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ZIVILISATORISCHE VERSTRICKUNGEN Rike Frank über Rossella Biscotti in der daadgalerie, Berlin

Rossella Biscotti, „The City“, 2019, Filmstill

Rossella Biscotti, „The City“, 2019, Filmstill

Den Anfang von The City bildet eine klassische archäologische Situation: Nummerntafeln in Nahaufnahme markieren auf sandigem Grund Fundstellen, Personen beugen sich über Grabungen. Aus dem Off erklingen das Schaben und Kratzen von Werkzeugen und Stimmen. Bevor der Austausch über die Fundstücke nachvollziehbar wird, übernimmt die Audioebene zunächst die Funktion, auf eine − wie die Englischakzente rückschließen lassen − internationale (Arbeits-)Gemeinschaft hinzuweisen. Das Gespräch verläuft von Erklärungen zur Abfolge der freigelegten Gebäude und der erstaunlichen Menge an Material über die Vermutung, dass die Häuser aufgrund einer Instabilität einstürzten und Dinge als Gabe zurückgelassen wurden, in Richtung einer These zur Sozialstruktur unter den Bewohner*innen selbst: „The notion of house society originally is about a community that shares an investment in a property“, erläutert die weibliche Stimme. „It’s not about biologically related people. If you think about it from the perspective of all the people who have an investment in the continuity and reproduction of the house, in this sense, that investment is the proof that you belong […] Your identity with that space is dependent on your investment, fundamentally of labor. So for me that particular datum is […] entirely predictable if what we talk about is the notion of a house society at its very essence which is collaborative work […]“

Çatalhöyük, der in der heutigen Türkei gelegene Ort der Ausgrabungen, ist eine der frühesten neolithischen Siedlungen, in der vor mittlerweile ca. 9000 Jahren Tausende von Menschen zusammenlebten. Sie markiert beispielhaft für die neolithische Gesellschaft jenen entscheidenden zivilisatorischen Wandel vom nomadischen zum sesshaften Leben. Zugleich ist sie Forschungsstätte eines von Ian Hodder geprägten reflexiven Ansatzes, der mit Konzepten der diachronen Verschränkung und Multitemporalität die akademische Disziplin der Archäologie geöffnet hat. Die Publikationstitel des Professors für Anthropologie an der Stanford University, der seit 1993 die Ausgrabungen in Çatalhöyük leitet, zeichnen mit Spatial analysis in archaeology (1976) über Reading the Past (1986) bis zu Entangled: An Archaeology of the Relationships between Humans and Things (2012) eine Genealogie von Debatten nach, die Parallelentwicklungen zu jenen in der zeitgenössischen Kunst und Kunstkritik aufweist.

„Rossella Biscotti: The City“, daadgalerie, Berlin, 2019, Ausstellungsansicht

„Rossella Biscotti: The City“, daadgalerie, Berlin, 2019, Ausstellungsansicht

Biscottis eigene Involvierung in die geschichtete Verfasstheit des Ortes entstand ursprünglich aus einem Besuch des Museum of Anatolian Civilizations in Ankara im Sommer 2013. Die Kuratorinnen Mari Spirito und Övül Durmusoğlu hatten die Künstlerin damals gemeinsam mit Akram Zaatari für das Rechercheprojekt Asar-ı Atika/ Ancient Works angesprochen, das aus einem von SAHA geförderten Open Call des ICI (Independent Curators International) hervorging und Alumnis aufrief, ein kuratorisches Projekt in der Türkei zu entwickeln. Da beide Kuratorinnen an dem ICI Curatorial Intensive am Instituto Inhotím in Minas Gerais in Brasilien teilgenommen hatten, dessen Fokus u. a. auf einem Umgang mit ortsspezifischen Projekten im Kontext erweiterter Museumskonzeptionen lag, sollte die Idee der Begegnung auch im Forschungsprozess fortgesetzt und thematisiert werden. Nach Gesprächen – u. a. auch mit der Museumsleitung – über die Herkunft der Objekte, deren Display und die darin eingebetteten Narrative entstand der Wunsch, die Herkunftsorte der Objekte, die Ausgrabungsstätten selbst, zu besuchen, wobei insbesondere Çayyolu Höyüğü und Phrygian City of Gordion (nahe Yassihöyük) aufgrund ihrer geografischen Nähe zu Ankara sowie die neolithische Siedlung Çatalhöyük in Betracht kamen. Für die Präsentation dieser ersten Recherchereise in drei Dialogen in Ankara, Istanbul und New York wählte Zaatari den Film The Night of Counting the Years (Ägypten, 1969) von Shadi Abdel Salam und Biscotti von Roberto Rossellini Journey to Italy (Italien, 1954).

Parallel kontaktierte Biscotti erstmals Ian Hodder, um den Prozess sukzessive weiterzuführen, bis sie 2015 für eine Saison von sechs Wochen als Mitglied des archäologischen Teams vor Ort sein konnte. Aus dieser Zeit stammen die ersten Aufnahmen, die den Anfang der 5-Kanal-Video-installation bilden. Sie waren ursprünglich als Notizen in Vorbereitung eines Dokumentarfilms über die Koexistenz der archäologischen und neolithischen Gemeinschaft gedacht, die diesen Ort wie eine Klammer umgeben, so wie auch über den Raum in ihr. Insofern ist die Auflistung aller Namen, die in einer Art vorgezogenem Abspann am Eingang der daadgalerie angebracht ist, mehr als eine Geste der Courtesy. Sie visualisiert die zu anfangs angesprochene internationale Gemeinschaft, die sich temporär – ähnlich ihrer neolithischen Vorgänger*innen – zusammenfindet und ihre Zugehörigkeit über den gemeinsamen Einsatz, die kollaborative Arbeit, um die Formulierung aus dem Zitat noch einmal aufzugreifen, definiert.

