Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

83

Kein neuer „New Deal“ Ein E-Mail-Austausch über aktuelle Formen von Subjektivierung, über Politiken und kulturelle Praxis in der Krise zwischen Kerstin Stakemeier, Maurizio Lazzarato und Sarah Rifky

Chim|Pom, „KI-AI 100“, 2011, Filmstill Chim|Pom, „KI-AI 100“, 2011, Filmstill

Eine Diskussion des Globalismus kann die Krise der kapitalistischen Weltökonomie nicht ausschließlich analytisch immanent erklären wollen. Sie muss sich gleichzeitig um die Entwicklung von Kategorien und Modellen bemühen, die eine Subjektivierung und Politisierung jenseits dieser Sachzwanglogik eröffnen.

Mit dem Philosophen und Soziologen Maurizio Lazzarato und der in Kairo lebenden Kuratorin und Autorin Sarah Rifky diskutiert Kerstin Stakemeier eben solche Strategien in einer E-Mail-Konversation, wobei sie sich auf politische wie künstlerische Beispiele beziehen.

Dieses E-Mail-Gespräch befasst sich mit der derzeitigen Lage des kapitalistischen Globalismus. Statt davon auszugehen, dass es sich bei diesem Begriff zwar um eine fehlerbehaftete, letztlich jedoch funktionale Form der allgemeinen Reproduktion handle, wird der kapitalistische Globalismus hier als ein permanenter krisenhafter Zustand verstanden, der seine Funktion für die allgemeine Reproduktion von Gesellschaften und Individuen tatsächlich längst verloren hat. Globalismus könnte demnach die Beschreibung eines sich im Schwebezustand befindlichen, weltumspannenden Wirtschaftssystems sein, eine Mischung aus feudalen, fordistischen, postfordistischen und finanzialisierten Produktionsbedingungen, denen eine durchgängige und aktualisierte Universalität fehlt. Was, wenn wir die globale Folge politischer, ökonomischer und kultureller Brüche und Aufstände der letzten zehn Jahre nicht als Auflösungserscheinungen einer herrschenden europäischen Moderne diskutieren, sondern diese Perspektive vielmehr umkehren und uns mit einem Globalismus beschäftigen, der durch seine differenzierten Formen des ökonomischen Katastrophismus ebenso zusammengehalten wird, wie durch die Notwendigkeit und Praxis von Neuverhandlungen subjektiver und gesellschaftlicher Existenzformen? Welche politischen, ästhetischen und künstlerischen Entscheidungen könnte eine solche Perspektive nach sich ziehen, und welche Gefahren birgt sie?

Um diese Fragen zu diskutieren, hat Kerstin Stakemeier zwei Gesprächspartner/innen eingeladen: den in Paris lebenden Philosophen und Soziologen Maurizio Lazzarato und die in Kairo lebende Kuratorin und Autorin Sarah Rifky.

In den 1990er und frühen 2000er Jahren trugen Lazzaratos Texte maßgeblich zu den Debatten über „immaterielle Arbeit“ und allgemeiner über die postfordistischen Produktionsbedingungen bei. In seinem Buch „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ (2011, dt. 2012) entwickelte Lazzarato ein Verständnis der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, in dessen Zentrum die Figur des verschuldeten Subjekts steht. Alle kapitalistischen Regime, so Lazzarato, sind auf ihre Subjektbildungsprozesse verwiesen. Die Situation, der wir uns gegenübersehen, kann daher nicht allein ökonomisch gefasst werden, sondern muss zuallererst als fundamentale Krise des Subjekts erkannt sein. Der Ausgangspunkt für Rifkys Texte wie auch für ihre kuratorische Praxis sind Subjektivitäten in der Krise. Sie zeichnet Diskontinuitäten, Brüche und Sprünge nach, die sich auch zwischen ihrer eigenen Beteiligung in der zeitgenössischen Kunstwelt und dem, was sie „Der gehende Aufstand“ in Ägypten bezeichnet, auftun. Gemeinsam mit Jens Maier-Rothe leitet sie die 2012 von ihr mitbegründete Kunstinitiative Beirut in Kairo.

