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DER ÜBERSCHUSS DES GLOBALEN Ein Gespräch zwischen Marion von Osten und Sarat Maharaj

Sidi Othman, Casablanca, 2008

Sidi Othman, Casablanca, 2008

Mit tiefer Trauer haben wir die Nachricht vom Tod Marion von Ostens am 14. November 2020 vernommen. In ihrem Gedenken veröffentlichen wir hier ein Gespräch, das Marion und Sarat Maharaj 2013 für die Globalisierungsausgabe von „Texte zur Kunst“ geführt haben. Darin widmen sie sich Fällen, in denen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen der Globalisierung Handlungsperspektiven abgewonnen und sie zur Produktion von Widerständigkeit genutzt haben. Treibende Kräfte für diese Positionen waren und sind nicht zuletzt die Erfahrungen der Dekolonialisierung und der Migration. Exemplarisch hierfür steht die Kunstzeitschrift „Souffles“, die in Algerien seit den späten 1960er Jahren erschien und in der die Bildsprachen des „Informel“ eine gänzlich andere Bedeutung erhielten als in der europäischen Nachkriegskunst. Von der Interaktion von Personen auszugehen erfordert dabei auch eine andere Geschichtsschreibung, eine andere Methodologie und auch einen Blick auf andere Ökonomien als der Blick aus einem vermeintlichen Außen auf das globale Kunstgeschehen. Nur so lässt sich eine Weltkarte der Kunst skizzieren.

Sarat Maharaj: Beim Nachdenken über das Globale gilt es im Vergleich zu den Diskussionen von vor zehn Jahren einer wichtigen Veränderung Rechnung zu tragen. Das bringt mich gleich zur Documenta11, bei der ich mit Okwui Enwezor zusammengearbeitet und in deren Zusammenhang ich einen Aufsatz mit dem Titel „Xeno-epistemics. On thinking the other and other ways of thinking“ veröffentlicht habe. Vielleicht taucht dies als Frage gerade wieder auf, da sich mittlerweile alle in der Kunstgeschichte für eine globale Perspektive zu interessieren beginnen. Bis zum Jahr 2000 drehten sich die Auseinandersetzungen um andere Modernebegriffe – etwa mit der Rede von der „Anderen Moderne“. Doch heute ist dieses Modell vom Anderen in gewisser Weise nicht mehr akzeptabel, widersprechen ihm doch die Realitäten in der Welt auf so drastische Weise. Das „Andere“ liegt nicht mehr am Rande des Empire, sodass wir es als Träger der Entwicklung einer Art Second-Hand-Moderne kommentieren, beargwöhnen oder besprechen könnten. Das „Andere“ ist hier, es ist mitten unter uns, mit uns verstrickt, und deshalb muss jetzt eine vollkommen andere Geschichte geschrieben werden.

Marion von Osten: Und das trifft nicht nur auf die heutige Situation zu, sondern z.B. auch auf das Zeitalter der Dekolonisierung – die von Stuart Hall so bezeichnete dritte Phase der Globalisierung –, in der Vorstellungen, Bilder und Texte vor dem Hintergrund der Konstituierung einer vollkommen neuen Weltordnung zirkulierten.