Anhand des Begriffs und der Figur der Gemeinschaft verschränkt Biscotti das Narrativ der Recherche, die Bedingungen der Produktion und die ästhetische Form, die sie der Videoinstallation verleiht. So definiert sich die Beziehung zwischen den fünf unterschiedlich großen Projektionen geradezu über die Frage, wie wir verbinden, wie wir zusammensetzen oder welche Zusammenhänge wir zwischen den Informationen herstellen: Wie korrelieren Material und Population, Körper und Infrastrukturen, Zahlen und Werkzeuge oder die Aufnahmen von Einzelpersonen und Gruppen?

Die Komplexität, die in den Verbindungs-prozessen, dem Formen von Annahmen und Theorien, liegt, hat die Künstlerin hierbei interessanterweise nicht in die Kameraarbeit oder Montage, sondern in die Audioebene der Arbeit verlagert: Dieser verräumlichte, topologische Sound greift sinnbildlich die Idee der digitalen Matrix auf, in die, wie in The City demonstriert, alle in der Grabungsstätte gefundenen Einzelteile im Zuge ihrer Registrierung und zum Zwecke der Off--Site-Verwendung überführt werden. Die Arbeit an der Matrix von Çatalhöyük ist visuell nur kurz ins Bild gesetzt und wohl ganz bewusst dem Blick eher entzogen, um instituierte Verknüpfungen von Archäologie und einem linear angelegten, rekonstruierenden Nachbau zu unterlaufen. Auf der Audioebene übersetzt dies Aspekte vom Ansatz Hodders, wie Diachronie, in eine künstlerische Praxis. In der Art, wie die Protagonist*innen aus dem Off beschreiben, was sie sehen und dabei imaginieren, was es sein könnte, welche Funktion es haben könnte, wie sie ihre Zweifel, ihr Erstaunen, ihr Wissen und Nichtwissen mit artikulieren − und dabei demonstrieren, wie eine Gemeinschaft der Ähnlichen dennoch sehr diverse Expertisen in sich trägt −, wird Hodders Theorie darüber plastisch, wie unsere Verstrickungen mit materiellen Dingen uns auf bestimmte evolutionäre und historische Pfade ziehen, aber auch die Bandbreite an Entscheidungen einschränken, die überhaupt getroffen werden können.

Etwa nach der Hälfte der insgesamt 45-minütigen Installation wechselt die Atmosphäre abrupt: Es setzt Stille ein, und auf zwei Projektionsflächen ist eine von Objekten und Menschen entleerte Ausgrabungsstätte zu sehen, während die anderen Kanäle schwarz bleiben. Biscotti war 2016 mit einem Kamerateam nach Çatalhöyük zurückgekehrt, als infolge des gescheiterten Militärputschs in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 in einer Krisensitzung die umgehende Schließung der Grabungsstelle bekanntgegeben wird, da die Sicherheit des Teams vor Ort nicht mehr gewährleistet werden konnte. Wie nach zwei Minuten aus dem Off vernehmbar wird, sollen innerhalb von einer Woche 75−80 Prozent des Teams Çatalhöyük verlassen haben. Die folgenden Instruktionen, wie dieser Prozess des Abzugs zu organisieren sei, verdeutlichen noch einmal die Dimensionen des Projekts, die Größe der internationalen Gemeinschaft und das Volumen an Material und Arbeitsschritten, aber auch die Konsequenzen für die individuellen Forschungsvorhaben, die nun, drei Jahre vor dem offiziellen Abschluss des Projekts, abrupt beendet werden müssen, um gemeinsam das Geborgene zu sichern, zu inventarisieren und vor Ort für eine mögliche zukünftige Fortsetzung zu verstauen. Wie bereits im ersten Teil verfolgt The City die Arbeitsabläufe, doch die Effekte des Rückzugsprozesses sind in der Reduktion der Gespräche auf Daten und codierte Zahlen-reihen oder in den Sandsäcken, die zum Schutze der Grabstellen aufgestellt werden, präsent. Die Künstlerin entschied, die Räumung des Ortes zu dokumentieren und bis zum Ende zu bleiben, bis die internationale Gemeinschaft und dann die türkischen Arbeiter*innen das Gebiet verlassen hatten. Die letzten Bilder zeigen Ausschnitte einer Landschaft, während ein Mann und eine Frau im Dialog über Sprechfunk versuchen eine spezifische Stelle in der Weite auszumachen: „Is it here? – Yes it is. – Or here?“

Zurückkommend auf die Idee, einen Dokumentarfilm zu produzieren, arbeitet Biscotti derzeit an einer neuen Version des Materials, einer 1-Kanal-Fassung, während parallel weiterhin die Projektseite von Çatalhöyük im Internet verfügbar ist, wo sich in der Untersektion „Research Portal“ jene Zahlenkombinationen finden lassen, die aus dem Off des Films in Erinnerung geblieben sind: „Area GDN has 12 Buildings identified so far.“

„Rossella Biscotti: The City“, daadgalerie, Berlin, 19. Januar bis 13. März 2019.