Kerstin Stakemeier: Maurizio, in deinem Buch „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ beschreibst du den aktuellen Stand der finanzialisierten Sparpolitik in Europa als fundamentale Veränderung gegenüber früheren Schemata kapitalistischer Krisen und argumentierst, dass „wir von einer Finanzkrise zur nächsten nun in eine Periode der permanenten Krise eingetreten sind, die wir als ‚Katastrophe‘ bezeichnen sollten, um auf die Diskontinuität des Begriffs der Krise selbst zu verweisen“. Damit zeichnest du eine politische Situation, in der sich die allumfassende Ideologie des unaufhörlichen kapitalistischen Fortschritts auflöst, während Regionalismen und lokale Antagonismen sich immer mehr verstärken.

Maurizio Lazzarato: Wir leben seit 40 Jahren in einem Zustand der andauernden Krise. Die Krise ist also nicht mehr die Kehrseite des Wachstums. Wir kennen lediglich Schwankungen in der Intensität der Krise, die sich seit 2008 verschärft hat; was man allgemein als Ausgang aus der Krise und als Wiederankurbeln des Wachstums bezeichnet, wird lediglich ein Wechsel in ihrer Intensität sein.

Auf jeden Fall bewegen wir uns von einer Krise zur nächsten: von der Finanzkrise zur ökologischen Krise zur Bevölkerungskrise zur Ernährungskrise und so weiter. Die Krise, in der wir uns gegenwärtig befinden, ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine Krise der Gouvernementalität; eine Krise, die die Produktion von Subjektivität betrifft. Wenn der Kapitalismus (Subjekt-)Modelle einführt, so wie die Automobilindustrie neue Serien einführt, dann besteht die größte Herausforderung für die kapitalistische Politik darin, die ökonomischen, technologischen und sozialen Ströme mit der Produktion von Subjektivität in Einklang zu bringen, sodass die politische Ökonomie letztlich nichts anderes als eine „subjektive Ökonomie“ ist.

Insofern ist ein New Deal unmöglich, da er eine Resubjektivierung erforderlich machen würde, die diese Schuldenökonomie nicht mehr zu leisten vermag. Wir steuern auf eine postdemokratische Situation zu, die in einen schwelenden Bürgerkrieg abgleiten kann/wird (und innerhalb Europas scheint Griechenland hierfür der Prüfstand zu sein).

Sarah Rifky: Griechenland ist nicht weit von Afrika entfernt. Es ist noch nicht ausgemacht, in welche Richtung wir uns in Ägypten bewegen werden. Wenn man so will, handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess der Erneuerung des Aufstands; post- und prädemokratisch sind keine Gegensätze, sondern werden in dieser Hinsicht zu situativen Perspektiven. Es gibt keine Auflösung, nur einen Anfang. Es handelt sich nicht um eine Tragödie, sondern um eine Auseinandersetzung mit dieser Erneuerung der Krise. Die Welt, in der wir leben, ist unvollständig und unbestimmt. Wir kennen das Morgen nicht, doch wir engagieren uns im Heute.

Wir dürfen nicht den Spuren der Erinnerung verhaftet bleiben, die nichts als (rückwärtsgewandte) Vorstellungskraft ist und die eine Unterbrechung in einem „fließenden Zustand“ bewirkt. Dieser Ausdruck wird häufig verwendet, um die Situation in Ägypten seit 2011 zu beschreiben. Ein fließender Zustand ist formlos; es gibt keine Bewegung, die man anhalten könnte. Nur wenn wir die Formlosigkeit dieses nichtlinearen (oder nichtchronologischen) Zustands anerkennen, wird es möglich, zu handeln und Zeit zu besetzen.

