Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

6

VORWORT

Im Zentrum dieser Juni-Ausgabe von Texte zur Kunst steht die Auseinandersetzung mit dem Figurativen in der Kunst. Zweifellos gehören der menschliche Körper und die Figur zu den am häufigsten dargestellten Motiven in der Kunstgeschichte. Während figurative Kunst bereits im Zuge der historischen Avantgarden, spätestens aber mit Ende des Zweiten Weltkriegs an Relevanz verlor, entstand in den 1960er Jahren durch die sozialen Bewegungen sowie durch Happening, Fluxus und Performance Art geradezu ein Hype um den menschlichen Körper als Ausgangspunkt für künstlerische Erkundungen des Subjekts; man denke etwa an die Arbeiten dezidiert feministischer Künstlerinnen wie Barbara Hammer, Senga Nengudi, Yoko Ono, Adrian Piper und Yvonne Rainer, später auch von Barbara Kruger, Trinh T. Minh-ha, Carrie Mae Weems und anderen. In nichtmalerischen Medien wie Film und Fotografie galt die Figur nicht zuletzt wegen ihres Versprechens der Selbstermächtigung als geeignetere Form für performative Entwürfe gegenhegemonialer, da nicht in den Begehrensstrukturen patriarchal-rassistischer Klassengesellschaften aufgehender Rollenbilder. Obschon es Malerinnen wie Judy Chicago, Paula Rego, Betye Saar, Nancy Spero und Elaine Sturtevant gab, deren Arbeiten als Heterotopien alternativer Körperbilder gelesen werden können, stand die Malerei im Anschluss an männlich konnotierte Gesten der malerischen Performance, allen voran des Neoexpressionismus, im Verdacht, eine eher bürgerlich-konservative und daher für eine kulturelle Linke ungeeignete Kunstgattung zu sein. Zugleich wurde in der figurativen Malerei der 1980er Jahre die Idee eines souveränen Künstler*innenkörpers zu Grabe getragen – allein in Deutschland traf dies jedoch überwiegend auf die Arbeiten von männlichen Künstlern wie Werner Büttner, Martin Kippenberger und Albert Oehlen zu.

Mit was für einem schillernden Begriff wir es zu tun haben, wenn wir von „Figuration“ sprechen, da Figuratives Abstraktes enthält und Abstraktion Figuratives aufweist, beweist auch die kontextreflexive Kunst der 1990er und Nullerjahre, da hier postkonzeptionelle Überlegungen durchaus mit Blick auf den eigenen Körper angestellt wurden, wie allein die Arbeiten von Andrea Fraser zeigen. Sehen wir uns heute die Ausstellungsprogramme von Museen und Galerien an, ist ein regelrechter Boom des Figürlichen und figurativer Rhetoriken zu konstatieren. Dies mag unter anderem auf die allgegenwärtige Zirkulation inszenierter Subjektivitäten im digitalen Raum zurückzuführen sein, wie sie bereits in den 2010er Jahren im sogenannten Zombie Formalism anklang und aktuell die Arbeiten von Künstlerinnen wie Hanne Lippard, Lil Miquela, Lili Reynaud-Dewar und Anna Uddenberg prägt. Zum anderen gehören die Künstler*innen, die heute das Figürliche ins Spiel bringen, oft marginalisierten Bevölkerungsgruppen an, die sich in und durch Figuration jene Sichtbarkeit und Mitsprache verschaffen, die ihnen jahrhundertelang (auch und gerade in der Kunst) verwehrt wurden. So gibt es derzeit beispielsweise in den unterschiedlichen Künsten ein verstärktes Interesse an Schwarzer Figuration, was gewiss auch am Erfolg der Black-Lives-Matter-Proteste liegt. Ob Joy Labinjo, Tschabalala Self oder Lynette Yiadom-Boakye (Malerei), Kia LaBeija, Deana Lawson oder Lorna Simpson (Fotografie und Video), Amanda Gorman oder Raven Leilani (Literatur), Ayana Evans oder Okwui Okpokwasili (Performancekunst), Michaela Coel, Viola Davis oder Lupita Nyong’o (Film) – viele Künstler*innen, die auch schon vor BLM in ihrer Kunst dekoloniale Formen der Verkörperung verhandelten, finden seither eine noch größere institutionelle Beachtung. Auch durch das verstärkte Nachdenken über die identitätspolitische Dimension von Kunst kam die Frage auf, welche Beziehung die Figuration zur Repräsentation unterhält: Repräsentieren Figuren etwas oder jemanden, oder läuft die figurative Strategie darauf hinaus, dass sich die dargestellten Subjekte dem Zugriff der Betrachter*innen entziehen? Und inwieweit sind abstrakte künstlerische Verfahren in figurative Operationen eingelassen?

