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Vorwort

Individualität ist eine durch und durch moderne Problematik: Ein Subjekt, charakterisiert durch seine Einzigartigkeit, deutlich von der Gesellschaft abgehoben, die es umgibt. Im Kunstmarkt wie in anderen Kapitalströmen wurde das „Individuum“ oft als Ausnahmesubjekt gezeichnet, als „Influencer“, der Wert- und Machtflüssen Zusammenhang verleihen und sie womöglich steuern kann. Zugleich konnte das „Individuum“ auch als die Warenform des Ich verstanden werden, als im Innersten durch seinen Konsum bestimmt. Wie unser Titelbild andeutet, hat diese Figur etwas zutiefst Tragisches: ein Ich, das allem Anschein von Autonomie zum Trotz noch immer einem Programm des In-der-Welt-Seins unterworfen ist, ja von ihm konstituiert wird, dem es genauso wenig entkommen kann wie sich selbst.

Wir begegnen ständig Subjekten, denen, wie der deutsche Soziologe Ulrich Bröckling in diesem Heft darlegt, beigebracht wurde, Erfüllung in Leis­tung zu suchen (gut in dem zu sein, was sie tun), die aber von einer Gesellschaft bewertet werden, in der es in erster Linie um Wettbewerb geht (gut darin zu sein, den Eindruck zu erwecken, man sei gut in dem, was man tut, ganz unabhängig von der Qualität des Geleisteten). So muss das Subjekt feststellen, dass seine Handlungsmacht, sein Anspruch auf persönliche Rechte, auf identitätsstiftende Arbeit, auf seinen eigenen Körper – all das, woran es seine Identität festmachen würde – jetzt reine Potenziale sind, die maximiert werden müssen, um Wert zu generieren. Man bedeutet ihm, sein Erfolg liege in seinen „eigenverantwortlichen“ Händen, während es tatsächlich immer stärker von den Handlungen anderer abhängt, von der Aktivität des Netzwerks und dessen programmierten Algorithmen, die persönlich kaum wirksam beeinflussbar sind.

Schon in den 1990ern richtete ein großer Teil Foucault-inspirierten Schreibens, von Deleuzes „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ bis hin zu Tiqquns „Theorie des Jungen-Mädchens“, den Blick auf ein damals immer deutlicher hervortretendes neoliberales Subjekt. Aus Konsumenten waren „User/Experiencer“ geworden, definiert durch die Kanäle, auf die sie Zugriff hatten und in denen sie zirkulierten. Seitdem sind die damit zusammenhängenden Subjektivierungskräfte – dezentrale Medien, vermehrt nutzergenerierte Inhalte, der Aufstieg der Aufmerksamkeitsökonomie – nur stärker geworden. Und mit ihnen die Vorherrschaft affektiver Ansprachen (über rationale Argumente), postfaktische Diskurse, das Hyperreale und die identitären Politiken. Verstehen wir das Individuum als Modus des Selbst, der sich entsprechend des aktuellen (kapitalistischen) Regimes formt, in dem es sich bewegt, wird diese Figur eine andere sein als noch vor 20 Jahren.

Die amerikanische Politologin Wendy Brown und Texte zur Kunst-Herausgeberin Isabelle Graw zeichnen die Herausbildung des Individuums an verschiedenen historischen Wendepunkten in einer Diskussion über die Grenzen des heutigen unternehmerischen Subjekts nach. In ihrem 2015 erschienenen Buch „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“ beschreibt Brown diese Figur als „vollständig finanzialisiertes Selbst“, als „homo oeconomicus in allen Lebensdimensionen“. Aber ist eine derart totalisierende Bestimmung angesichts der tief greifenden politischen Veränderungen des zu Ende gehenden Jahres noch überzeugend? Mit Blick auf die Wendung hin zu antidemokratischen und nationalistischen Programmen in verschiedenen europäischen Ländern und den USA fragt Graw Brown nach den Grenzen der neoliberalen Ordnung, den Auswirkungen auf den Status des Subjekts und danach, ob ihrer Ansicht nach das Verhältnis von Kapital und Arbeit Marx’scher Prägung noch Bestand hat.