Stakemeier: Die (un-)freiwillige Verpflichtung auf die Gegenwartsform, die du beschreibst, könnte auch eine eher transversale Vorstellung von praktischer Solidarität im Denken und Handeln umfassen, die der in der Krise vorangetriebenen Nationalisierung der Politik entgegenwirkt. Dass die Unterscheidung zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsform in allen unseren Ausführungen eine entscheidende Rolle gespielt hat, liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass nostalgische Erinnerungen an eine scheinbar weniger destabilisierte Vergangenheit so gefährlich allgegenwärtig sind. Man erkennt dies an den beharrlich wiederkehrenden Formen der Moderne in der zeitgenössischen Kunst ebenso wie an dem Ruf nach traditionellen Werten in vollkommen unterschiedlichen Gesellschaften. Maurizios Behauptung ist richtig: Eine Umgestaltung der Gesellschaft kann nicht über das Kapital, sondern nur über das Soziale erfolgen. Dieses ist heutzutage jedoch offenbar äußerst fragwürdig geworden, da die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaften und die Reproduktion der Individuen innerhalb dieser Gesellschaft einander zuwiderzulaufen scheinen. Während beide heute auf dem beruhen, was Maurizio die „Schuldenökonomie“ genannt hat, und was andere, wie etwa Christian Marazzi, als „finanzialisierten Kapitalismus“ bezeichnet haben, scheint Letztere ihre systemisch zentrale Bedeutung für Erstere verloren zu haben. Die Produktion durch menschliche Arbeit wird nicht mehr als die Hauptquelle des Mehrwerts erachtet, wie Karl Marx es im ersten Band des „Kapitals“ dargestellt hat. Die individuelle Subjektivierung kann daher nicht auf Arbeit als Quelle ihrer sozialen Anerkennung vertrauen. Und die Mobilisierung des politischen Aufstands gegen die Reproduktion des finanzialisierten Kapitalismus mittels der Kategorie der Arbeit – als zentraler Kategorie der Reproduktion in dieser Gesellschaft – wird zu einer Minderheitsposition.

Daher scheint die extrem zeitgenössische Sichtweise, die du, Sarah, soeben skizziert hast, wirklich produktiv zu sein. Sie erinnert an Walter Benjamins Begriff des „positiven Barbarentums“. Sprechen wir hier von einer Aktualisierung dieses Konzepts?

Rifky: Vielleicht. Die Krise ist kürzer als die Katastrophe, die zu einer Erfahrungsstruktur wird, die diese Armut beseitigen könnte, und aus der meine Liebe, mein Trieb, mein Begehren stammen – meine Ausgangspunkte für einen Neubeginn. Wir sind möglicherweise desillusioniert, doch die Alltagsrealitäten, aus denen sich die Kultur der Schulden zusammensetzt, gestalten sich z.B. in Afrika und Amerika sehr unterschiedlich. Es gibt eine Qualität in der Erfahrung, die erst aufgrund der Krise hervortritt; ein Einvernehmen im Miteinander, wenn alles andere zusammenbricht.

Wie Hala Galal meinte, ist der Aufstand eine ähnliche Praxis wie die, ein Haus sauber zu halten: Man macht jeden Tag ein bisschen was, einmal im Monat putzt man richtig gründlich, und ungefähr alle sechs Monate stellt man alles auf den Kopf. Dieser Vergleich mit einer einigermaßen banalen, alltäglichen Angelegenheit definiert den Begriff des Aufstands neu. Gleichzeitig definiert er den Aktivismus neu, dem wir zuweilen widerstehen müssen, da er, wie Tamer El Said sagen würde, die Position des Zweifels ausschließt. Der Zweifel gestattet uns, Erfahrungen zu machen, statt die Dinge vorschnell, unter Umgehung der Imagination, zu überdeterminieren. Ich glaube, das Beste, das aus dieser Betrachtungsweise folgen kann, auch wenn es uns womöglich intellektuell, kulturell oder politisch marginalisiert, ist die Möglichkeit, eine neue Form von Politik zu entwerfen, die nicht unbedingt nach Macht strebt und sich daher auf nichtstaatliche Formen beschränkt. Ich weiß nicht, ob dies ein Ausdruck für autonome, nicht in einer politischen und ökonomischen Realität fixierte oder gefangene Subjektivitäten wäre. Zwar ließe sich ein stärkeres Engagement für nichtstaatliche Formen vorstellen, doch über die Grenzen der derzeitigen Zustände hinauszudenken, ist beinahe unmöglich. Um uns herum gibt es zu viele Beispiele des Scheiterns.

