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Rebel Yell Kiron Khosla über Ina Weber im Kunstverein Kassel

Ina Weber, "Von Bauhaus zu Real über Lidl und Minimal", Kassler Kunstverein, 2008, Ausstellungsansicht Ina Weber, „Von Bauhaus zu Real über Lidl und Minimal“, Kasseler Kunstverein, 2008, Ausstellungsansicht

Als ich im Katalog zur Ausstellung von Ina Weber im Kasseler Kunstverein blätterte, stieß ich auf eine Arbeit, die mich schon gepackt hatte, als ich zum ersten Mal eine ihrer Ausstellungen sah. Sie befindet sich auf der letzten Seite des Bandes, ganz so, als handele es sich um ein ausrangiertes Modell, das trotz allem noch nicht aus dem Regal raus will, oder wie ein Lagerüberstand, der dort ohne besonderen Grund zurückbleibt. Es handelt sich um die in Kreuzstichtechnik gestickte Darstellung einer jener inzwischen langsam kaum mehr nutzbaren TDK-Audiocassetten, und die trägt den Titel „Washing Instructions“ (2003). Diese kleine Wandarbeit kann beispielhaft für viele der alltäglichen Themen stehen, die sich durch Webers Werk hindurch ziehen und die unter anderem auch an ein vergangenes Zeitalter des handwerklichen Könnens und der (Re) Produktion, an Rebellion und die langen Nächte jugendlicher Vergnügungen erinnert.

Doch konzentriert sich die Schau in Kassel auf Architektur. Beim Betreten des erst kürzlich renovierten Kunstvereins trifft der Besucher auf vier je drei Meter hohe Modelle neun- bis elf-stöckiger, modernistisch anmutender Gebäude, die aus den 1950er Jahren stammen könnten. Die Idealvorstellung vom hellen, schicken, intelligenten Wohn-raum läuft hier irgendwie den eigenen Absichten zuwider. Das Grundstück, auf dem sie gebaut sind, ist so klein, dass aus den ersehnten kompakten und doch geräumigen Appartements niedliche Puppenhäuser geworden sind. Weber sagt selbst, diese Gebäude sähen in Wirklichkeit für Skulpturen groß, als Wohnräume jedoch klein aus – gegründet scheint das auf den philanthropischen Wunsch, so etwas wie Miniatur-Luxuswohnungen zu schaffen, die sich auch weniger Vermögende leisten können.

Sie erinnern mich an einen von Le Corbusiers Unité-d’Habitation- Wohnkomplexen, die ich einmal in Firminy, einer Vorstadt des französischen Saint-Etienne, besichtigen konnte. Er lag oben auf einer Anhöhe und strotzte nur so vor wunderbaren utopischen Einfällen, aber irgendwie passte das nicht zu den wohlmeinenden, idyllischen Nutzungen, für die er gedacht war. In der praktischen Umsetzung erwies er sich dann tendenziell als ein Ort der Kleinkriminalität und des Durcheinanders, das oft die Begleiterscheinung des Wohnungsbaus für Einkommensschwache in den weniger gentrifizierten Stadtvierteln ist. Zur Eindämmung des Gefühls der Überbevölkerung und zur Vermeidung der daraus folgenden Anarchie wurde er halb leer gehalten. Hier im Fridericianum, dem Ort, an dem schon einmal das erste deutsche Parlament zusammengekommen ist und wo sich heute der Kunstverein befindet, vermitteln einem diese Skulpturen das leicht nostalgische Gefühl einer längst vergangenen Zeit; irgendwie wünscht man sich, den Erbauern wäre bei einigen ihrer utopischen Maschinenträume von ruhigen, lichtdurchfluteten Räumen, die einen nach dem langen Tagwerk wieder aufbauen, mehr Erfolg beschieden gewesen. Auch kann man sich nicht der Bewunderung für die Eleganz dieser vielfältigen Formen entziehen, die sich himmelweit von den eindeutig vollkommen desinteressierten sozialen Wohnungsbauten unterscheiden, die in den 1970er und 1980er Jahren überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Und natürlichen haben heutzutage die Megalopolen dieser Welt – wie auch Dubais Fantasiestädte für eine Art der Bevölkerungsexplosion, die noch vor zwanzig Jahren jede Vorstellung gesprengt hätte – an die Armen nicht einmal mehr die Illusion eines sozialen Gewissens zu verschenken.

