Schulen; immer häufiger verabreichen Eltern ihren Kindern ein Medikament, das bereits in jungen Jahren ihre schulischen Leistungen verbessern soll. Und dieses Medikament muss dann oft noch mit Mitteln gegen Angstzustände und Depressionen ergänzt werden. Wie sollen wir nun durch diesen biochemischen Schirm des Menschenmanagements hindurch noch erkennen, was uns eigentlich glücklich macht oder anzieht, in welchem Maße wir diese neue Form von Freiheit, Selbstverwirklichung und Wertschätzung tatsächlich genießen? Ich behaupte ja nicht, das gäbe es gar nicht. Ich stelle lediglich die Frage, wie wir menschliches Genießen bewerten sollen, das durch solche Pharmazeutika gesteuert wird, die sich spezifisch auf diese Zwänge beziehen: erstens auf die fast ununterbrochene Angst, die der Zwang zur Steigerung des eigenen Human­kapitals erzeugt, zweitens auf die Depression aufgrund der prekären Lage und den ennui, der den Verlust zahlreicher anderer Werte im Leben begleitet, sowie drittens auf den Druck zu ständiger Leistungs- und damit auch Wertsteigerung ohne Verlust der Konzentrationsfähigkeit oder auch nur angemessener Schlafphasen.

Graw: Das ist ein wesentlicher Punkt, den Sie angesprochen haben: dass Menschen diese Medikamente als Unterstützung brauchen, die sie leistungsfähiger und resistenter gegen jene Angst und Depressionen machen sollen, unter denen sie aufgrund ständiger Überforderung leiden. Es ist offenkundig kaum möglich, den neuen Geist des Kapitalismus ohne Rückgriff auf die entsprechende Medikation zu genießen. Doch wenn es zutrifft, dass es sich beim Neoliberalismus um eine Form der Regierung handelt, die darauf abzielt, dass wir ihre Werte und Normen internalisieren, wie Foucault meinte, wäre es dann nicht auch möglich, sie nicht in solchem Maße zu verinnerlichen, sondern sich vielmehr bewusst dem täglichen Fitnesstraining, dem ununterbrochenen Networking, dem Self-­Branding in den sozialen Medien etc. zu verweigern? Es scheint, als ob diese Verweigerung besonders in der Kunstwelt, jenem sozialen Universum, aus dem ich komme und in dem auch Texte zur Kunst situiert ist, eine Option wäre. Ich kenne viele Künstler/innen und Theoretiker/innen, die sich ganz bewusst dafür entscheiden, ihre Umgebung nicht instrumentalisierend „durchzunetzwerken“, nicht an ihrer Marke oder ihrer Performanz des Selbst zu feilen, sich nicht in den sozialen Netzwerken zu promoten. Eine solche Verweigerung scheint durchaus eine Option zu sein.

Brown: Absolut. Sie ist in der Tat möglich. Sie hat sogar Applaus verdient, gerade weil sie so schwierig zu verwirklichen ist. Ich bin mir in meinem Alltagsleben vieler Künstler/innen, Intellektueller, Forscher/innen und Lehrenden bewusst, die – obwohl sie sich als mehr oder weniger links und in gewisser Weise in Opposition zu einer neoliberalisierten und finanzialisierten Welt verstehen – dennoch im Geist dieser Welten gefangen sind. Da geht es nicht nur ums Netzwerken in der eigenen unmittelbaren Umgebung; das betrifft die Eigenwerbung auf der persönlichen Website, das andauernde Posten über die eigenen Erfolge auf Facebook, über die eigenen Erfahrungen auf Twitter, das Leben für die Anzahl an Zitaten, Erwähnungen, Zugriffen und Retweets, die man erhält. Es ist sehr schwierig, sich zugleich der von Ihnen beschriebenen Verweigerungshaltung zu verschreiben und dabei wirtschaftlich zu prosperieren, unmöglich ist es deswegen aber nicht. Was wir hier beschreiben, verfügt über eine lange und schöne Geschichte, es ist der Widerstand gegen die Normen des Regiertwerdens. Mit Teilen dieser Geschichte identifiziere ich mich durchaus! Ich selbst beteilige mich überhaupt nicht an sozialen Medien: kein Facebook, kein Twitter, ich weiß noch nicht mal, wie man diese Sachen benutzt.