Lazzarato: Auf emblematische Weise repräsentiert Japan die Unmöglichkeit, aus der Krise zu gelangen, die das Land seit den 1990er Jahren erfasst hat, ohne dass ein neues Modell von Subjektivität produziert worden wäre. Wie alle Nationen der Welt ist Japan heute eine postfordistische Ökonomie. Doch mehr als jedes andere Land hat Japan größte Schwierigkeiten, das fordistische „Kapital der Subjektivität“ (Vollbeschäftigung, lebenslange Anstellungen, Arbeitsmoral usw.) zu ersetzen, durch das es zu seinem Reichtum gelangt ist. Es reicht nicht aus, astronomische Geldsummen in die Wirtschaft zu pumpen, es reicht nicht aus, die Banken zu stabilisieren, die Sicherheit des Arbeitsmarktes zu gefährden, die Löhne zu senken und so weiter, um Wachstum zu schaffen. Mit den neuen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen muss eine Subjektivität einhergehen, die diesen entspricht und sie stützt. In diesem Sinne ist die japanische Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem auch eine Krise der Herrschaftsstrukturen des allgemeinen Managements. Ökonomie und Subjektivität gehen Hand in Hand.

Stakemeier: Dann ist der Postfordismus nicht mehr das einzige Paradigma, unter dem wir unsere derzeitige Existenzweise diskutieren können. Er besteht innerhalb der Gegenwart fort – ich meine die neoliberalen Zwänge eines vermarktbaren Subjektivismus. Doch dasselbe gilt auch für Modernismen und Re-Feudalisierungen. Keines dieser Motive bietet irgendeine Zukunftsperspektive. Was sie beschreiben, ist nicht eine Form der subjektiven Reproduktion, sondern eine Flucht ins Ungewisse. Die Figur der subjektiven und objektiven Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, mit der Ernst Bloch in den 1930er Jahren den Nationalsozialismus in Deutschland zu fassen versuchte, wird in diesem Zusammenhang wieder zu einem stichhaltigen Modell. Unsere Gegenwart ist mit Vergangenheitsformen angefüllt, mit Subjektivitäten, die nicht aktualisierbar sind, mit Systembeziehungen, die veraltete Machtstrukturen aufrechterhalten. In welcher Epoche die Menschen heute tatsächlich leben, hängt weitgehend von ihrem sozialen Status und ihrem geografischen Standort ab; vielleicht leben einige in einem Zustand, der der bürgerlichen Moderne ähnelt, neoliberalen Flexibilisierungen oder sogar barocker Opulenz, doch für die meisten Menschen feiert der Frühkapitalismus eine späte Rückkehr. Es mag also tatsächlich „Fortschritt“ geben, der allerdings keine Vergemeinschaftung bewirkt, sondern vielmehr Dynamiken der Dezentrierung in Gang setzt. Dies birgt revolutionäre Perspektiven in sich, wie etwa diejenigen, auf die Sarah hingewiesen hat, die Formen der Intensivierung und Autonomisierung „unterhalb“ der äußeren Machtstrukturen anstreben. Verbunden ist damit aber auch die Gefahr regressiver Entwicklungen jener Machtstrukturen, wie etwa der Aufstieg nationalistischer Kräfte in Griechenland.

Lazzarato: Mit Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir in eine neue politische Phase eingetreten, die an das Scheitern des Liberalismus in der Belle Époque von ca. 1870 bis 1914 erinnert, woraus zwei Weltkriege, der Faschismus und die Große Depression resultierten. Während die Schuldenökonomie sich allmählich immer weiter vertieft, nimmt die Gouvernementalität autoritärere und repressivere Züge an und wird Konfliktbewältigung zu einem bloßen Problem der öffentlichen Ordnung.

Begleitet wird diese Verschärfung des Klassenkampfs von einem Erstarken neoarchaischer Formen wie nationaler Identität und Fremdenfeindlichkeit, die – auch wenn sie die Subjektivität nicht mit derselben Wucht wie noch vor einem Jahrhundert betreffen – die Zunahme regionaler Nationalismen forcieren (etwa in Norditalien, Belgien, Ex-Jugoslawien usw.). Die Menschen bedienen sich noch immer der Modelle der drei monotheistischen Religionen, bei denen derzeit ein Wiedererstarken des Fundamentalismus zu beobachten ist. Angesichts der aktuellen Leere der Subjektivierung wird in einer Welt, die von Aktionären und Massenarbeitslosigkeit beherrscht ist und in der man sich immer bewusster wird, dass es keine Ersatzsubjektivität gibt, der Versuch unternommen, den „Wert der Arbeit“ wieder aufleben zu lassen.

