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TATJANA TURANSKYJ (1966–2021) Saskia Draxler

Tatjana Turanskyj

Tatjana Turanskyj

„Der Vorwurf mangelnder Professionalität wird interessanterweise immer dazu benutzt, um Menschen in ihrem Beruf zu verunsichern. […] Wenn man sich aufregt, ist man unprofessionell. Das verhindert aber auch viel. Für mich stehen aber Emotionen, Diskurs und Intellektualität nicht im Widerspruch zueinander.[1]

Tatjana Turanskyj lernte ich 1987 an der Universität Frankfurt am Main im Proseminar „Kreatives Filmen/Super 8“ kennen. Tatjana kam aus Oberhausen, sie hatte, was Autor*innenfilm anging, Ahnung. Sie war nicht in meiner Arbeitsgruppe, aber ich erinnere mich genau an das Bild, mit dem sie die Idee für einen Film beschrieben hat: eine Frau, verfolgt, in einem Parkhaus. Irgendwie gelang es ihr, ein hundertfach verwertetes Motiv so zu schildern, dass es irritierte. Später waren es gewagte, polarisierende und tableauartige Bilder, mit denen Tatjana die Arbeit an einem Film begann, oft noch vor dem ersten Exposé.

Die 1980er Jahre waren das Jahrzehnt unseres Coming of Age. In den 1980ern waren die mittelgroßen Provinzstädte, aus denen wir kamen, noch keine shrinking cities, es waren Orte, an denen man, wenn man aus ‚stabilen familiären Verhältnissen‘ stammte, von Überschreitungen träumte; Orte, an denen man sich mit sicherem Abstand politisieren konnte. Als wir unser Studium in Frankfurt begannen, waren wir von Wünschen gesteuert und nicht von Zielen, ein gewisses Maß an Unglück war also vorprogrammiert.

Theorie, Kunst, Theater, Film wurden von Männern bestimmt, und auch die emanzipierten und reflektierten und zarten unter ihnen hatten weit mehr Durchsetzungsglück als die emanzipiertesten und reflektiertesten und härtesten Frauen. Paradoxerweise konnten wir das als Ungerechtigkeit nur vage verinnerlichen, denn wir hatten seit dem Kindergarten gelernt, dass es eigentlich nicht so sein dürfte (und deshalb nicht so war), und waren somit schlecht vorbereitet auf die Geschlechterungleichheit, die bis heute jedes Frauenleben beeinflusst. Wir mussten sie also – paradoxerweise – erst noch einmal erfahren.

Im Winter 1987/88 legte ich ein Urlaubssemester ein und ging, einer Empfehlung von Diedrich Diederichsen in der Spex folgend, nach Spanien. Tatjana ging ans Theater zu Einar Schleef, einem Künstler, der radikal anders war und der sämtliche Vorstellungen von Männlichkeit widerlegte, die man im Westen kannte. Schleef hat nicht nur unablässig Frauenfiguren ergründet [2] oder an der „Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt“ nach dem Vorbild der antiken Tragödie gearbeitet: Schleef war eine Frau, wenn es darauf ankam, mit allen Höhen und Tiefen. Er verfügte über den Hang und die Fähigkeit, sich vollkommen zu identifizieren. Viele machte das nervös. Der kluge Heiner Müller ließ ihn am Berliner Ensemble zu, Frank Castorf an der Volksbühne schaffte das nicht. [3]

„Der Deutsche Kulturbetrieb hat ihn, den Freak – den Manndarsteller, den KÜNSTLER zugelassen, aber nie an der Macht teilhaben lassen. Das war den Männern des deutschen (sic!) deutschsprachigen Kulturbetriebs viel zu gefährlich […].“ [4]

Als ich Tatjana im Sommersemester 1989 im Blockseminar „Theorie des Films“ von Alexander Kluge und Gertrud Koch wiedertraf, sagte Kluge nach einem längeren Monolog zu Koch, als es um die Nacherzählung des Plots von Goethes Wahlverwandtschaften ging, gönnerhaft: „Mach du das doch mal, Gertrud, du kannst das doch so schön.“

Die Wende kam, und nachdem Tatjana ihr Studium mit einer Arbeit über Heiner Müller (mit Auszeichnung) abgeschlossen hatte, zog sie nach Berlin, wo plötzlich nicht mehr, so wie wir es in den Seminaren von Hans-Thies Lehmann anhand poststrukturalistischer Theorien diskutiert hatten, „Bildbeschreibung“ wichtig war, sondern der historische Materialismus von Der Bau. Für Wessis von der Uni war das ein Kulturschock. Die 1990er Jahre hatten begonnen und in der Kunst auch wieder eine Zeit der Kollektive. Viele, die aus dem Westen nach Berlin kamen, haben erst mal nicht mehr „Ich“ gesagt, das überließ man den Alphatieren aus Ost und West – und den Neoliberalen. Die Zeit schien wie zurückgespult, aber es war schwer zu sagen, auf welches historische Datum. Hatte die postmoderne Theoriedebatte hier nicht stattgefunden, oder war das schon der Reflex auf sie? Die 1990er in Berlin glichen einem großen Laboratorium ohne erkennbares gesellschaftliches Experiment.