Graw: Aber wir skypen doch gerade! [lacht]

Brown: Skypen ist ein bisschen anders; es ist eine Kommunikationstechnologie. Und ich behaupte keineswegs, dass ich rein wäre; den Sorgen um die Ratings und Rankings eines finanzialisierten Zeitalters entgeht keiner. Ich bewundere diesen Widerstand jedoch, denn er markiert oft genug die Stelle im eigenen Kunstmachen, Performen oder Denken, an der sich Kreativität bildet.

Jeff Koons und sein Art Car, Paris, 2010

Graw: Apropos Kreativität: Den modernen „kreativen“ Künstler kann man einerseits mit Ulrich Bröckling als einen Prototyp des schöpferischen „unternehmerischen Selbst“ betrachten, und das haben Sie auch zu Beginn unseres Gesprächs erwähnt. Künstler wie Rubens, Rembrandt oder später auch Figuren wie Warhol oder Koons legen bei der Organisation ihres Werks tatsächlich unternehmerische Qualitäten an den Tag. Andererseits wird von Künstlern und Künstlerinnen geradezu erwartet, dass sie sich auf ökonomisch nicht sinnvolle Weise verhalten. Und wahr ist auch, dass sich ihr Werk nicht auf ökonomische Kriterien verkürzen lässt. Tatsächlich erwartet man von ihnen mitunter, dass sie exzentrisch sind und eben nicht rational oder wirtschaftlich produktiv. Ich habe mir also die Frage gestellt, ob diese andere, nicht ökonomische Dimension des Künstler-/innensubjekts – seine Verweigerung einer ökonomischen Ratio – nicht lediglich zur erfolgreichen Vermarktung des künstlerischen Produkts beiträgt. Ist das nur Wasser auf die Mühlen des Neoliberalismus, weil das Produkt des Künstlers/der Künstlerin durch dieses widerständige Moment glaubwürdiger erscheint? Oder stellt das nicht ökonomische Verhalten des Künstlers die ganze Vorstellung von einer totalisierenden neoliberalen Neuauflage des homo oeconomicus infrage, weil es exemplarisch dafür steht, dass wir eben doch nicht überall und ausschließlich homo oeconomicus sind?

Brown: Natürlich haben Künstlerinnen und Künstler immer schon Auftraggeber oder Mäzene gebraucht. Aber darüber hinaus waren sie, wie Sie sagten, auch oft an der Produktion ihrer eigenen – Sie nannten es „Marke“, sagen wir, ihrer eigenen – „Signatur“ beteiligt.

Graw: Ja, an ihrem signature style.

Brown: Künstler/innen haben also nie außerhalb der ökonomischen Ordnung gestanden, selbst wenn man, wie Sie anmerken, noch immer von ihnen erwartet, dass sie sich auf eine Tätigkeit einlassen, die nicht unbedingt sofort zu ihrem Profit oder zur Steigerung des eigenen Marktwerts beiträgt. Und doch bin ich sicher, dass es auf dem gesamten Planeten keine/n Künstler/in gibt, der/die sich nicht mit der Frage beschäftigt, wie er/sie Investoren anziehen kann – und zwar nicht nur Investoren im buchstäblichen Sinne, sondern jene, die in die Idee des Werks investieren, die eventuell Werbung für es machen, über es bloggen, ihren Namen mit ihm verknüpfen – all diejenigen, die investieren, weil sie sich vorstellen, dass sich der Wert der Kunst oder des Künstlers/der Künstlerin in der Zukunft und damit auch der Wert des Investors steigern werden. Heute befinden sich Künstler/innen in keiner größeren Distanz zur herrschenden Ökonomie, als sie es zu Zeiten höfischer Auftraggeber-Ökonomien waren. Doch gibt es wahrscheinlich einige wichtige Kontinuitäten festzustellen in der Erwartung, Kunst sei irgendwie von dieser ökonomischen Ordnung getrennt zu sehen, und auch in der – wie die frühe Frankfurter Schule annahm – weitverbreiteten Vorstellung, Kunst stehe im Konflikt mit dem Markt, kritisiere ihn gar. Sicherlich mögen unerhört erfolgreiche Künstler/innen mitunter genau diejenigen sein, die sich in vernichtender Kritik an dieser Welt und dieser Ordnung üben, und das bedeutet nicht unbedingt, dass sie damit ein Absinken ihres Marktwerts zu befürchten hätten; es mag das Gegenteil bedeuten. In unterschiedlichen Formen von Politik, Kultur und ökonomischem Verhalten lassen sich immer auch Kontinuitäten nachvollziehen. Die Aufgabe derjenigen, die unsere Zeit begreifen wollen, besteht darin, sich sowohl dem dauerhaft Gegebenen zu widmen als auch dem, was sich abhebt oder neuartig ist. Zu sagen: „Sieht irgendwie genauso aus wie das Mäzenatentum alter Zeiten, als man sich diesem König oder jenem wohlhabenden Höfling andienen musste, um weiter Renoir oder Mozart sein zu können“ – das reicht nicht.

