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DER SOUND DER SCHWARZEN BILDER Christian Kravagna über „A Black Gaze: Artists Changing How We See“ von Tina M. Campt

Dawoud Bey, „The Birmingham Project“, 2012

Dawoud Bey, „The Birmingham Project“, 2012

Die Frage: Wer blickt? ist eine genuine Frage fotografischer und filmischer Bildproduktion. Nicht nur verweist sie auf den voyeuristischen Aspekt der Kinosituation, in der das Publikum sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Auch zielt sie darauf, wer das machtvolle Subjekt des Blickes ist, das sich gegenüber dem Objekt der Betrachtung in einer privilegierten Position befindet. Die Politizität des Blickes wurde bislang meist in ihrer geschlechtlich kodierten Form diskutiert. Ein Buch der Kultur- und Medienwissenschaftlerin Tina Campt zur Bildgeschichte Schwarzen Lebens schafft nun die Grundlage für ein Bilderlesen, das Schwarze Erfahrung auf der Subjektseite des Blickes positioniert. Damit eröffnet Campt neue Perspektiven auf Schwarze Sozialität, wie Christian Kravagna argumentiert.

In ihrem Buch A Black Gaze betrachtet Tina Campt künstlerische Bilder Schwarzen (Über-)Lebens in den USA mit einem Blick für deren haptische Dimensionen und visuelle Frequenzen. Einer der grausamsten Anschläge des weißen Terrors gegen die Bürgerrechtsbewegung in den amerikanischen Südstaaten kostete 1963 vier Schwarze Mädchen ihr Leben. Die Bilder der bombardierten Baptistenkirche in Birmingham, Alabama, haben sich in das kollektive Gedächtnis der rassistischen Gewaltgeschichte der USA eingeschrieben. 2012, als mit der Ermordung von Trayvon Martin in Sanford, Florida, wieder ein Kapitel der Geschichte anti-Schwarzer Gewalt geschrieben wurde, arbeitete der Fotograf Dawoud Bey an einer Neubetrachtung der Ereignisse von 1963. Für sein Birmingham Project porträtierte er Jugendliche der Stadt im Alter der damaligen Opfer und stellte sie Fotos von Frauen und Männern gegenüber, die zum Aufnahmezeitpunkt so alt waren, wie es die Ermordeten gewesen wären, hätten sie die Chance auf ein längeres Leben gehabt. Die Diptychen geben eine beeindruckende Antwort auf die Frage, wie sich ein Foto der Vergangenheit aus der Gefahr der Gegenwart heraus machen ließe.

Welche Bilder des Lebens der lokalen Community in jenen Septembertagen durch die historischen Bilder des Todes unsichtbar wurden, fragt Bey in dem Video 9.15.63 (2013). Langsam gleitet der Kamerablick über die Einrichtungsgegenstände von Räumen der Schwarzen Gemeinschaft – eines Schönheitssalons, eines Friseurladens, einer segregierten Schulklasse und eines segregierten Lunch Counter der 1960er Jahre. Die andere Seite des Splitscreens evoziert eine Autofahrt zum Ort des vorzeitigen Todes in der Schwarzen Kirche. Gerade weil er keine Menschen zeigt, öffnet dieser Blick Möglichkeiten des Fabulierens – Campt bezieht sich dabei auf Saidiya Hartman – über die soziale Funktion der Räume, über Momente des Zusammeneins, der Pflege und Verschönerung, des gemeinsamen Lernens und Lachens nur wenige Stunden vor dem Attentat.