Ich weiß nicht, ob es ihre Kompromisslosigkeit war oder einfach ein Job: Tatjana ging in die Werbung und landete beim Impresario der Werbeindustrie: Sebastian Turner/Scholz & Friends. Auch hier zeigte sich ihre kreative Kraft, in Bildern zu denken. So nahm sie es mit Turners konservativen Klischees der Ära Kohl („F.A.Z. Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“) auf. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr …“, zitierte sie, sich treu bleibend, Rilke für die Kampagne einer Bausparkasse. Es würde sich sicher lohnen, ihre Claims aus dieser Zeit einmal zu veröffentlichen, an Turner prallten sie naturgemäß regelmäßig ab.

Scholz & Friends war kein Kunstprojekt, sondern ein körperlicherer Grad von gesellschaftlicher Realität, der den vorherrschenden Machtverhältnissen in der Filmindustrie nicht unähnlich ist. Aus Notwehr und mit analytischem Blick kehrte Tatjana die Verhältnisse für sich um. Turner wurde Anschauungsobjekt für sie, und bei Scholz & Friends betrieb sie Feldforschung für ihr filmisches Werk und ihre politische Arbeit, die sie in den folgenden zwei Jahrzehnten konsequent vorangetrieben hat. „post-german, post-global, post-gender“ lautete der claim für unseren Raum für Diskurs und Performance im Wedding, die O.K. girl$ Gallery [5] , die wir im Jahr 2000 zusammen gründeten. Zur Eröffnung las der amerikanische Philosoph und Kulturwissenschaftler Steven Shaviro, dessen Buch Doom Patrols (1997) Tatjana wichtig war [6] , einen sehr persönlichen Text über den Krebstod seiner engen Freundin Kathy Acker. Wenig später traten Gonzales und Peaches bei uns auf. Peaches, die gerade erst von Kanada nach Berlin gezogen war, war in dieser Zeit eine ziemlich radikale Performerin und definitiv post-gender. Die O.K. girl$ Gallery existierte nur knapp ein Jahr, das wir aus eigener Kraft finanzierten. Das Angebot, danach den Pavillon der Volksbühne zu übernehmen, lehnten wir ab. Es galt als selbstverständlich, dass wir dort ohne Budget arbeiten sollten.

Schließlich folgte Tatjana zunehmend ihrer eigentlichen Berufung, der Filmarbeit. Mit am Leben und am Denken geschulter theoretischer Intuition und mit den Mitteln der „Performance“, die sie stets nicht nur als Methode, sondern auch als durchlässige Haltung gegenüber der Realität beschrieb, stellte sie strukturelle Gewalt, soziale Ungleichheit und die Bedingungen von Produktion ins Zentrum ihrer feministischen Perspektive. Dabei zielte sie besonders auf die immer wieder gegen jedes bessere Wissen sich einschleichenden Retraditionalisierungen von Geschlechterrollen. Sie war Mitbegründerin der Initiative Pro Quote Regie (später umbenannt in Pro Quote Film), weil ihr klar war, dass man die bestehenden Verhältnisse nicht durch Einsichten, sondern nur durch Politik ändern kann.

Für die Hauptrolle ihres Films Top Girl oder La Déformation Professionelle (2014), den zweiten Teil ihrer Trilogie Frauen und Arbeit, engagierte sie die Schauspielerin Julia Hummer. [7] Hummer spielt darin die Sexarbeiterin Helena, die ihren Freier mit Unterwerfungsspielen u. a. dazu bringt, den Boden ihres von ihm finanzierten Apartments zu putzen. Der Film führt die Erosion des mühsam verteidigten Narzissmus der Protagonistin vor, die sich am Ende rettet, indem sie selbst die patriarchal zugerichtete Macht ergreift und andere Frauen ausbeutet. Er kulminiert in einer „Jagd­szene“, einem von Helena arrangierten Rollenspiel, bei dem Männer gegen Bezahlung auf durch den Wald flüchtende nackte Frauen schießen dürfen. So stirbt die Fiktion des Films am Überleben seiner Hauptfigur. Mehrmals wollte Hummer während der Dreharbeiten hinschmeißen, wahrscheinlich weil die „Haltung der Performance“, die ohne strikte Regieanweisungen auskommt, ihr in dieser Rolle sehr viel abverlangte. Dies äußerte sich in heftigen Wutausbrüchen gegen Tatjana, die dadurch selbst an ihre Grenzen geriet. Es ist eine Pointe, dass sich dieser Konflikt um „Freiheit und Führung“ in die Figur der Helena auf mit darstellerischen Mitteln unerreichbare Weise übertragen hat. Top Girl oder La Déformation Professionelle ist ein künstlerisch einzigartiger Film. Es sind vor allem die Bilder, die dieses großartige Werk tragen, und ich stimme voll und ganz Christine Lang zu, die in ihrem Nachruf schrieb, Tatjana habe Filmszenen geschaffen, die für das kulturelle Gedächtnis taugen. [8]