„Tankstelle“ (2003) stand gleich im zweiten Raum und barg hinter sich vier kleine Modelle von Einkaufszentren der Konzerne Bauhaus, Real, Lidl und Minimal, die fein säuberlich aufgereiht und durch einem Drahtzaun abgesichert waren. Ina Weber sagte mir, jedes Objekt verbinde Elemente ganz unterschiedlicher Strukturen. In diesem Raum erschienen diese fünf Gegenstände wie die archäologische Grabungsstätte eines Tempelbezirks zur Verehrung irgendeiner vergessenen griechischen oder römischen Gottheit. Sie wirkten verlassen und verloren und hatten die Ausstrahlung eines multifunktionalen Partyorts, an dem sich Freuden und Leiden am Rande des Gesetzes erleben lassen. Auf dieser Bühne, deren ursprüngliche Funktion langsam dem Vergessen anheim fällt, mag man sich jede Art von bedenklichen, wilden, anarchischen Szenen vorstellen. Die „Tankstelle“ scheint annähernd im Maßstab 1:3 gebaut, obwohl es da deutliche Abweichungen gibt – einige der Beschläge haben den Originalmaßstab, die Türen haben unterschiedliche Größen. Die einzelnen Bestandteile sind kleiner, als man sie auf der Straße antreffen würde, sie haben dennoch eine körperlich sehr überzeugende Wirkung, und das ergibt eine halluzinatorische Mischung aus Déjà-vu-Effekten und Modellbau-Irrsinn. Genau wie bei den anderen Skulpturen ist man auch hier nie ganz sicher, was aus Beton und was aus Pappe gemacht ist. Es trägt zu dieser Verwirrung nur bei, wenn man einer ihrer Innenstadtmöblierungen: einer Bank, einem Poller, Mülleimer oder Blumenkübel gegenüber steht, die „echt“ sind. Wenn man auf der Betonbank sitzt und die anderen Skulpturen um sich herum sieht, dann verspürt man auch eine surreale Unklarheit der räumlichen Verhältnisse, als säße man in einem Computerspiel gefangen. Warte ich hier vielleicht auf den Bus, mit diesen ganzen Strukturen da hinten, ist das ein Skulpturenpark, ein dreidimensionaler Stadtentwicklungsplan, ein Bühnenbild für „Warten auf Godot“?

In einer Nische neben dem Hauptraum wurde eine Ansammlung von Sperrholz-Obstkisten zu einer Behelfswand aufgebaut, die für Chill- out--Gefühle sorgt, wenn man sich auf die mit Kreuzen bedruckten anderen Kisten niederlässt. Von hier aus kann man die Füße hochlegen und im Übergang zwischen den beiden Haupträumen ein weiteres Werk von Ina Weber betrachten: den psychedelischen Mosaikschriftzug „Drippin’ Ego“ (2008). Nur so zum Spaß hätte ich dazu auch gerne noch die Gitarren-Effektpedale gesehen: Knee Tremble, Lady Killer, Out of Order, Inshallah, Headache…

Im dritten Raum traf man auf alle möglichen Anomalien, die hier allerdings auf eine Art Planpapier gemalt waren, wie Architekten es verwenden. Auf den ersten Blick erkennt man, dass der Horizont auf jedem dieser Bilder in die eine oder andere Richtung gekippt ist, als rutsche er von der Erde ab. Dann bemerkt man, dass die Bildmotive – wie das auch schon bei den Skulpturen der Fall war – ihrer eigentlichen Umgebung entrissen sind. Bei jedem der gerahmten Bilder lässt sich die heimliche Freude an der Ausnahmeerscheinung spüren. Manchmal grenzt das schon ans Kitschige, etwa bei den Bildern von Stromkabeln, die auf einer Verkehrsinsel zusammentreffen, oder einem absurd schönen, gespannten Einzelkabel, das den Vordergrund für ein cool und elegant aussehendes Markthallendach bildet – vielleicht auch bei einem banalen Paar wackliger Stühle mit einem Tisch, die unter einem sehr hohen Vordach in einer Seitenstraße stehen. Oder bei Pop-HipHop-Psy-Graffiti unklarer Bedeutung, die jemand in ein öffentliches Treppenhaus gemalt hat. Eine Werkserie beschäftigt sich mit den verschiedenen – so alltäglichen wie innovativen – architektonischen Aneignungen und Interventionen der Häuser der Cité Frugès, einer Vorstadt von Bordeaux, die Le Corbusier Mitte der 1920er Jahre im Auftrag eines ortsansässigen Industriellen entworfen hat.

Tatsächlich neigen alle architekturbezogenen Arbeiten auch zu einer melancholischen Trauer, sie beklagen verpasste Chancen und das gegenwärtige Desinteresse von Architekten und Stadtplanern daran, sich auf einen Dialog mit denjenigen einzulassen, die in diesen Räumen wohnen und arbeiten sollen. Doch andererseits versammeln sich die Unmengen von Möglichkeiten zur Wertschätzung und Ausübung einer nicht geordneten Stadtplanung, die die Künstlerin aufzählt, zu einer wahrhaftigen Feier des Kontrollverlusts und der Bastardisierung der Stadtlandschaft.

Ina Webers Werk ist ein rebellischer Aufschrei, ein von Punk-Impulsen getriebener Aufruf, der den Betrachter ein weiteres Mal auf ein aktives Hinschauen verpflichtet, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass bei allem Zynismus und aller Resignation manchmal schon der Akt des Eingießens einer Tasse Tee zu einem äußerst wirkungsmächtigen Weckruf werden kann. Das zeigt sie uns, indem sie sich die Aufmerksamkeit erhält, durch die man auf die kleinen Kombinationen kommt, die bei uns Freude und Humor auslösen. Ihr Werk inspiriert dazu, die Energie dafür aufzubringen, die Initiative zu ergreifen und unsere gewohnte Umgebung wieder ins Reich des Unbekannten zurückzuführen. Wenn wir merken, wie sich Chaos und Ordnungswünsche vermischen, kann sich in unserem Geist die Kraft entwickeln, Räume geöffnet zu halten, ganz gleich, wie sehr die Umstände versuchen, die Kontrolle zu übernehmen und sie zu schließen.

(Übersetzung: Clemens Krümmel)

Ina Weber, „Vom Bauhaus zu Real über Lidl und Minimal“, Kasseler Kunstverein e.V., Fridericianum, 5. September bis 19. Oktober 2008.