Anhand des Birmingham Project artikuliert Tina M. Campt ihr Verständnis der zeitlichen Dimensionen des Black gaze; sie hebt die Langsamkeit solcher „still-moving-images“ und die gesteigerte Aufmerksamkeit für Details und Stimmungen hervor, die sie mit einer Ethik der Sorge verbunden sieht. Bei ihrer Verknüpfung von Verlangsamung und (Für-)Sorge nimmt Campt auch auf die Ereignisse des Frühjahrs 2020 Bezug, als der Corona-Lockdown die Lebensgeschwindigkeit drosselte und die in der Pandemie noch stärker geforderte Sorge füreinander nach der Ermordung von George Floyd die stärkste Protestbewegung seit vielen Jahren hervorbrachte. In sechs „Versen“ (aka Kapitel) und einer „Reprise“ bespricht Campt filmische, fotografische und performative Arbeiten aus den letzten zehn Jahren von Deana Lawson, Kahlil Joseph, Arthur Jafa, Madeleine Hunt-Ehrlich, Simone Leigh, Luke Willis Thompson, Okwui Okpokwasili, Dawoud Bey und Jenn Nkiru. An und mit ihnen entwickelt sie ihr Verfahren der Betrachtung (audio-)visueller Kunstwerke sowie das sprachliche Werkzeug zur Verbalisierung einer immer mehr als nur den Sehsinn umfassenden Körperlichkeit der Wahrnehmung Schwarzer Bilder.

Was zunächst überrascht und neugierig macht, ist der Titel des Buches, der mit blackness und gaze zwei Begriffe zusammenführt, die bisher meist verschiedenen Registern zugeordnet waren. In der visuellen Ordnung der kolonialen Moderne, von der Ära der Sklaverei über die Jim-Crow-Ära, als Lynchmorde häufig mit „respektlosem Schauen“ gegenüber Weißen begründet wurden, bis zu den rassistischen Stereotypen der Konsumkultur und Kulturindustrie ist die Schwarze Erfahrung nicht auf der Subjektseite des Blicks positioniert. Darauf haben Autorinnen wie ­Michelle Wallace das Problem des Visuellen in der afroamerikanischen Kultur und den Vorrang von Musik und Literatur zurückgeführt. [1] Leser*innen von A Black Gaze deren Begriffsverständnis an den blick- und filmtheoretischen Ansätzen von ­Jacques Lacan über Laura Mulvey bis Kaja ­Silverman geschult ist, müssen bei Campts Gebrauch des gaze erst einmal umdenken. Während diese psychoanalytisch-feministische Tradition gaze (in Unterscheidung zu look, glance oder eye) einem visuellen Regime der Macht zuordnet, verdeutlicht etwa die Ästhetik von Beys Arbeiten, dass Campt sich dieser Tradition nicht verpflichtet sieht. Darauf weist auch das Buchcover hin, das den halb verschatteten Kopf einer Schwarzen Person zeigt, deren fragender Blick mehr Verletzlichkeit ausdrückt als irgendetwas, das mit der Kontrolle oder Verdinglichung jenes Blickregimes zu assoziieren wäre, das der gaze üblicherweise bezeichnet. Das Bildmotiv stammt aus dem Video Crystal & Nick Siegfried (2017) von Arthur Jafa. Campt liest den vorsichtig tastenden Kamerablick auf Gesicht, Hals und Schulter der geschlechtlich nicht eindeutigen Person und ihre Berührung durch eine nicht weiter zuordenbare Hand als beispielhaft für die Intimität und Verwundbarkeit, aber auch Opazität (im Sinne Édouard Glissants), der zwischen Stand- und Bewegtbild angesiedelten „still-moving-images“. In diesem Schwarzen Blick sieht Campt eine Haptizität am Werk. Wenn sie wiederholt von der affektiven Arbeit spricht, die der haptische Schwarze Blick den Betrachter*innen abverlangt, so denkt sie damit an Formen des Kontakts und der Verbindung, die im prekären Schwarzen Leben unter dem langen Schatten der Sklaverei immer wieder herzustellen und mit viel Einsatz zu pflegen sind.