2020 begann Tatjana ihre Professur für Film an der HfG Offenbach, wo sie – in der kurzen Zeit, die ihr noch blieb – alles daran setzte, ihren Student*innen das zukunftsgerichtete, feministische, intellektuelle und praktische Werkzeug an die Hand zu geben, das sie zum „Machen“ bringt. Das Kino von Papa und Mama sei endgültig vorbei und die Herausforderung bestehe darin, sich nun durch, wie sie es nannte „digitale Autor*innenschaft“, die Erzählräume der neuen, virtuellen Welten des Metaverse anzueignen: „Der Digitale Raum ist offen für ungesehene Erzählformen, fragmentarische und hybride Narrative.“ [9] Wie sich die Geschlechterverhältnisse im Metaverse ausbalancieren, ist alten und neuen Faktoren zugleich unterworfen. Ob Künstler*innen als Akteur*innen ihrer Zeit oder als deren Symptom erscheinen – so meinte Tatjana stets –, dazwischen seien die Übergänge fließend. [10]

Saskia Draxler ist Galeristin (Galerie Nagel Draxler, zusammen mit Christian Nagel) und lebt in Berlin. Sie studierte in Frankfurt/M. Germanistik, Philosophie und Theater-, Film- und Medienwissenschaften.

Image credit: Jan Ahlrichs

Anmerkungen

[1]Tatjana Turanskyjs Film Eine flexible Frau erzählt von einer arbeitslosen Architektin. Im Interview spricht die Regisseurin über das moderne Arbeiter*innenprekariat und über konservativen Feminismus; Carolin Ströbele, „Wer sich aufregt, ist unprofessionell“, in: ZEIT ONLINE, 18. Februar 2010.
[2]Sein großer Roman Gertrud (1983–2003) legt hiervon in beeindruckender Weise Zeugnis ab, genauso wie der wichtige Essayband Droge Faust Parzifal (1997).
[3]Schleef inszenierte von 1986 bis 1990 am Schauspiel Frankfurt am Main, von 1993 bis zum Tod von Heiner Müller, Ende 1995, am Berliner Ensemble.
[4]Auszug aus: IN THE WITCH KITCHEN, AGAIN! Ein spiritistisches Reenactment der „Hexenküche/Faust 1990“ von Tatjana Turanskyj im Rahmen der Hommage an Einar Schleef „Erinnern ist Arbeit“ im HAU2 am 12. Januar 2019; in voller Länge in: WHAT?! just another feminist blog von tatjana turanskyj. Siehe auch Tatjana Turanskyj: „Vom Eintauchen in radikal subjektive Welten“, in: Einar Schleef. Arbeitsbuch, Theater der Zeit, 2002.
[5]Der Name stammte von der OK GIRL$ Film Bar, einem übel ausbeuterischen Pornoschuppen, der dort vorher war und an dessen zugenagelten Fenstern noch das Logo zu erkennen war.
[6]Steven Shaviro, Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne, Mannheim 1997; engl. Originalausgabe: http://www.dhalgren.com/Doom/.
[7]Der Titel stammt von Angela McRobbies (mit der Tatjana befreundet war) gleichnamigem Buch Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes (2010). Die engl. Originalausgabe erschien unter dem Titel The Aftermath of Feminism: Gender, Culture and Social Change, Los Angeles/London 2009.
[8]https://forum.arsenal-berlin.de/forum-forum-expanded/news/der-feminismus-ist-tot-es-lebe-der-feminismus/?fbclid=IwAR2JKe6dtsZvRA7L5wrNUIPzz8VgBLJeng1hE6BZZNjgN0yAL879o7T_ynE.
[9]Veranstaltungsverzeichnis HfG Offenbach, Lehrgebiet Film, Prof. Tatjana Turanskyj, Sommersemester 2021.
[10]http://turanskyj-ahlrichs.com/performance/weitermachen/.