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Ina Blom

Nach dem Objektfieber wird sich die Kunstkritik der Politik der Dinge zuwenden

Saâdane Afif, „Untitled (This the Way You & I Measure the World, 2004)“, 2008 Saâdane Afif, „Untitled (This the Way You & I Measure the World, 2004)“, 2008

Einer der anregenderen Katalogbeiträge der letzten Zeit ist für mich ein Essay, der sich scheinbar überhaupt nicht mit Kunst beschäftigt, sondern mit einer neuen Vorstellung von Politik. Der fragliche Text, den Bruno Latour für das Ausstellungsprojekt „Making Things Public. Atmospheres of Democracy“ verfasst hat, schlug vor, das nüchterne Vertrauen in die sogenannten harten Fakten – bekannt unter dem Namen „Realpolitik“ – durch eine „Dingpolitik“ zu ersetzen, das heißt durch eine Form von Politik, die Tatsachen nicht als einfache, eindeutige Wahrheiten, sondern als komplexe Dinge betrachten würde, als Ansammlungen von Bedeutungen, Meinungen, Theorien und Handlungen, denen sowohl die Fähigkeit zu trennen und zu teilen, wie die Fähigkeit, gemeinsame Grundlagen für scheinbar unausweichliche Entscheidungen zu bilden, zuzuerkennen wäre. Der Essay spielte mit der Tatsache, dass das Wort Ding in einer Reihe von Sprachen (einschließlich meiner eigenen) auch eine politische Versammlung bezeichnet, den Ort, wo Abgeordnete sich treffen. Als Ansammlungen können Dinge dann als etwas verstanden werden, das höchst verschiedene Formen von Versammlungen hervorbringt: Unabhängig von der Frage nach der menschlichen bzw. nicht-menschlichen Form der „Delegierten“ bilden sie sich als Orte der Verhandlung und der Politik, als genau jene Orte also, an denen Gesellschaftlichkeit selbst ausfindig gemacht werden kann. Jede Ansammlung eröffnet potenziell eine bestimmte Form der Versammlung oder, wenn man will, einen bestimmten Typ von Multitude. Doch ebenso kann eine Ansammlung auch das Bedürfnis oder den Wunsch nach Verstellung mit sich bringen – dem Einklang, der Einheit, Harmonie oder Ähnlichkeit zu widerstehen. Wenn man der Neigung trotzt, stets nach den einfachen Tatsachen zu suchen, besteht die durch die „Dingpolitik“ gestellte Herausforderung eben darin, die verschiedenen Orte der Ansammlung und der Verstellung aufmerksam zu betrachten.

Latours Ruf nach neuer Aufmerksamkeit auf die Beredsamkeit der Dinge (anstatt sie als „Tatbestände“ zu fassen, sollten wir sie, so Latour, als „Interessenlagen“ ansehen) ist für die Diskurse der Wissenschaftssoziologie und -philosophie inzwischen zu einer vertrauten Ergänzung geworden. Die methodologische Bedeutung für die Bereiche der Kunstgeschichte und -kritik ist jedoch meiner Meinung nach noch nicht vollkommen verstanden worden. In einem Augenblick, da die Kunstwelt die Qualen eines heftigen Objektfiebers erleidet – verursacht durch die schwindelerregende Überbewertung und den übermäßigen Tausch von Kunstwerken in der Boomwirtschaft des letzten Jahrzehnts sowie durch den dringlichen Versuch, angesichts der jüngsten Entwertungen und Verluste wieder festen Boden zu finden –, kann dies wohl diagnostiziert werden. Denn egal, wie viel Performativitätstheorie – andauernde kritische Beschäftigung mit den transienten, situativen und mannigfaltigen Wirkungen von Kunst – während der Jahre des Aufschwungs aufgewendet wurde, so konnte sie jene andere Realität des Kunstsystems doch nicht vollkommen überdecken: den elektrisierenden Sinn, Zeuge der Schaffung von Märkten sozusagen aus dem Nichts zu werden, wo jedes und jeder sich in eine Ware, in ein greifbares, reales Tauschobjekt verwandelte. Doch während viele der Absurditäten der Aufschwungjahre als zu offensichtlich abzutun sind (unter anderem, dass das Artforum so anzeigenlastig wurde, dass es nicht mehr in meinen Briefkasten im Erdgeschoss eingeworfen wurde, sondern bei der Postfiliale abgeholt werden musste, vorzugsweise mit einer Schubkarre), bietet die neue, „geerdete“ Ernsthaftigkeit dennoch nicht notwendigerweise Grund zum Feiern – trotz des Arguments, das in der letzten Zeit in einer Reihe von Kommentaren vorgebracht wurde, die wahrscheinlich die unmittelbarsten Reflexe der meisten von uns wiedergaben. Oder genauer: Es hängt ganz und gar von den Begriffen ab, mit denen man diese neue Ernsthaftigkeit schließlich bewerten würde. Denn etwas an diesen Stimmen der Vernunft, die uns sagen, dass das Wegfallen von Arbeiten, Künstlern, Sammlern und Institutionen ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer ausgeglicheneren Kunstwelt ist, in der wieder Qualität und nicht Quantität und leerer Medienrummel herrschen würde, sollte uns skeptisch stimmen. Tatsächlich gehört diese Art des Arguments weniger zum Diskurs des Kritikers als zu dem des Ernährungsberaters, der sicherstellen will, dass unser Verdauungsapparat nicht mit leicht zugänglichem Junkfood überlastet, sondern durch angemessene Mengen an Vollkorn-Qualitätsessen in Form gehalten wird. Und ein derartiges Argument hält genau an der Verbindung zwischen Kunst- und Konsumkultur fest, die mit dem Aufruf zu Qualitätskunst unterminiert werden soll. Es offenbart die vielen Probleme mit einem kritischen Rahmen, der – als unhinterfragbare Grundannahme – die Tatsache akzeptiert, dass es eine Art von unsicherer und gespenstischer Identität zwischen Kunstwerken und Konsumgütern gebe und dass die erweiterte Metapher des Konsumierens und des Konsums daher der beste kritische Rahmen für den Umgang mit der ökonomischen und politischen Realität von Kunstproduktion und -rezeption sei. Und vor allem zeigt es die Komplizenschaft von Kritikern und Historikern bei der Produktion des Objekts ihrer Kritik: Der Mechanismus eines vom Tausch besessenen Kunstgeschäfts schließt sich mit einer Form von Theorie, die dies als die traurige, aber wahre Realität akzeptiert, mit der wir zu arbeiten hätten und in der der kritische Geist lediglich nach den seltenen und einsamen Ausnahmen suchen könne, zu einem perfekten Kreis.