Campt spricht über Bilder nie allein in einer Sprache des Visuellen. Bereits in ihrem letzten Buch plädierte sie dafür, fotografischen Bildern zuzuhören, vor allem solchen, die oft als stumm verstanden werden wie etwa Identitätsfotos aus kolonialen und polizeilichen Kontexten. [2] Die Stille und der Sound der Bilder waren schon in diesem Zusammenhang ein Thema. Im Falle der von Herrschaftsinstanzen produzierten Fotografien bedeutet das Zuhören die Empfangsbereitschaft für Frequenzen, die von der Seite der Abgelichteten ausgehen und dem unterwerfenden kolonialen Blick einen Widerstand bieten. Wird dieser Ansatz des multisensorischen Bilderlesens wie im vorliegenden Buch auf Arbeiten von Schwarzen Künstler*innen übertragen, kann es nicht mehr um eine Praxis des gegen-intentionalen Hinhörens gehen. Jetzt sind es, wie der Untertitel sagt, die Künstler*innen, die unser Sehen verändern. Angesichts von Campts zentraler Referenz des Schwarzen Alltags bleibt immer bewusst, dass dieses Wir ein kompliziertes ist.

Arthur Jafas Love is the Message, the Message is Death (2016) verdeutlicht mit der Gegenüberstellung von Bildern anti-Schwarzer Gewalt, von Leid und Schmerz auf der einen Seite und Bildern der Freude, Virtuosität und Schönheit auf der anderen, warum die Haptizität des Schwarzen Lebens von Campt als aktive Form des Kampfes verstanden wird, als „the struggle to remain in relation to, contact or connection with another“ (103). LMMD illustriert diese Form der sozialen Arbeit nicht. Jafa sammelt, schneidet und mixt die existierenden Bilder von Zerstörung, Zusammenhalt und Widerstandskraft zu einer visuellen Intonation, die Campt als flow bezeichnet. Es geht dabei um eine fließende Bewegung, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem unaufhörlichen Rhythmus der Deformierung Schwarzer Körper und Gemeinschaften durch die rassistische Umwelt und der ebenso beharrlichen Weigerung, aufzugeben, hervorgeht. Im Zuge der Besprechung einiger Videos von Kahlil Joseph, unter anderem Fly Paper (2017), das Elemente aus Langston ­Hughes‘ und Roy DeCaravas Bild-Text-Porträt von Harlem aus den 1950er Jahren performativ in die Gegenwart transponiert, [3] führt Campt den Begriff der Black (counter)gravity ein. Mit ihm ist der flow als eine Form von Bewegung beschrieben, die der destruktiven Gravitationskraft der rassistischen Verhältnisse entgegenwirkt. Die überzeugendsten Arbeiten, die der Schwarze Blick hervorbringt, sind daher für Campt jene „that twin the joys of the Black quotidian with the pain of Black ­precarity“ (16). Auf diese Weise finden sie neue Möglichkeiten der Visualisierung des Schwarzen Kampfes und eröffnen neue Perspektiven auf Schwarze Sozialität.

Es ist nicht immer einfach, Campts Gedanken zur multisensorischen Wirkung der Bilder zu folgen und ihre zahlreichen Begriffsprägungen nachzuvollziehen, von denen hier nur einige erwähnt wurden. Allerdings fordert das von persönlichen Erinnerungen und Begegnungen mit Künstler*innen durchzogene Buch nicht unbedingt ein systematisches Lesen. Auch einzelne „Verse“ können Wege des Nachdenkens über die Sprachen der Bilder und ihrer Beschreibung eröffnen.

Tina M. Campt, A Black Gaze: Artists Changing How We See, Cambridge, Mass./London: MIT Press, 2021.

Christian Kravagna ist Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien. Jüngste Buchveröffentlichungen: Transmoderne: Eine Kunstgeschichte des Kontakts (b_books 2017) und (mit Cornelia Kogoj) Das amerikanische Museum: Sklaverei, Schwarze Geschichte und der Kampf um Gerechtigkeit in Museen der Südstaaten (Mandelbaum 2019). Im Frühjahr 2022 erscheint Transmodern: An Art History of Contact, 1920–60 bei Manchester University Press.

Image credit: Courtesy of MIT Press, Cambridge, Massachusetts

Anmerkungen

[1]Michelle Wallace, „Modernismus, Postmodernismus und das Problem des Visuellen in afroamerikanischen Kulturen“, in: Texte zur Kunst, 3, 1991, S. 59–75.
[2]Tina M. Campt, Listening to Images, Durham/London 2017.
[3]Roy DeCarava/Langston Hughes, The Sweet Flypaper of Life, New York 2018.