Maharaj: Deswegen gibt es Debatten über das Weltsystem in der Wirtschaftsgeschichte und im historiografischen Denken; über den Aufstieg des Westens ab 1960 etwa, bis hin zu den Debatten über den Begriff des Weltsystems mit Immanuel Wallerstein, der zur Wiener Plattform der Documenta11 beigetragen hat. André Gunder Frank ist diesbezüglich hochinteressant und faszinierend: Das Weltsystem, der globale Prozess bildet sich nicht einfach mit dem Kapitalismus heraus. Es sei nicht 500, sondern 5000 Jahre alt. Das ist der Titel seines Werks („The 5000 Year World System“, 1993). Und das stellt unsere Denkweise darüber, wie sich Wirtschaftssysteme entwickelt oder auch wechselseitig beeinflusst haben, damit das entstehen konnte, was wir als Moderne, als Kapitalismus, als Aufklärung bezeichnen, ganz erheblich infrage. Wenn sich die Kunstgeschichte nicht auf diese Form von Geschichtsschreibung einlässt, führt dies, so scheint es mir, nur wieder zu einer Art area studies, zu regional ausgelegten Forschungen, bei denen Platz für andere Kulturen eingeräumt wird, die in der Vergangenheit übergangen wurden. Entsprechend wird es, wie das schon mit einer Zeitschrift wie Third Text geschieht, Third Text Europe, Third Text Asia, Third Text South America und Third Text Africa geben. Man wird jedoch begreifen müssen, dass es nicht mehr einfach darum gehen kann, alle Teile der Welt mit an Bord zu holen, sie miteinander zu vergleichen oder sich anzuschauen, wie sie miteinander interagieren, sondern zu sehen, dass diese Interaktion einen Überschuss erzeugt, ein Surplus, das von uns sogenannte Globale. „Das Globale“ ist nicht einfach der Zustand des Verbundenseins der Welt, vielmehr ist es das, was aus diesem Verbundensein hervortritt. Und dieser Überschuss, den es hervorbringt, muss forciert werden.

von Osten: Das ist eine sehr vielversprechende Lesart des Globalen. Es bietet aber auch viel als analytische Kategorie, die eine Konzentration auf jenen Überschuss fordert, den transnationale Lebensläufe, Ökonomien ebenso wie transkulturelle Begegnungen herstellen. Genau dieser Überschuss ist es, der mich interessiert. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mich in meinen Projekten ganz besonders mit den postkolonialen Bedingungen künstlerischer und architektonischer Praktiken innerhalb und außerhalb Europas befasst. Die Ausstellung „In der Wüste der Moderne. Koloniale Planung und danach“, die in Berlin und Casablanca stattfand, untersuchte die Krise der Hochmoderne in den 1950er und 1960er Jahren, die den Zusammenbruch eines ganzen erkenntnistheoretischen Rahmenwerks, von der modernistischen Planung zur Partizipation etwa, zur Folge hatte. Im Rahmen eines Folgeprojekts der Laboratoires d’Aubervilliers in Paris habe ich zur Radikalisierung ästhetischer Praktiken in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren und zu deren möglichen Verstrickungen mit dem Niedergang der französischen Kolonialreiche geforscht. Die ersten Quellen in diesem Zusammenhang bildeten Gespräche mit dem Sohn von Chaibia Talal, denn sie war inoffizielles Mitglied der Gruppe COBRA, wie auch Ernesto und Sylvia Enkoba (Südafrika – Dänemark) oder der afroamerikanische Maler Herbert Gentry. Es gab auch asiatische und nordafrikanische Künstler*innen, die als wichtige Akteure im Feld von ungegenständlicher Kunst und Tachismus recht bekannt waren, also einer zweiten Ecole de Paris angehörten. Abstrakter Expressionismus und Ungegenständlichkeit haben, da sie zum Greenberg’schen Kosmos zählen, einen konservativen Beigeschmack. Schaut man sich allerdings die künstlerischen Praktiken nordafrikanischer Künstler wie Ahmed Cherkaoui, Mohammed Khadda, Mohammed Melehi genauer an, dann wird ganz klar, dass sie sich gegen die typischerweise apolitische Subjektivität europäischer Künstler*innen wandten. Ihre Suche nach einer neuartigen, radikal postkolonialen Ästhetik bedeutete, dass man sich mit dem kolonialen Erbe und mit der europäischen Avantgarde auseinanderzusetzen hatte. So wurde eben nicht nur im jeweils neuen nationalen Kontext gearbeitet, sondern auch im Austausch mit anderen translokalen und radikalen Praktiken. Die Künstler durchreisten nicht nur die europäischen Metropolen, sondern bildeten solche tatsächlich gleichzeitig auch in ihren eigenen Herkunftsländern heran. Da gab es keine Verspätung. Aber wenn ich mich so auf sie beziehe, dann nicht zur Behauptung eines neuen historischen Narrativs, das dann die „fehlenden Künstler*innen“ in den westlichen Kanon einschlösse, sondern vielmehr, um die erkenntnistheoretische Fassung des Begriffs einer zeitgenössischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg als westliche oder europäische Kunst zu hinterfragen. Was heißt das, zeitgenössisch sein, genau zum Zeitpunkt ihrer Entstehung Teil einer Bewegung zu sein, bevor diese als nationale oder weiß-männlich europäische oder US-amerikanische Avantgarde kanonisiert wird?