Graw: Ja, man mag Künstler wie Dürer oder Rembrandt als Wegbereiter des Self-Branding betrachten, dann allerdings muss man auch ihre Werke historisch situieren und ihre historischen Entstehungsbedingungen von der gegenwärtigen Situation abheben, in der viele Künstler/innen inzwischen in einer digitalen Ökonomie tätig sind, die ein gewisses Maß an Branding der eigenen Person und ihres Produkts erforderlich macht. Wenn man allerdings noch genauer hinschaut, stellt man fest, dass es derzeit auch zahlreiche Künstler/innen gibt, die sich ganz und gar nicht darum bemühen, „attraktiv für Investoren“ zu sein, wie Sie vielleicht sagen würden, jedoch genau dadurch attraktiv sind. Es gibt also beides: die einen, die aktives Branding betreiben, und die anderen, die sich diesem Selbstverständnis als homo oeconomicus verweigern und doch gerade aus diesem Grund als bedeutungsvoll angesehen werden. Aber um einen Moment lang umzuschalten: Ich möchte mit Ihnen auch über die derzeitige politische Situation sprechen, insbesondere über die in Europa. Da stellt sich nämlich die Frage, ob diese neu entstehende Variante des homo oeconomicus immer noch, wie Sie in Ihrem Buch sagen, als ein universelles Phänomen zu betrachten ist, etwa angesichts von Brexit, der der Wirtschaft des Vereinigten Königreichs eindeutig schadet, eine Gefahr für das Wachstum bedeutet – viele Studien haben ja gezeigt, dass er ökonomisch eher schädlich ist. Und dennoch drängte die Regierung darauf. Wo finden wir hier, in dieser verrückten oder besser destruktiven Verhaltensweise, den homo oeconomicus? So irrational das Verhalten der britischen Regierung auch erscheinen mag, geht es ihr auch um die Wiedergewinnung ihrer Legitimität in der Bevölkerung. Indem sie sich nämlich zum Resonanzboden von rassistischen Fantasien wie der macht, dass polnische Arbeiter/innen den Briten die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Wirtschaftlich ist der Brexit dennoch kontraproduktiv, er ist schlecht für den Neoliberalismus, und das macht ihn so rätselhaft.