Rifky: Dies bestimmt unsere Handlungen nur als Teil einer „Klasse“ an sich – ein Begriff, der unter den gegenwärtigen Bedingungen des Kapitals und der entsprechenden Politik kontaminiert wurde, sich verschoben hat und extrem unscharf geworden ist. Es ist nicht leicht, Stellung zu beziehen, insbesondere zu diesem Zeitpunkt, während wir die letzten Wendungen der Ereignisse in Ägypten erleben, die eine viel heftigere Gegenwart derjenigen Erscheinungsformen bewirkt haben, von denen Maurizio sprach – nicht nur das Wiedererstarken des Fundamentalismus, sondern auch eine zutiefst polarisierte Politik.

Lazzarato: Ja, und an diesem Punkt stellt sich eine Reihe existenzieller Fragen: Was sind die Bedingungen für einen politischen und existenziellen Bruch in einer Zeit, in der die erste und wichtigste kapitalistische Produktion die Produktion von Subjektivität darstellt? Was sind die spezifischen Instrumente der Subjektivitätsproduktion, um deren von staatlichen Unternehmen organisierte industrielle Massenherstellung zu durchkreuzen? Welche organisierenden Praktiken sind für einen Prozess der Subjektivierung erforderlich, um der Unterwerfung wie der Versklavung zu entkommen?

Michel Foucault und Félix Guattari beschrieben in den 1980er Jahren auf jeweils andere Weise die Produktion von Subjektivität und die Konstitution eines „Verhältnisses zu sich“ als die zeitgenössischen politischen Aufgaben, die allein Wege aus der Sackgasse weisen könnten, in der wir sitzen würden. Jeder entdeckte auf seine Weise eine neue Dimension, die man auf die Begriffe „Machtbeziehungen“ und „Wissensbeziehungen“ zuspitzen kann. Das „Verhältnis zu sich“ (Foucault) als Fähigkeit der Selbstpositionierung und als existenzielle Behauptung (Guattari) „deriviert“ (in der doppelten Bedeutung des französischen Verbs dériver: stammt ab und weicht ab) von Macht- und Wissensbeziehungen. Und insofern die Dimension des Subjektiven von diesen sowohl abstammt als auch von ihnen abweicht, ist sie nicht von ihnen abhängig.

Wenn Foucault von der „Sorge um sich“ ausgeht, bedeutet dies nicht, das Dandy-Ideal eines „schönen Lebens“ zu verfolgen, sondern vielmehr zu fragen, wie sich eine „Ästhetik der Existenz“ mit einer entsprechenden Politik überschneiden könnte. Die Probleme „eines anderen Lebens und einer anderen Welt“ werden parallel aufgeworfen und basieren auf einem „militanten“ Leben, dessen Vorbedingung der Bruch mit Konventionen, Gewohnheiten und etablierten Werten ist. Genauso wenig zieht Guattaris „ästhetisches Paradigma“ eine Ästhetisierung des Sozialen und Politischen nach sich, sondern setzt die Produktion von Subjektivität in die Praxis um, als Beschäftigung mit einer neuen Art und Weise, militant zu sein und sich politisch zu organisieren. Daher der Rekurs nicht auf kognitive, informationelle und linguistische Instrumente und Paradigmen, sondern auf politische Instrumente und Paradigmen, die ethisch und ästhetisch verfasst sind, Guattaris „ästhetisches Paradigma“ sowie Foucaults „Ästhetik der Existenz“.