Das Erstarken der Rechten macht Gesellschaftsanalysen umso schwieriger. Jedoch, wie Brown und Graw anmerken und Nina Power in ihrem Beitrag weiter ausführt, ist Vorsicht geboten: In der Komplexität der Gegenwart darf man sich nicht der Illusion eines klaren Wechsels von einem Regime zu einem anderen hingeben. Formen der Gouvernementalität überlappen sich immer. Und so, wie verschiedene Systeme koexistieren und einander durchdringen können, kann auch ein einziger Körper zugleich Hort diverser Ich-Formationen sein.

Kollektivität ist ein zentraler Begriff in Sven Lüttickens Beitrag, der die aktuelle Korrelation von Sprachübertragung und Individuierung in Bezug auf post-gutenbergsches Schreiben untersucht. Er analysiert den Aufstieg des „Pitch“ (vermittelt durch die allgegenwärtige Lecture-Performance) zum beherrschenden kulturellen Format sowie den Trend hin zum Lesen in Gruppen (die sich online oder in physischen Räumen versammeln). Dabei zeigt er auf, wie, mit Flusser gesprochen, die Zirkulation von Information heute auf die Geste angewiesen ist, so wie die sie darstellenden und verarbeitenden vergesellschafteten Körper.

Doch wie lässt sich das mit der Definition des Künstlers/der Künstlerin vereinbaren, der/die sich von der Gesellschaft separiert und sich doch in Beziehung zu ihr formieren kann? Der Kulturhistoriker Wolfgang Ruppert wirft einen Blick auf Beispiele künstlerisch-unternehmerischer Individuen verschiedener Jahrhunderte und zeigt, dass eine konstante Beziehung zur Gesellschaft zwar aufrechterhalten werden kann, sich diese jedoch in jedem Zeitalter einzigartig formiert. In diesem Zusammenhang ist Alex Israel ein interessanter Fall, denn er ist – mit seinen Arbeiten, aber auch durch gewandtes Zirkulieren als Künstler in den Kanälen der Kunstwelt (darunter jetzt auch Texte zur Kunst) – sehr schnell zu dem gelangt, was man Erfolg nennt. Um es mit Bröckling zu sagen: Israel ist nicht nur gut darin, zeitgenössische Kunst zu praktizieren und zu verhandeln, er ist auch gut darin, auf diese Geschicklichkeit aufmerksam zu machen. Wo aber ist in einer Praxis, in der das Künstlerindividuum und sein Produkt sich zu entsprechen scheinen, kritischer Abstand zu finden? Wir haben Alex Israel diese Frage gestellt.

Und schließlich richten wir den Blick auf die Mitte der Nullerjahre, als die gerade aufkommenden sozialen Medien und die Ausweitung behördlicher Überwachungsbefugnisse ein Schlaglicht auf die Grenzen von Identität und Autorschaft warfen. Viele Künstler/innen entdeckten ihrerseits diese Zone im Grenzbereich zwischen öffentlicher und privater Identität als Ort der Produktion und griffen dafür auf Alter Egos und Maskeradetechniken zurück. Wir stellen hier einige dieser Figuren vor, von JT Leroy bis Reena Spaulings: eine Geschichte der Gegen­historisierung durch Profile von Profilverweigerern. Gerade heute, wo die aufgeheizte politische Stimmung online genutzt wird, um hyperreale Aufmerksamkeit zu erregen, ohne sich um die Konsequenzen des Gesagten im „wahren Leben“ zu kümmern – gerade hier wird es wichtig zu bedenken, dass das „Individuum“ kein abgeschlossenes ist, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Kräfte, die auf verschiedene und widersprüchliche, aber sicher spürbare Weise auf das Selbst einwirken.

CAROLINE BUSTA/ ANKE DYES

Übersetzung: Gerrit Jackson, Hanna Magauer