Maharaj: Ja, natürlich. Was du beschreibst, ist ein großartiges Beispiel für die Tatsache, dass künstlerische Praxis immer aus dem Durchdenken der Situationen entstanden ist, in denen sie sich jeweils befand. Das gleiche gilt für das Kuratieren. In den 1980er Jahren, gerade zu der Zeit, wenn ich an die erste Generation schwarzer, asiatischer, karibischer und afrikanischer Studierender denke, in eben der Universität, in der ich gerade als junger Lehrbeauftragter eingetroffen war und mit meiner Dissertation begonnen hatte, da tat diese Gruppe von Studierenden plötzlich lauter Dinge, die niemand verstehen konnte und die als Arbeitsweise von der etablierteren Kunstwelt auch nicht ernst genommen wurden. Da ging es nicht um die Schaffung gewaltiger Theoriesys­teme oder um utopische Projektionen. Das sind im Wesentlichen selbstabschottende europäische Kulturpraktiken, die nicht zuletzt mit in die Katastrophe geführt haben. Als schwarze Studierende mit diesen Dingen anfingen, hatten wir es in der ganzen Geschichte mit einem Mal mit einem dritten Element zu tun, denn sie setzten sich mit anderen Traditionen auf ganz andere Weise auseinander – eine Weise, bei der „das Marginalisierte oder Exkludierte“ eine Funktion erhielt. Und das bedeutete, alle möglichen Debatten um Geschlecht, Sexualität, Hautfarbe zu beginnen. Unsere Forderung war, als Zeitgenoss*innen in der Welt wahrgenommen zu werden und nicht als exotisierte, textualisierte Subjekte aus archaischen Zivilisationen, in gewisser Weise aus dem Archiv Hervorgeholte zu gelten, die auf alle Zeit ausschließlich unter dem Aspekt der Bezugnahme auf religiöse Texte wie den Koran oder schlichtweg im Sinne dessen verstanden wurden, was die Ethnografie über Inder*innen im 19. Jahrhundert gesagt hat. Es ging um die Frage, wie man als Teil der zeitgenössischen Gesellschaft sichtbar werden konnte, aber auch als eine im Entstehen begriffene Macht, durch die die Interaktionen dieser Welt neu gestaltet und neu bestimmt werden.

von Osten: Die Globalisierungsfrage stellte sich in meinem Umfeld durch politische Auseinandersetzungen auf einem ganz anderen Gebiet – und zwar im Zusammenhang mit städtischem Strukturwandel und plötzlich aufkommenden Gentrifizierungsprozessen in europäischen Städten. Prozesse wirtschaftlicher Globalisierung veränderten Berlin drastisch, als etwa der Potsdamer Platz an globale Unternehmen ausverkauft wurde. Das führte zu einer Art Schockzustand in einer Stadt, die in Verbindung zu dissidenten Kulturen in Ost und West stand, aber auch Widerstand und neue Bewegungsformen wie etwa die InnenstadtAktionen herausbildete, die als Netzwerk in verschiedenen Städten aktiv waren. Andere einschneidende Ereignisse waren nach 1989 die ersten Pogrome in Rostock, Mölln und Dessau. Diese neuen Erscheinungsweisen des brutalen und gewalttätigen Rassismus brachten auch neue Formen der Solidarität zwischen Kulturproduzierenden, migrantisch Selbstorganisierten und politischen Aktivist*innen hervor. Ereignisse und Aktionen wie diese halfen auch, den Begriff der Nation neu zu überdenken und neue Aktionsformen zu erfinden. Das waren Impulse, die auch für die Ausstellung „Projekt Migration“ im Jahr 2006 wichtig wurden, bei der Migration als eine Vielzahl von Einzelprojekten verstanden wurde, die man als eine soziale Bewegung betrachten kann, durch welche das EU-Grenzregime radikal infrage gestellt wird. Statt sie also außer Acht zu lassen und sie als ein alternatives „Anderes“ anzusehen, haben wir festzustellen versucht, wie Globalisierung vor der eigenen Haustür aussieht, einschließlich all der Hindernisse, die ihr entgegenstehen.