In den letzten Jahren wurde ein Typus der Ausnahme des Konsumkunstobjekts durch Begriffe wie Prozess, Performance, Konzept, Aktion und Relationalität beschrieben. Mit der Verwendung solcher Begriffe war üblicherweise gemeint, dass diese Arbeiten, statt bloße Opferobjekte oder verschobene Symptome von externen sozialen Phänomenen wie der Marktwirtschaft zu sein, selbst in die soziale Realität intervenierten oder mit ihr operierten. Wenn ich vorschlage, dass wir diese Begriffe für einen Moment beiseitelegen sollten, dann nicht, weil sich herausgestellt hätte, dass die Arbeiten, die sie offenbar definieren, ebenfalls ihren Weg in das System des Marktes gefunden hätten (natürlich haben sie das: Die Parallele zwischen der Informationsökonomie und „informationellen“ und „experientellen“ Arbeiten ist wohldokumentiert), sondern deshalb, weil die diskursive Funktion solcher Begriffe allzu oft hauptsächlich darin besteht, den angenommenen Objektstatus irgendeiner anderen Art von Kunst und deren unvermeidlichen Zusammenhang mit der Konsumkultur zu negieren. Derart verwendet laufen solche Begriffe schlichtweg Gefahr, in den gleichen ökonomistischen, auf Austausch basierenden Kreislauf zurückzuführen, dem sie zu entfliehen suchen. An die Stelle der bekannten Objekt/Prozess-Sackgasse könnte man die viel weniger schlüssige oder bestimmte – jedoch im echten Sinne viel politischere – Konzeption des Dings setzen. Die Bezeichnung eines Kunstwerks als Ding bedeutet im Anschluss an Latour nicht bereits seine Definition, bedeutet nicht bereits, eine Meinung über seinen Ort oder seine Rolle in einem gegebenen gesellschaftlichen Szenario und dessen angeblich wohlbekannten Mechanismen zu haben. Es impliziert auch, sich von vorschnell gebildeten Meinungen über seine Position in Strukturen von Ausbeutung und Dominanz oder über seinen Ort in der Kunstgeschichte zu verabschieden. Vielmehr bedeutet es, eine echte Untersuchung im Hier und Jetzt durchzuführen; zu fragen, welche Elemente in dem fraglichen Werk zusammenkommen oder sich treffen; zu verstehen, wie sie zusammenarbeiten oder gegeneinander wirken. Es bedeutet, die Aufteilung von Kunstwerken in Kategorien wie „ästhetisch“ oder „sozial/aktivistisch“ zurückzuweisen, als könne Kunst nur dann politisch und sozial aktiv sein, wenn sie einen besonderen Umweg nähme, für den das sinnliche Reich des Ästhetischen und der „echten Kunst“ zu opfern wäre. Da die Ansammlung nicht als formales Prinzip, sondern als Aktivitätsform oder als Konfrontation von Kräften, Willen oder Perspektiven aufgefasst wird, sind die Ansammlungen der Kunst der Ort der Politik, der Ort von Gesellschaftlichkeit schlechthin. Das Werk als Ding ist nicht insofern zeitgenössisch, als es die neuesten Nachrichten anspricht oder durch seine Verbindung mit oder Trennung von dem, was jeweils für historisch gehalten wird. Es ist nur in dem Sinne zeitgenössisch, als es einen erweiterten Moment der Auseinandersetzung mit einer Schwierigkeit konstituiert, eine Verhandlung mit ungewissem Ausgang – und Kritik wird nur in ihrer Funktion als Teil dieser Verhandlungen zeitgenössisch sein. Diese Art der Untersuchung sollte genau dort in die Disziplin der Kunstgeschichte eintreten, wo deren Programme sich mit Gesellschaftstheorie und soziologischen Analysen auseinandersetzen – insbesondere die Bereiche von Visual Studies und Medienästhetik: Auch wenn diese Ansätze am nachdrücklichsten versucht haben, die Vorstellung des Kunst-„Objekts“ infrage zu stellen, zu verstehen oder zu dekonstruieren, schienen sie niemals wirklich in der Lage gewesen zu sein, es vollständig aufzugeben, sondern haben es wie ein Fetisch mit sich herumgetragen, der trotz der routinemäßig unsanften Behandlung wie magisch intakt bleibt … Dieses heilige Objekt mag nun einen langen Urlaub genießen und die kritische Arbeit der Politik der Dinge überlassen.

(Translation: Robert Schlicht)