Kress Events Center, University of Wisconsin-Green Bay

Brown: Eine wichtige Erkenntnis über Neoliberalismus und Finanzialisierung ist, dass sie eine ganze Reihe von Dingen hervorbringen, die „wirtschaftlich keinen Sinn ergeben“. Und Sie haben hier schon einige politische Reaktionen beschrieben – es ließen sich weitere sowohl aufseiten der Rechten als auch der Linken ergänzen –, die aus dem Mandat zur Kapitalvergrößerung hervorgehen, ob es sich nun um Humankapital, institutionelles Kapital oder korporiertes oder Finanzkapital handelt, die dennoch wirtschaftlich keinen Sinn ergeben. Lassen Sie mich hier noch ein sehr lokales Beispiel anführen: Im Zuge der fortschreitenden Privatisierung unserer staatlichen Universitäten, die sich nun vor allem durch Studiengebühren und Spenden finanzieren, hat sich der sportliche Wettbewerb zwischen den Universitäten exponenziell ausgebreitet. Und das liegt nicht daran, dass diese Programme der jeweiligen Schule Einkünfte brächten; vielmehr sind in Wirklichkeit ihretwegen die meisten Universitäten, die diese unglaublich kostspieligen Mannschaften unterhalten, mit zig Millionen Dollar verschuldet. Zur exponenziellen Verbreitung des universitätsübergreifenden Sports ist es nicht gekommen, weil die Geldgeber mit nennenswerter Wahrscheinlichkeit andere Teilbereiche der Institution, über diese Mannschaften hinaus, hätten finanzieren wollen. Sie haben sich ausgebreitet, weil die Anhänger einer bestimmten Mannschaft als potenzielle Quellen der Wertsteigerung gelten, und es wird angstvoll vermieden, sich davon abzuwenden, einfach zu sagen: „Nein, wir sind eine Universität, wir sollten nicht damit beschäftigt sein, eine Sportindustrie zu unterhalten, wir sollten vor allem Studierende ausbilden und Forschung betreiben.“ Das zu sagen ist nicht möglich – auch wenn es durchaus wirtschaftlich sinnvoll wäre und helfen würde, die Budgets der Universitäten auszugleichen. Der Unternehmenswert, der shareholder value, sowie die Rankings und Ratings, die ihn ermitteln, legen den Akzent auf übergroße Sportmannschaften und -anlagen, teure Unterbringung und Vergünstigungen für Studierende – auch wenn all das wirtschaftlich keinen Sinn ergibt. Etwas allgemeiner möchte ich hier anmerken, dass die Haltung, die wir hier an den Tag legen, sich bereits bei Marx findet: dass der Kapitalismus zu Entscheidungen drängt, die ökonomisch, im Sinne der „Nachhaltigkeit“ oder der Erhaltung einer Zukunft für eine bestimmte Industrie oder den Kapitalismus insgesamt, keinen Sinn ergeben.

Graw: Meinen Sie hier die destruktiven Tendenzen des Kapitalismus, wie Marx sie beschrieben hat?

Brown: Man muss Marx aktualisieren, wenn man die spezifischen selbstzerstörerischen Tendenzen des Neoliberalismus und der Finanzialisierung begreifen will. Marxistische Terminologie greift hier nicht. Selbst Altmarxisten wie Claus Offe und Wolfgang Streeck arbeiten, wenn sie ein „Europa in der Falle“ diskutieren, die neuartigen Widersprüche und Gefahren der heute gegebenen Herrschaft des Finanzkapitals über die EU heraus. Ein weiteres Beispiel: die Sparpolitik, die den verschuldeten Ländern des Südens auferlegt wird. Es ist allgemein bekannt, dass die Sparpolitik den betroffenen Nationen keineswegs dabei hilft, wieder Fuß zu fassen, geschweige denn, ihre Bürger/innen zu versorgen. Sparpolitik zerstört die Dynamik der kapitalistischen Ökonomien auf so viele verschiedene Weisen. Aus einer Mainstream-Perspektive gesehen, ist das eine verheerende Politik, die die Länder, denen sie verordnet wird, sogar in einen noch tieferen Abgrund aus Schulden und wirtschaftlicher Stagnation stürzt. Warum werden Sparpolitiken gefordert? Weil sie der wichtigsten Forderung der Kreditgeber entsprechen, nämlich dass ihnen die Schulden zurückgezahlt werden, dass sie die Zinsen für die gewährten Schulden bekommen. Sparpolitik ergibt wirtschaftlich keinen Sinn. Aber sie ist der Regelfall. Und nun zum Brexit und zu den nationalistischen, oft fremdenfeindlichen, populistischen Tendenzen …