Das alte Phantasma eines absoluten Gegensatzes zwischen Figuration und Abstraktion, das dem linearen Denken des westlichen Verständnisses der Moderne geschuldet ist, diskutieren Bani Abidi, Silke Otto-Knapp und Anta Helena Recke in einer von Mahret Ifeoma Kupka moderierten Gesprächsrunde. Die Künstlerinnen reflektieren unterschiedliche Spielarten der Figuration, die sie in ihren jeweiligen künstlerischen Praktiken als Filmemacherin (Abidi), Malerin (Otto-Knapp) und Theaterregisseurin (Recke) anwenden. Dass bereits der abstrakte Expressionismus eine Art „Animismus“ aufwies, ein eigentümliches Verhältnis zur realen Dingwelt, zeigt Robert Slifkin in seinem kunsthistorischen Essay auf: An die Stelle eines körperhaften Bildes sei der physische Effekt einer visuellen Bilderfahrung getreten, der die kühle Abstraktion des Gemäldes an die körperliche Präsenz des Künstler*innensubjekts rückgebunden habe. Buchstäblich körperlich dagegen sind die Performances von Skip Arnold, Rafa Esparza, VALIE EXPORT, Paul Donald und Ana Mendieta, die allesamt, wie Amelia Jones in ihrem Beitrag darlegt, die Frage nach der politischen Valenz der betreffenden „Figur“ im Verhältnis zu ihrem „Grund“ (ob Umwelt, Ort, Raum oder Gemeinschaft) aufwerfen. Die gesellschaftliche Produktion der Star-Figur erörtert Ekkehard Knörer in seiner Analyse des Dokumentarfilms Framing Britney Spears als eines typischen Produkts einer Unterhaltungsindustrie, die den weiblichen Star, der Identifikationspotenzial, Agency, Kontrolle performen muss, erst hervorbringt.

Die ökonomische Dimension des Herstellens von Figuren in der und als Kunst ist ebenfalls Gegenstand eines Gesprächs zwischen Isabelle Graw und Kerry James Marshall, in dem die wertreflexive Dimension von Marshalls Malerei diskutiert wird: Zwar stellen einige seiner bekanntesten Bilder tatsächlich Personen dar, andere jedoch operieren derart rhetorisch mit Schrift, dass sie sich in der Art von Figuren direkt an die Betrachter*innen zu wenden scheinen. Das unmittelbare Angesprochen-Sein, die Sogwirkung, die von Figuren ausgeht, ist bestimmendes Moment auch in den Überlegungen Jutta Koethers über das Figurationsgeschehen in ihrer eigenen Malerei. Ähnlich persönlich und zugleich selbstdistanziert sind die Essays von Amy Sillman über das Werk von Elizabeth Murray, bei der sie in den 1970er Jahren Kunst studierte, sowie von Annette Weisser über die skulpturale Praxis von Alina Szapocznikow im Hinblick auf deren Verhältnis zum Tod. Die Geschichte von Zwangsarbeit, Tod und Enteignung, hier als wesentlicher Bestandteil des US-amerikanischen Gründungsmythos, ist schließlich Gegenstand des Aufsatzes von Beatriz E. Balanta, Rachel L. Price und Irene V. Small. Ihnen dient die Figur des George Washington, der bei seiner Antrittsrede eine die Zähne von Sklav*innen enthaltene Zahnprothese trug, als Grundlage für eine Rekonstruktion der kolonialen Geschichte US-Amerikas. Diese zeige sich heute, so die Autorinnen, in der Angstvorstellung, dass die repräsentative US-Demokratie weiße Rede nicht länger zulasten anderer Rede repräsentiere.

Dass Figuration so viel mehr und anderes bedeuten kann als das reine Auftauchen einer Figur, nämlich auch in einem umfassenderen Sinne als Gestaltwerdung von gesellschaftlichen Phänomenen verstanden werden kann, ist ein Gedanke, der alle Beiträge dieses Heftes verbindet. Demnach ist es auch eine wesentliche Aufgabe der Kunstkritik, ihrem Gegenstand begründend Gestalt zu geben.

Isabelle Graw, Katharina Hausladen, Jutta Koether und Genevieve Lipinsky de Orlov