Maharaj: Dieser Bereich der Aktivität, der Einmischung, des Engagements, von dem du sprichst, ist Teil einer größeren sozialen Welt. Und es scheint sich dabei nicht um die Art Material zu handeln, für die sich Kunstgeschichte damals interessiert hätte. Die Ursprünge kunsthistorischen Denkens liegen in den Traditionen des Denkens und in der Logik der Disziplin. Du dagegen lässt dich ganz unmittelbar auf die Welt ein, und es scheint, dass das für mich gleich eine Resonanz hat, wenn ich an das London der 1980er und 1970er Jahre zurückdenke. In den 1970er Jahren hatten einige wirklich drastische Gewalttaten und Übergriffe gegen Menschen mit Migrationshintergrund in London stattgefunden. Die ganze Frage nach der „Rasse“ stellte sich mit einem Mal auf sehr dramatische Weise. Und dann stolperten Leute wie wir in Bereiche hinaus, die jenseits der sauber markierten Grenzen der Kunst lagen. Wenn ich an die Entwicklung der Kunstgeschichte zurückdenke, dann hat es etwa sieben Jahre, von 1980–1987, gebraucht, bis es endlich anlässlich der Tagung des Britischen Kunsthistorikerverbands, „Picturing ,Other‘ Systems of Art: Art History and Eurocentricity”, 1989 zu dieser Debatte kam.

von Osten: Auch Kategorisierungen wie „Rasse und Kultur“ sind das Erbe kolonialer Wissensproduktionen, wie auch der Begriff der Assimilation oder der vom „Entwicklungs“-Diskurs. Eine der interessantesten Zeitschriften, die man unter diesem Aspekt noch einmal lesen sollte, ist die zwischen 1966 und 1972 erschienene Souffles, die in Rabat von Schriftsteller*innen, Dichter*innen und Künstler*innen herausgegeben wurde – einer Stadt, die in Verbindung mit dem Trikontinentalismus und den panafrikanischen Festivals stand, bei denen all diese politischen und ästhetischen Anliegen ihren Ausdruck fanden. Die Einleitung der Sonderausgabe über bildende Kunst, die Abdellatif Laabi, der Herausgeber der Zeitschrift Souffles verfasst hat, ist höchst aufschlussreich, denn in ihr zeichnet sich die nach der Unabhängigkeit in Marokko tätige Malergeneration ab, die sich vor allem durch das Experimentieren mit Ungegenständlichkeit und mit Leitsystemen auf die Suche nach einer postkolonialen Ästhetik begeben hatte. Laabi spricht an dieser Stelle das zentrale Problem an, das aus der Erforschung der Kunst- und Kulturgeschichte durch westliche Wissenschaftler*innen nach der Unabhängigkeit ausgelöst wurde. Da die einzigen damals existierenden Texte von europäischen Archäolog*innen, Anthropolog*innen, Soziolog*innen, Geograf*innen und Kunsthistoriker*innen stammten, trugen diese Forschungen spezifische Vorurteile über sogenannte Unterentwicklungen wie auch „rassisch“ gedachte Kategoriebildungen inklusive normativer Vorstellungen über lokale Kultur- und Ausdrucksformen mit sich. Diese Form der Wissensproduktion setzte nicht erst mit dem Kolonialismus ein, sondern lange davor – und, so kann man hinzufügen, sie dauert bis heute an. Eine der Kategorisierungen, die sich für Post-Unabhängigkeits-Intellektuelle am schlimmsten auswirkte, war Laabi zufolge die Konstruktion der hierarchischen Unterscheidung zwischen „High“- und „Low“-Kultur. Sich an dieser Spaltung abzuarbeiten, bedeutete die wichtigste Herausforderung für die neue, in den 1960er Jahren aktive Generation. Es ging darum, gegen die folkloristische Interpretation lokaler Kulturproduktionen als „naiv“ oder „vormodern“ anzugehen. In derselben Ausgabe spricht die Kunsthistorikerin Toni Mariani aus, dass zu dieser Last auch die Orientstudien zum Ornament und zu den dekorativen Künsten in Nordafrika beitrugen. Ein Maler wie Mohamed Melehi thematisiert dies durch seine Neubewertung des räumlichen Ornamentgebrauchs als populäres Zeichensystem. Zugleich versteht er die kulturelle Tradition als visuelle Kommunikation, die zu populären Kunstformen überleiten kann. Melehi war auch Mitherausgeber von Souffles, und die Vielzahl der Rollen, die er übernahm, war damals auch für andere Künstler*innen wichtig. Die Künstler*innen um Souffles erteilten den Sprachen des Orientalismus und anderen kolonialen Stilschulen, die sich auf die bourgeoise Geschmacksbildung auswirkten, eine Absage, wohingegen man – wie sich das in Souffles nachlesen lässt – die am Bauhaus entwickelte Synthese aus Kunst und Handwerk als einen möglichen Ausweg erachtete. Das alles ist hochinteressant und aufschlussreich. Aber was bedeutet es, mit diesen historischen Materialien umzugehen und mit ihnen Ausstellungen und Texte zu produzieren?