Graw: … überall. Einschließlich Deutschland, Österreich, Frankreich, Amerika …

Brown: … ja, nicht zuletzt auch in den Vereinigten Staaten. Was also ist geschehen? Diese populistischen Bewegungen sind nicht demokratisch, das heißt, es geht ihnen nicht um universelle Freiheit, Gleichheit, Inklusion. Sie sind nicht einmal an den grundlegendsten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit besonders interessiert. Sie bringen, wie Sie sagen, fremdenfeindliche Wut zum Ausdruck, die oft vonseiten der Eliten mobilisiert wurde, mit der das eigene Gefühl wirtschaftlicher Entwurzelung und politischer Machtlosigkeit auf ein dunkles Anderes, innerhalb und außerhalb der Nation, projiziert wird. Das ist jetzt sehr verkürzt, aber ich lasse es im Sinne des größeren Themas, um das es mir hier geht, einmal so stehen. Was man also überall sieht, ist ein verstärktes Auftreten von Menschen, die sich radikal, sowohl politisch als auch ökonomisch, entrechtet fühlen, in Ordnungen, die für und durch die Finanzwelt und nicht für und durch die Menschen regieren. Das Resultat ist antidemokratische, populistische Empörung in der Rechten und der Linken: Es ist antidemokratisch, weil es dem Neoliberalismus so großartig gelungen ist, die Demokratie zu zerstören und in Verruf zu bringen – sie zu delegitimieren. Sicher, mancher linke Populismus ist an sich demokratisch. Doch vieles davon, etwa die neoanarchistische Version, wünscht sich Politik, Staaten, Demokratie zur Hölle; das soll alles zur Hölle fahren, wir kommen ohne das ganze Zeug aus. Das ist eine Auswirkung neoliberaler Politik und der neoliberalen Zerstörung demokratischer Grundprinzipien der Regierung der Menschen durch sich selbst, der Volkssouveränität. Das ist keine Eruption, die irgendwo als Randerscheinung der Neoliberalisierung der EU auftaucht, sondern deren direkte Auswirkung.

Graw: In Ihrem Buch beziehen Sie sich auf Rousseau und seine Prophezeiung, nach der die extreme Ungleichheit zwischen Reich und Arm – ein Zustand, in dem wir uns gerade befinden – Ressentiments und das Zurücklassen gemeinsamer Werte wie etwa dem der Demokratie zur Folge haben werden. Könnte man in diesem Sinne sagen, dass der Brexit und der Rückfall in Nationalismus und Rassismus, der in vielen Ländern Europas zu beobachten ist – diese Korrelation zwischen neoliberaler Sparpolitik und populistisch-rassistischer Empörung –, in gewissem Maße Rousseau nachträglich Recht gibt?

Commerzbank Tower, Frankfurt/M.

Brown: Ja, und dann muss man es aber noch weiter ausführen und Faktoren hinzufügen, die sich Rousseau nie hätte vorstellen können, die über einfache gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungleichheit hinausgehen: die zunehmende Beherrschung unserer Leben durch Kräfte, die niemandes Kontrolle mehr zu unterliegen scheinen, die uns aber dennoch die Bedingungen unserer Existenz diktieren. Das Finanzwesen gehört sicherlich dazu.

Graw: Wenn Sie davon sprechen, wie das Subjekt sich in dieser neoliberalen Ökonomie in Humankapital verwandelt, erklären Sie sehr einleuchtend, in welchem Maße es sich nicht mehr als Inhaber von Rechten verstehen kann. Ich frage mich dennoch, was es von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet bedeutet, wenn man ein derartiges Gewicht auf den Begriff des Humankapitals legt. Denn worauf das hinausläuft, und auch das haben Sie in Ihrem Buch erwähnt, ist doch ein Verdrängen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihre Grundlagen noch immer in der Dynamik von Arbeitskraft und Kapital hat – einer Dynamik, die für Marx ausschlaggebend war, liefert sie doch eine Erklärung der kapitalistischen und, zumindest meiner Auffassung nach, auch neoliberalen Ausbeutung. Sobald man jedoch mit dem Begriff des „Humankapitals“ arbeitet, verschwindet dahinter diese gesellschaftliche Wirklichkeit von Klasse, Arbeit und Wert. Gibt es einen bestimmten Grund, warum dem Begriff „Wert“ in ihrem Buch keine zentrale Bedeutung zukommt?