Stakemeier: Genau, und Guattaris Formulierung aus seinem Buch „Chaosmose“ von 1992, die Kunst sei eine „subjektive Kreativität, die quer durch die Generationen und die Unterdrückten, die Gettos, die Minderheiten geht“, scheint in unserem Zusammenhang hilfreich zu sein. Nicht zuletzt deshalb, weil sie das politische Zentrum der Kunst verschiebt, die somit kein repräsentatives Objekt mehr ist, sondern zur Erscheinungsweise einer inhärent transversalen Lebensform wird. Und im Hinblick auf diese Fragen gibt es eine Reihe von interessanten aktuellen Ansätzen, etwa Juliane Rebentischs Buch „Die Kunst der Freiheit“, in dem sie die „Ästhetisierung der Politik“ als notwendigen und produktiven Prozess darstellt, der zu einem anderen Verständnis von Autonomie in statt Autonomie von führen könnte. Ich halte diese Prozesse sowie ein ästhetisches Verständnis, das die politischen, produktiven und reproduktiven Sphären unserer Gesellschaften nicht ausklammert, für grundlegend, um innerhalb der fundamentalen Krise des globalen Kapitalismus eine politische Position oder auch eine Praxis der Autonomisierung und Resubjektivierung zu definieren. Wie Maurizio eingangs festgestellt hat, ist das System nicht reformierbar, es gibt keinen neuen New Deal. Aber was sind dann die Folgen einer politischen und ästhetischen Subjektivierung inmitten dieser Katastrophe?

Rifky: In Ägypten gibt es derzeit parallel zu dem, was wir erleben, eine Welle von „Institutions“-Gründungen in der Kunst- und Kulturwelt, woraus sich für uns eine Vielzahl von Fragen ergibt, wie: Was ist eine Institution? Was könnte sie sein? Wie organisieren wir uns? Es beginnt häufig damit, dass wir uns auf ein bestimmtes Ziel hin zusammenfinden. Damit Selbstorganisation überhaupt möglich wird, muss natürlich zunächst ein Selbst ausgemacht werden. Dieser interpretierende Prozess der Identifikation hat damit zu tun, wie wir uns die Zukunft vorstellen, und dies scheint einige Parallelen dazu aufzuweisen, wie die Finanzwelt die Zukunft bestimmt oder sie gewissermaßen gefangenhält. Es ist dann möglich, über längere Zeiträume ohne Schuldgefühle für die eigene Verschuldung bei Freunden/Freundinnen oder anderen zu existieren. Ich muss an Gespräche mit Lina Attallah denken, die in Kairo die englischsprachige Nachrichten-Webseite Mada Masr betreibt, welche aufgrund der Krise oder der Ausweglosigkeit entstand, nachdem Egypt Independent eingestellt worden war (wobei 35 Journalisten auf einen Schlag entlassen wurden). Die Frage nach dem institutionellen Überleben vermischt sich mit einem Gefühl von Berechtigung und dem Glauben an das, was „therapeutisch geteilt“ wird. Das Prekäre wird mit Humor überwunden, durch die Feier dessen, worauf wir hinarbeiten. Der Tatsache, dass wir alle in diesem Jahr 15 Prozent unter unserem jährlichen Budget liegen, kann man viel oder wenig Bedeutung beimessen. In gewisser Weise kokettieren wir mit der Insolvenz. Im kleinen Rahmen tun wir dies, wenn wir um die Möglichkeit wissen, auf einem Höhepunkt der Revolte die Bezahlung der Telefonrechnung zu verweigern, wir unsere Gründe dafür mitteilen und das Recht auf Weigerung zugesprochen bekommen. Wir diskutieren mit institutionellen Therapeuten. Mohammed Abdallah, der für viele junge Institutionen gearbeitet hat, könnte euch erzählen, wie wir alle ausrufen werden: „Es ist das, was wir für wahr halten wollen!“ Er versucht, Metaphern für die heutige Selbstorganisation in Ägypten und andernorts zu finden: Wir alle wollen eher wie lebende Systeme sein, nicht wie Maschinen. In mancherlei Hinsicht gilt der Satz: „Es verschiebt sich vom Ich zum Es“, um einen Projekttitel der Londoner Initiative FormContent zu zitieren. Darin wird die Rolle des Maklers zwischen dem Chaos und einer organisierten kulturellen Ökonomie beschworen. In gewisser Weise ist dieser Institutions-Hype auch die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, die allein an uns als individuellen „Humanressourcen“ hängt, als flexible, auf uns selbst gestellte Agenten, die wir das Maß unseres eigenen Erfolgs und unserer eigenen Produktivität sind. Wir organisieren uns, wir institutionalisieren uns; wir gehen untereinander Verpflichtungen ein, und so können wir einen Ort schaffen, um einander zu antworten, Positionen einzunehmen und Verantwortlichkeiten zu übernehmen. Jede/r ist Eigentümer/in, jede/r ein/e Unternehmer/in und jede/r ein/e Künstler/in. Dieser Verzicht auf das Eine: Künstler/in, Kurator/in, Autor/in zu sein und Es zu werden (für mich ist „It“ die englische Abkürzung für Institution), einen Apparat zu bedienen (wie eine Sammlung von Noten, nicht wie der Kapitalismus) – selbst wenn es sich um einen fiktiven handelt –, erlaubt es uns, für uns selbst und füreinander Sorge zu tragen. Ein Netzwerk voneinander abhängiger Knotenpunkte, aus drei oder vier, höchstens zehn Personen bestehend, die Verbindungen eingehen und miteinander identifiziert werden wollen: Es gibt keine Gewerkschaft, Interessengemeinschaft, Kategorie oder Klasse. Bei Beirut arbeiten wir innerhalb des neuen Netzwerks APRIL (Action Platform for Responsibility, Institutions, Love or Learning) mit anderen Institutionen zusammen. Um dieser starken Abhängigkeit, die jeder für sich wie innerhalb dieser Vereinigung hat, wenigstens ansatzweise zu entgehen, überwindet APRIL die Geografie. Es spielt keine Rolle, ob diese Institution in Lissabon, London, Derry, New York oder Kairo ansässig ist.