Maharaj: Natürlich gibt es für deine Situation keine fertige Methodenlehre.

von Osten: Was die Methodik betrifft, schafft das eine Menge Probleme – wie schon beim Beschreiben oder Ausstellen dieser Erkenntnisse besteht die Gefahr, dass man sich als jemand positioniert, der den Überblick über diesen Moment, diese Praxis, diese Regionen besitzt. Aber angesichts all dessen, was wir zuvor erwähnt haben, hat man den nicht und kann ihn auch nicht haben. Und meiner Ansicht nach ist das ein Hauptproblem heutigen Kuratierens; man gibt oft vor, man habe den Überblick über ein Thema, und nun gehe es nur noch darum, zu der „besseren“ historischen Schlussfolgerung zu kommen. Dieses Feld betritt man aus einer Affinität zu dieser Praxis heraus, bei der man vielfältige Rollen übernimmt, bei der man sich politisch positioniert, sich mit künstlerischer und verlegerischer Produktion beschäftigt. Eine andere Art und Weise, dort hineinzukommen, würde eine viel konkretere Beziehung zum eigentlichen Objekt voraussetzen. Man würde aus dieser Begegnung heraus eine Miniatur oder eine Episode schaffen, keinen allgemeinen Überblick, keine weitere Weltkarte.

Maharaj: Ulrich Beck spricht immer von der Suche nach einer kosmopolitischen Methodologie. Im Grunde will er einen Ausweg aus dem finden, was er den „nationalen Container“ genannt hat: aus Methoden heraustreten, die vom Begriff des Territoriums und vom territorialen Denken geprägt sind. Heutzutage deportieren wir ganz legal Menschen dorthin, wo sie hergekommen sind. Das erscheint mir wirklich sehr bizarr. In der Welt, in der wir heute leben, muss die Idee, jemand dahin zu deportieren, wo er oder sie herkommt, wie ein Wahnsinn erscheinen, denn die Welt ist so verwoben, dass man diese Personen nur umherschiebt. Es ist sinnlos, in diesem nationalen Begriffsrahmen zu denken, bei dem es ein Außen gibt, im Verhältnis zu dem Ausschlüsse geschaffen werden. Die Interaktionen haben in der heutigen Zeit, ob sie nun durch die Globalisierung oder unter dem Druck einer 5000-jährigen Geschichte zustande gekommen sind, einen Überschuss produziert. Und dieses globale Bewusstsein ist es, mit dem wir uns zu beschäftigen haben; es überströmt alle Grenzen und Trennlinien, die wir möglicherweise ziehen oder festschreiben wollen. Und das führt zu der Suche nach dieser kosmopolitischen Methodologie. Nun habe ich mich in meinen Gesprächen mit Ulrich Beck auch so gefühlt, als ginge es um die Ermittlung eines transzendentalen Standpunkts. Dabei könnte es sich ja auch weit eher um eine Methodologie des Umherschweifens handeln, die teils eine Methodologie des Collagierens, teils eine des Auffindens jenes Epiphanischen wäre, wie bei Walter Benjamin („Passagenwerk“), James Joyce („Ulysses“) oder Humphrey Jennings („Pandemonium“): eine Art der Entfaltung eines intensiven Augenblicks, sodass es um den beständigen Gebrauch des Vorhandenen geht, der dieser besonderen Situation gerecht würde oder uns ein Verständnis für sie vermitteln könnte.