Brown: Lassen Sie mich vielleicht gleich auf das eingehen, was mir der Kern ihrer Frage zu sein scheint: Liefert Marx’ Lehre von Arbeit und Wert noch eine tragfähige Erklärungsgrundlage für die Funktionsweise des Kapitalismus? Dafür, wie sich die Akkumulation des Kapitals vollzieht, was das Verhältnis von Arbeit und Wert bestimmt und welche entscheidende Rolle dabei Ausbeutung spielt? Meine Antwort lautet: ja – und nein. Ja, natürlich gibt es in der Tat viele Orte auf der Welt, an denen die von uns genutzten Waren (Kleidung, Nahrung, iPhones, Maschinen) produziert werden, alle die Dinge des Lebens, die dem Kapital über ausbeuterische Arbeitsverhältnisse den Profit liefern. Abgesehen davon bildet die sogenannte Realökonomie, die eigentlich „produktive Ökonomie“, wie Sie wissen, einen schrumpfenden Teilbereich innerhalb der gesamten heutigen Wachstums- und Wohlstandsproduktion. Stattdessen haben wir es mit einem Finanzsektor zu tun, der – und darauf möchte ich bestehen – nicht nur selbst ein Ort der Wertschöpfung ist, sondern in zunehmendem Maße sogar das Produktivkapital in seinen Orbit gezogen hat. Eine Trennung gibt es nicht mehr; jede/r muss in ständig steigendem Maße finanzialisiert agieren. Ein Beispiel: Die Autohersteller in den Vereinigten Staaten beziehen mehr Einkommen aus Autokrediten als aus Autoverkäufen. Sie sind weit stärker in die Finanzierungsdimension der Industrie eingebunden als in Produktion und Verkauf. Wo steht da jetzt die Theorie von Arbeit und Wert? Ist die Finanzialisierung selbst etwas, das durch die Ausbeutung von Arbeit Wert erzeugt? Meine Antwort darauf lautet: nein. Hier müssen wir uns einem anderen Wertverständnis zuwenden, und ich glaube, Marx kann uns hier nicht helfen. Darüber führen wir in der Welt akademischer kritischer Theorien zu Neoliberalismus und Finanzwesen gerade heftige Debatten: hier diejenigen, die meinen, dass Marx Recht gehabt hat, dass man bei ihm darüber hinaus auch eine Theorie des Finanzkapitals findet und dass vor allem seine Arbeitswert-Theorie noch Gültigkeit besitzt; dort diejenigen, die wie ich glauben, dass durchaus einige Teile der Welt noch immer so laufen, dass aber die Finanzialisierung so viel verändert hat, dass wir neue Werttheorien erarbeiten müssen, die Phänomenen wie dem shareholder value gerecht werden können oder der Rückkehr zur Rentenextraktion.

Graw: Hier stünde ich auf der Seite der Marxisten, denn Marx hat ja gezeigt, dass auch die sogenannte unproduktive Arbeit – also das, was wir in der Finanzwelt finden – noch an Ausbeutung und die Produktion von Mehrwert geknüpft ist, weil sie nämlich Kosten reduzieren hilft. Mit Marx im Hinterkopf lässt sich tatsächlich untersuchen, wie es kommt, dass die erweiterte Sphäre der Zirkulation, die Sphäre des Finanzkapitals, nicht in absolutem Gegensatz zur Sphäre der Produktion steht – sie überschneiden sich, und Marx hat entsprechend keine klare Grenzlinie zwischen ihnen gezogen.

Brown: Ich glaube nicht, dass Marx einem verständlicher machen kann, warum Uber unterhalb einer Profitmarge und tatsächlich tief in den roten Zahlen hängend auf einen Unternehmenswert von 65 Milliarden Dollar geschätzt wird. Warum steigert sich der Wert des Unternehmens sogar noch, wenn es hohe Geldeinbußen hat und ihm die Investoren ausgehen? Man könnte auch fragen, was es bedeutet, als Individuum in der Lage zu sein, seinen Wert oder den Wert jedweder Dimension des eigenen Portfolios zu steigern, ob nun in monetarisierter Form oder nicht, jenseits der Arbeitsfrage. Marx ist sicher für das Verständnis vieler Eigenschaften und Wesenszüge des Kapitals unverzichtbar. Doch können wir das Kapital nicht mehr schlicht als Produktionsweise denken, als eine weite Welt der durch Ausbeutung von Arbeitskraft produzierten Waren. Um die Welt zu verstehen, in der wir uns heute zurechtzufinden haben, die uns heute regiert, antreibt, wahnsinnig macht, brauchen wir Marx – aber wir brauchen auch noch weit mehr als nur Marx. Wissen Sie, wer dieser Aussage als Erster zustimmen würde, wäre er noch am Leben? Marx.

Übersetzung: Clemens Krümmel

Anmerkung

[1]Blick aus Melania und Donald Trumps Penthouse