Lazzarato: Solche Wiederverwendungen von revolutionärem Diskurs und revolutionärer Praxis können nur am Kreuzungspunkt einer Handlungsweise stattfinden, die der Politik der Finanzialisierung und der Schulden entgegengesetzt ist und die zugleich neue Praktiken und neue Lebens­ästhetiken entwickelt, eine neue Lebensweise innerhalb unserer jeweiligen Zeitlichkeit. Politik und Existenz müssen sich, genau wie Kunst und Existenz, gegenseitig befördern. Dazu bedarf es jedoch, wie jeder von uns aus verschiedenen Gründen festgestellt hat, einer Veränderung nicht nur unseres Verständnisses von Politik, sondern auch unseres Verständnisses von Kunst.

Stakemeier: Genau, und ein derart rekonstruiertes Verständnis der Institutionen scheint mir in dieser Hinsicht äußerst produktiv zu sein. Man denke etwa an Karl Marx’ Definition der Institutionen als „Vergegenständlichungen der politischen Gesinnung“. Wenn wir versuchen, dieses Verständnis auf eine Situation zu übertragen, in der die Krise der Subjektivität im Vordergrund der aktuellen kapitalistischen Krise steht und, was noch wichtiger ist, wo derartige Resubjektivierungen und solche Versuche, mit Sarahs Formulierung, „Verantwortung“ zu übernehmen, die einzige Perspektive bieten, diese „Kapitalismus“ genannte Krise zu unterlaufen, dann erscheint ein anderes Verständnis der Selbstinstitutionalisierung als höchst signifikanter Ausgangspunkt. Es erlaubt eine Politik der Solidarität, der kollektivierenden Aktionen, deren Zusammenhalt nicht darauf gründet, wie die Teilnehmer/innen durch oder im Kapital identifiziert werden, sondern eher darauf, wie sie sich von ihm unterscheiden. Hier tauchen die von Maurizio angeführten Modelle von Foucault und Guattari in dem wieder auf, was Sarah als ihre Praxis in Kairo beschreibt – nur aus einem anderen Blickwinkel. Wo in den 1970er und 1980er Jahren die Entstehung von Gegen- und Subkulturen einen Sinn für neue Kristallisationspunkte von gegen das System gerichtetem Handeln schufen, sind wir wegen der neoliberalen Integration solcher Strukturen in den 1990er und 2000er Jahren sowie der Vernichtung ihrer Existenzgrundlagen in jüngerer Zeit genötigt, diese Modelle zu überdenken – möglicherweise, indem man sich ins Zentrum dieser Gesellschaft begibt, während man gemeinsam so etwas wie ausgreifende Selbstbeobachtungen betreibt. Und damit wäre ein in erheblichem Maße abweichendes Verständnis von „Öffentlichkeit“ verbunden.