von Osten: Das Partikulare und Singuläre würde doch erneut zu einem anderen Begriff des Globalen führen.

Maharaj: Ja, das „Globale“ könnte man einfach als das sehen, was der globale Kapitalismus in den vergangenen 20 Jahren produziert hat, manche Leute glauben, das sei die Globalisierung. Andere wiederum glauben, sie bestehe seit den ersten Anfängen des industriellen Kapitalismus; also 500 Jahre, wenn man es in die Renaissance und auf den Zusammenbruch der Alten Welt zurückdatiert. Wieder andere glauben, China sei bis 1750 noch die wichtigste Supermacht weltweit gewesen; bis 1750 war Indien auf dem Gebiet der Textilproduktion und auch im Bereich der Wissenschaft, der Medizin usw. führend; das geschah damals allgemein im Osten. Natürlich war auch die islamische Welt von großer Bedeutung, aber dort fanden vor allem Synthesebewegungen, Erweiterungen, Brückenschläge statt; neue Stimmen kamen zum Tragen, und man speiste sich aus älteren, inzwischen islamisierten oder von islamischer Präsenz geprägten Zivilisationen. Das globale Denken gibt es seit der Minute, in der wir darüber nachzudenken beginnen, wer wir sind – und das ist bestimmt keine Erscheinung der letzten 20 Jahre –, und in diesem Sinne müssten wir nach einer Methodologie Ausschau halten, bei der es um diese Verbindung verschiedener Werkzeuge geht. Diese Vermischtheit im Methodologischen ist für mich eines der interessantesten heute existierenden Dinge. Hierher gebracht haben es Praktiker*innen, nicht Historiker*innen oder Theoretiker*innen.

von Osten: Du hast mit diesen Ideen bei der Guangzhou-Triennale 2008 unter dem Titel „Farewell to Postcolonialism … Towards a Post-Western Modernity“ gearbeitet. Diese Position impliziert auch, dass nicht nur vom westlichen Kapitalismus ausgelöste soziale und ökonomische Prozesse in Betracht zu ziehen sind, sondern auch solche, die ihren Impuls von ganz anderen Formen des Handels, der Begegnung, des Reisens erhielten.

Maharaj: Von den 1920er Jahren an wird unglücklicherweise das, was bei Marx nur ein paar en passant gemachte Bemerkungen zum asiatischen Produktionsmodus waren, zu einem Systemversagen gewaltigen Ausmaßes, durch das sämtliche Kulturen außerhalb Europas und Amerikas unter diesem asiatischen Produktionsmodus eingeordnet werden, der entweder Rückständigkeit bedeutete oder so gelesen wurde, dass es dort um ein Aufholen gegenüber dem Westen gehe. Diese Idee vom „Aufholen“ wird bis in den Bereich der Kunst, bis in die Kunstschulen hinein zum Zentralnarrativ. Ich glaube, Habermas sprach von der „nachholenden Revolution“?

von Osten: Ja, „das Nachholende“.

Maharaj: Habermas geht darauf ein und sprach ganz ironiefrei von der Tatsache, dass Osteuropa, sowie erst einmal die Mauer gefallen sein wird, „mit uns aufholen wird“. Du siehst also, dieses Motiv kehrt immer wieder …

von Osten: … Wie wird man ein modernes Subjekt? Dieser Begriff des „Aufholens“ oder „Nachholens“ trifft sich mit einem anderen Anliegen, das ich mit dem Begriff der (Wieder-)Aneignung verbinde. Er besagt, dass es vorher etwas gab, ein Original, das (wieder-)angeeignet wurde. Gerade die Postcolonial und Transcultural Studies haben ihn oft benutzt. Mir wird bei diesem Begriff immer unwohler, weil er suggeriert, es gebe einen zweiten, nachgeordneten Schritt nach dem ersten.

