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VORWORT

Diese Juni-Ausgabe von Texte zur Kunst, deren Themenschwerpunkt erstmals in der 30-jährigen Geschichte des Magazins von drei Gastherausgeberinnen konzipiert wurde, widmet sich Politiken der Erinnerung und Formen ritualisierter Trauer in Kunst und Kultur. Für den deutschen Titel haben wir das Verb „trauern“ dem Substantiv „Trauer“ vorgezogen, da es uns nicht um die Analyse eines vermeintlich universellen Gefühls oder Allgemeinzustands geht, sondern um konkrete und vielfältige Praktiken im Umgang mit Verlust und Trauer als kontinuierlicher Herausforderung an die Gesellschaft. Wenn wir in diesem Heft die Politikfähigkeit von schmerzvollen und traumatischen Erfahrungen diskutieren, möchten wir vor allem auf die transformatorischen Kräfte des Trauerns aufmerksam machen, die sich in Gewaltverhältnissen bilden und die diese immanent überschreiten können. Fragen nach dem widerständigen Potenzial negativer Affektivität stellen sich uns dabei ebenso wie solche nach der Verunmöglichung und Wiederaneignung von Trauer im Zusammenhang mit historischen Formen von Gewalt.

Für Judith Butler – und auf Butler beziehen sich gleich mehrere Beiträge dieses Heftes – ist Trauer immer schon politisch, da sie durch normative Anerkennungsprozesse und Projektionen von Gemeinschaftlichkeit vermittelt und strukturiert wird. Sichtbar wird die Grenze zwischen denen, die öffentlich betrauert, und jenen, die als Unbetrauerbare von kollektiver Trauer ausgeschlossen werden. Gleichzeitig offenbart die Erfahrung von Verlust und Verletzbarkeit die fundamentale Relationalität des Subjekts, seine konstitutive Verwiesenheit auf andere und anderes. An Butler anknüpfend und zugleich über Butler hinausgehend, versucht das Heft eine Perspektive einzuschlagen, durch die sich in den „Zonen der Unbetrauerbarkeit“ Formen von Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit finden lassen: Wie erobern sich Personen, die als Unbetrauerbare gelten, ihre Betrauerbarkeit zurück? Vor diesem Hintergrund verhandelt das Heft Fragen des Verlusts und der Traumaverarbeitung im Kontext rassistischer und rechter Gewalt und beleuchtet Erinnerungskulturen im Film, in der Literatur sowie in der bildenden Kunst.

So entwickelt die Soziologin Çiğdem Inan in affekttheoretischer und rassismuskritischer Perspektive die theoretische Figur der „enteigneten Trauer“ und bezieht diese auf die lange Geschichte rassistisch motivierter Täter-Opfer-Umkehrungen in Deutschland. Der Beitrag diskutiert affektive und politische Dimensionen von Trauer und zielt auf eine Veränderung der Trauerarbeit, die nicht nur die Verleugnungsstrukturen von rassistischer und rechter Seite offenlegt, sondern auch einen Schauplatz widerständiger Affizierungsweisen gegen rassistische Immunisierung bildet. In ähnlicher Weise thematisiert auch die Schriftstellerin Cynthia Cruz den Ort der Unbetrauerbarkeit des Verlusts, in ihrem Fall: der Arbeiter*innenklasse. In einer Verbindung von Kapitalismuskritik und Psychoanalyse untersucht sie Melancholie als spezifische Form der Trauer einer Arbeiter*innenklasse, deren Existenz vom hegemonialen Diskurs verleugnet wird, und fragt nach Möglichkeiten der Emanzipation, die sich aus einer Position der nothingness heraus ergeben könnten.

Den Faden einer Entpathologisierung der Melancholie greift die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Elena Meilicke auf. Dafür nimmt sie die relativ neue psychiatrische Diagnose einer „anhaltenden Trauerstörung“ zum Anlass zu fragen, wie das Resilienzparadigma in Vorstellungen vom „richtigen“ Trauern Einzug gehalten hat. Ihr Beitrag formuliert eine Kritik resilienten Trauerns und plädiert stattdessen für ein radikales Offenhalten einer Arbeit an der Trauer als potenziell transformativen Prozess. Das Motto des Chicagoer Feel Tank „Depressed? It Might Be Political!“ nimmt wiederum die Künstlerin Eliana Otta ernst, indem sie biografische und politische Erzählungen depressiver Zustände entlang der Austeritätspolitik in Griechenland und der Gewalterfahrungen indigener Bevölkerungen im Kontext staatlicher Aufstandsbekämpfung gegen peruanische Guerillagruppen zwischen 1980 und 2000 kartografiert.