Lasst uns diese Frage für einen Augenblick wieder spezifischer auf die Kunst als Form der Produktion von und durch Subjektivierung richten: Wie können künstlerische Produktionen und deren Rezeption als präzise Figuren solcher „Institutionalisierungen“, solcher „existenziellen Behauptungen“ verstanden werden? Ich meine nicht die Frage, inwiefern Kunst eine Institution ist – das wäre rein deskriptiv –, sondern vielmehr, wo in der Geschichte und Gegenwart der Kunst Figuren der Produktion, der Rede, der Aktion, die solche Dynamiken entwickeln, auszumachen wären?

Rifky: Diese Frage eröffnet Gelegenheiten für erkenntnisreiches Raunen und für Diskussionen – eine knappe Antwort lässt sich darauf nur schwerlich geben. Charakteristisch für eine derartige Institutionalisierung sind meiner Meinung nach die Fälle, wo „gegen die Zeit“ gearbeitet wird, sowohl innerhalb der Strukturen unserer eigenen Organisationsformen als auch durch Konzentration auf Ereignisse in Arbeiten oder in Situationen, die nur dann entschlüsselt werden können, wenn wir uns ihnen mit einem gewissen Maß an Aufmerksamkeit oder Gegenwärtigkeit zuwenden. Dies reicht von der Konzeption über den Prozess der Reflexion oder der Produktion von Kunst bis zu dem, wie wir ihr als Öffentlichkeit, als Leser begegnen. Die Kunst besitzt ein Gen, das dies vielleicht bereits von selbst bewirkt, eine Weigerung, ein Ausweichen, einen Rückzug von einer bestimmten Handlung mit einem feststehenden Ergebnis innerhalb einer bestimmten Ökonomie. Wenn ich deine Frage lese, fällt mir Franco „Bifo“ Berardis Enthusiasmus für Poesie als Exzess von Sprache ein, für Poesie als das Nichtaustauschbare der Sprache, das ihr neues Leben einhauchen kann – eine Sprache, mit der man den Finanzkapitalismus adressieren, ihn sogar unterbrechen oder überwinden kann. Auch die Kunst, in der es natürlich ebenfalls Stimmen gibt (auch im finanztechnischen Sinne, da Italiener in Excel-Tabellen das Wort „voce“ verwenden würden), überschreitet den Markt und ist in der Lage, ihn zu unterbrechen und mit ihm zu brechen. Kunst ist in diesem Sinne weder ausschließlich repräsentativ noch rein konstativ (etwas beschreibend), sondern sie „tut etwas“. Kunst tut etwas, ohne etwas zu tun. Ich muss lachen und höre hier auf: Denkt an Song Dongs poetische Übersetzungen vom Chinesischen ins Englische, poetische Kräfte des Nichtstuns. Nichtstun tut etwas.

Lazzarato: Sicherlich muss man die Bedeutung dessen, was „Kunst“ ist, erweitern. Guattaris „ästhetisches Paradigma“ bezieht sich nicht primär auf Kunst, sondern auf Formen sozialer Kreativität und auf das Werk von Marcel Duchamp, dessen erfolgreichstes Opus zweifellos seine Weise war, „in der Zeit zu leben“, seine Lebensweise überhaupt. Mich interessiert Marcel ­Duchamp vor allem deshalb, weil er eine „Arbeitsverweigerung“ praktizierte, die mit Kunst zu tun hatte. Wir haben gesagt, dass es schwierig sei, dieses Motto auf intellektuelle, kognitive Arbeit usw. zu übertragen, doch ­Duchamp beweist uns das Gegenteil; denn mit seiner Weigerung, künstlerischer Arbeit, wie sie zuerst im 20. Jahrhundert kodifiziert wurde, nachzugehen, entmythologisierte er die Kunst vollständig und rettete den Künstler – einen Künstler jedoch, der seine Untergrundaktivität fortsetzen muss, um dem Kunstmarkt zu entkommen. Die Idee, eine „Herberge für Müßiggänger“ zu eröffnen, in die nur Leute aufgenommen werden, die erklären, dass sie „nie arbeiten“, scheint mir ebenso revolutionär zu sein wie die Produktion von „Kunstwerken“ im Rahmen einer solchen Untergrundaktivität.

(Übersetzung: Robert Schlicht)