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Vorwort

Wie konnte es so weit kommen? Wer die Augen offen hielt, ist wahrscheinlich #NotSurprised. Aber trotzdem – die Bandbreite und Größenordnung der #MeToo-Bewegung und der nicht abreißenden Reihe von Anschuldigungen, die sie losgetreten hat, sind erstaunlich, auch wenn diese Phänomene einem Medienzirkus anheimgefallen sind, der noch immer den Nachrichtenzyklus bestimmt: großer Wirbel, Anklagen, Gegenbeschuldigungen und am Ende Apathie (so weit sind wir noch nicht). Die These dieser Ausgabe von Texte zur Kunst ist, dass sich im Feld der Kunst Formen und Bedingungen erkennen lassen, die die Verbreitung von sexueller Belästigung und Machtmissbrauch, die derzeit deutlich wird, ermöglicht haben. Gerade hier, weil Kunst und die Institutionen, die sie tragen, einen zentralen Widerspruch verkörpern: Sie bilden einen Raum für die Kritik von Ideologien und sind doch selbst ein hochgradig ideologisches Unternehmen. Treibende Kraft dieses ideologischen Apparats der Kunstwelt ist das Erbe einer Kultur der Boheme, die (mindestens seit dem 18. Jahrhundert) zu Grenzüberschreitungen ermuntert, ja, nachdrücklich auffordert und die moderne Kunst als genau den Ort feiert, an dem Regeln als solche nicht gelten sollen. Aber wo verlaufen die Grenzen, wenn Gesetzlosigkeit einen Freiraum für Belästigung und Schikane entstehen lässt? Und ist ihr Verwischen der Grund, warum es so weit kommen konnte?

Eine der zentralen Fragen, die wir uns und unseren Autoren und Autorinnen stellten, war: Was können wir von der Kunst über Freiheit und den Wunsch und das Bedürfnis nach Grenzüberschreitung lernen, die Voraussetzung eben dieser Freiheit sind, die letztlich aber auch dieselbe Gesetzlosigkeit entstehen lassen, die Machtmiss­brauch begünstigt? Mit „Kunst ohne Regeln?“ wollen wir so aber nicht verschiedene Formen des Regelverstoßes in eins setzen. Vielmehr wollen wir in dieser Ausgabe einen Blick darauf werfen, wie in der Sphäre der kulturellen Produktion Missstände gang und gäbe sind, die mit der Rhetorik von Freiheit und Fair Play bemäntelt werden. Ein paar Einzeltäter zu überführen, weist noch keinen Weg aus dieser Situation.

Die #MeToo-Bekundungen, aus denen unser Diskurs dieser Tage zu bestehen scheint, sind dringend nötig und befreiend – und doch drohen sie, Kritik durch den Pranger zu ersetzen. Denn was sind die Konsequenzen, wenn die Täter zur Rede gestellt werden, und zwar nicht nur für die Opfer, die den Mut aufbringen (das bleibt unerlässlich – es gibt keinen anderen Weg), sondern für potenzielle Akte der Solidarität außerhalb der Welt sozialer Netzwerke? Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Katharina Hausladen unterzieht die Politik von Online-Aktivismus und Erfahrungsberichten in den sozialen Medien einer genauen Untersuchung und warnt vor dem Ersetzen einer kollektiven Stimme durch individualisierte Partizipation. Um nicht beim Einzelfall stehen zu bleiben, muss man die strukturellen Verknüpfungen zwischen der Ideologie der Kunstwelt und den praktischen Formen finden, in denen sie sich selbst regiert; muss in die systemische Ordnung eines Universums vordringen, in dem fortwährende sexuelle Belästigung als quasi natürlich hingenommen wird.

Um die Strukturen beschreiben und entschlüsseln zu können, die das Verwischen von Grenzen zwischen Freiheiten von Künstlern und Künstlerinnen, Kunstweltprotagonisten/-protagonistinnen und ihren Handlungen hervorbringen, haben wir verschiedene Experten und Expertinnen aus eben diesem Feld dazu befragt. Wir wollten wissen, ob bestimmte Begriffe, Strömungen, Modalitäten, Lehren aus der Kunstwelt, der wir alle angehören, als strukturelle Brücke hin zu einer Diagnose dienen können, wie es so weit kommen konnte, dass es scheinbar kein Machtverhältnis gibt, das nicht durch die Gewalt sexuellen Missbrauchs geprägt wäre. Indem wir einigen ganz zentralen Begriffen des Kunstdiskurses nachgehen – Freiheit, Transgression, Autonomie, Macht und anderen –, versuchen wir zu bestimmen, welche Sprache und welche Konzepte dem Autoritätsmissbrauch im Namen der Kunst zugrunde liegen.

Hatten wir uns vorgenommen, herauszufinden, wie es so weit kommen konnte, so drängt sich die nächste Frage auf: Wie geht es weiter? Die Diagnose eines Problems ist eine Sache; der Versuch einer Prognose, sofern eine solche überhaupt wünschenswert ist, ist etwas ganz anderes. Kritik und Arbeit an der Theorie verlangen, die Möglichkeit zu akzeptieren, gar zu begrüßen, dass alle Antworten vorläufig und vielleicht wenig hilfreich für praktische Maßnahmen mit nachhaltiger Wirkung sind. Für viele von uns hier bei Texte zur Kunst begann die Auseinandersetzung mit den Themen dieses Hefts in Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen, Freundinnen und Freunden: Menschen, denen wir vertrauen. Wir haben uns bemüht, dem Geist dieser Gespräche gerecht zu werden, indem wir die wichtigsten Texte so angeordnet haben, dass sich zwischen ihnen ein Dialog entfalten kann.

Die jüngsten Skandale haben erneut deutlich gemacht, dass Geschlechterhierarchien nichts von ihrer Macht verloren und den einen klare Vorteile vor den anderen verschafft haben und immer noch verschaffen. Dennoch kann das Bloßstellen individueller Vergehen nicht alles sein. Ein Beispiel für eine Form kritischer Reflexion, die weitergeht, ist Lucy McKenzies Bericht von der Brüchigkeit künstlerischer Handlungsmacht und der Politik der Aneignung. Andere sind der Beitrag des Kunsthistorikers und Kritikers Hal Foster zu einer Sprache, in der eine Erwiderung auf das derzeitige politische Regime in den Vereinigten Staaten formulierbar wird, und Josephine Prydes poetische Auseinandersetzung mit der schleichenden Frauenfeindlichkeit in linken Kreisen. Der Philosoph Christoph Menke unterzieht die Ansprüche, die aus der Freiheit der Kunst abgeleitet werden, einer eingehenden Prüfung, während eine lebhafte Diskussion zwischen der Künstlerin und Hochschullehrerin Coco Fusco und der Redaktion von Texte zur Kunst die Kultur des Missbrauchs in einem entscheidenden Stadium der künstlerischen Ausbildung in den Blick nimmt: der Kunsthochschule. Wo debattiert wird und Meinungsverschiedenheiten zugelassen werden, ist auch Raum für eine Analyse der verwickelten Lage, in der wir uns befinden. Innerhalb dieses Raums stellen unsere Autorinnen und Autoren unter Beweis, was kluge Reflexion angesichts dieser tiefgreifenden Entwicklungen leisten kann.

Anke Dyes / Isabelle Graw / Colin Lang

Übersetzung: Gerrit Jackson