In ihrer Autobiografie The Light of the World schreibt Elizabeth Alexander über ihre Trauer angesichts des Todes ihres Partners. Eingebettet in Reflexionen über die Rolle von Kunst im Trauerprozess weist das Buch über den persönlichen Verlust hinaus und resoniert mit kollektiven Formen des Erinnerns und Betrauerns im Ausgang rassistischer Gewalt, wie die Autorin und Historikerin Edna Bonhomme in ihrer Neubetrachtung des 2015 erschienenen Memoirs darlegt. Derart verwehrt sich auch die Künstlerin und Autorin Njoki Ngumi in ihrer essayistischen Intervention gegen Erwartungen, wie sie in den Debatten um die Restitution afrikanischer Kulturgüter kursieren. Ohne die Trauer über den Verlust geraubter Objekte während des Kolonialismus zu leugnen, verschiebt Ngumi die Perspektive: Anstatt als Afrikanerin stets trauernde Bittstellerin zu sein, fordert sie eine Subjektposition ein, die die Prämissen einer Begegnung mit den Enteignern neu formiert.

Eine junge Generation von Aktivist*innen und Künstler*innen setzt die Arbeit der seit Jahrzehnten geführten Diskussionen um die Restitution geraubter Kulturgüter fort und stellt Forderungen, die zu unmittelbaren Veränderungen führen: Ngumi ist Mitglied des kenianischen Künstler*innenkollektivs The Nest, das maßgeblich an der diesjährigen Documenta beteiligt ist. Die 12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst wartet mit einem dekolonialen Konzept und einem Team mit unterschiedlichen biografischen und disziplinären Hintergründen auf. Restitution bedeutet längst nicht mehr nur Forderung von Rückgaben, sondern schließt Prozesse des Verhandelns und der Neubestimmung von Erinnerungskulturen mit ein. Was kann uns Trauer in diesem Kontext lehren? Wie kann man Formen des Gedenkens und Erinnerns, zumal künstlerische, so fassen, dass sie der Bewegung, dem Prozesshaften und womöglich auch dem Unabschließbaren, das Trauern innewohnt, Rechnung tragen? Das Roundtable-Gespräch, das die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Mahret Ifeoma Kupka mit den Künstler*innen Fatma Aydemir, Talya Lubinsky, Gladys Kalichini und Henrike Naumann geführt hat, diskutiert problematische Formen der Trauer- und Erinnerungspolitik und fordert, künstlerische Praxis dahingehend als transformativ zu begreifen.

Als wir damit begannen, dieses Heft zu konzipieren, hatte die Welt gut zwei Jahre Corona-Pandemie und damit die biopolitische Verwaltung einer globalen Ansteckungskrankheit hinter sich, die die Intersektionalität kapitalistischer Krisenphänomene in aller Deutlichkeit zum Vorschein treten ließ. Seit Februar 2022 verdeutlicht der russische Krieg gegen die Ukraine die neoimperialistischen Strategien der russischen Adminis­tration. Zwei Ereignisse, die sich einreihen in eine weltweite Kette aktueller gewaltsamer Konflikte, die Leid und Trauern, aber auch Kämpfe und Solidarisierungen mit sich bringen. In ihnen wird nicht nur die Tatsache, dass das Leben gefährdet und verletzlich ist, präsent gehalten, sondern auch, dass das Trauern in den Erfahrungen von Pandemie und Krieg von sozialen Ungleichheiten durchkreuzt ist. Es gilt, das Trauern als etwas zu begreifen, das im Prozess stattfindet, vielleicht auch konstitutiv unabschließbar und mit offenem Ende ist. Das Trauern und das Nachdenken über das Trauern werden uns als politische Herausforderung weiter begleiten.

Çiğdem Inan, Mahret Ifeoma Kupka und Elena Meilicke