Maharaj: Ich glaube, wir müssen erkennen, dass viele Dinge neu entstanden sind, als erste Aussprache von etwas.

von Osten: Es ist immer die erste Aussprache!

Maharaj: Es ist immer die erste Aussprache! Wie sehr es auch so scheinen mag, als habe man es mit Elementen in einer Echobeziehung, mit entlehnten Elementen zu tun, ist doch das Produzierte, das Erzeugte, das Hervorgebrachte die erste Aussprache, denn sie ergibt für diese Welt als Weise der Welterfahrung und -visualisierung einen Sinn. Und deshalb scheint es sich für mich bei dieser Vorstellung, „Wir gehen jetzt in die Museen und werden all das, was lange als der Besitz eines Anderen galt, sozusagen enteignen oder zu unseren eigenen Bedingungen wiederaneignen“, allzu sehr um eine Art reaktive Ästhetik zu handeln oder um eine reaktive Geisteshaltung, nach der man ausschließlich dann sein kann, wenn man sich gegen irgendetwas antagonistisch in Stellung bringt. Sicher gibt es Machtbeziehungen, und auch die mit dem Kolonialismus aufgekommenen Herrschaftsbegriffe werden wir nicht außer Acht lassen. Es gibt den Sklaven, der an der westafrikanischen Küste steht, der jetzt seiner Stammesidentität, seines Namens, seiner Familie, aller Dinge beraubt ist und nun möglicherweise einfach als ein Bio-Tool, als ein Werkzeug innerhalb dieses in Entstehung begriffenen protokapitalistischen Systems zur Arbeit in einer Plantage über den Atlantischen Ozean geschickt wird. Aber selbst noch unter diesen Bedingungen hat auch dieser Sklave Gedanken und Gefühle, und er tut allerlei Dinge, die man von einem Werkzeug nicht erwarten würde. Die Vorstellung, dass die Sklaven nichts sind, ist fester Bestandteil kolonialer Herrschaft, und die Tatsache, dass sich irgendetwas immer zusammenbraut, dass immer gerade etwas im Entstehen ist, ergibt eine Art nichtreaktives Denkmodell.

von Osten: Ich habe gerade Édouard Glissants Texte über Faulkner gelesen. Er untersucht dessen Romane nicht auf andeutungsweise rassistische Untertöne, sondern beschreibt den nach der Sklaverei lebenden schwarzen Plantagenarbeiter als eine Figur. Als eine Figur, die für Ungleichheit steht; eine Figur, die ständig Probleme macht und sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht wirklich beherrschen lässt. Glissant betrachtet das – eine opake Figur zu sein und zu werden – als eine Form des Ungehorsams. Und ich glaube, damit wendet er sich gegen solche soziologischen, ethnografischen, künstlerischen oder aktivistischen Praktiken, die dem Anderen so nahekommen wollen wie nur möglich, um es zu verstehen, um auf seiner Seite zu stehen. Glissant erblickt darin den weitaus gefährlicheren Ansatz.

Maharaj: Richtig, denn wir haben imaginiert – was das Andere ist –, und dem wollen wir nun einfach näherkommen. Mit meinem Begriff des Unübersetzbaren habe ich zu zeigen versucht, dass es bei diesem Unübersetzbaren um die Gehorsamsverweigerung gegenüber diesem anmaßenden Bild geht. Und das liegt nicht daran, dass das Andere irgendein geheimnisvolles, unübersetzbares Rätsel wäre, sondern dass dieses Andere auf seine eigene Weise in Erscheinung tritt, die noch zu erlernen ist, der zuzuhören noch gelernt sein will.

von Osten: Und um jetzt noch einmal auf spezifische Produktionsweisen zurückzukommen, die keine Anerkennung als Modernisierungsformen gefunden haben: Historisch gesehen wurden sie in der Arts-and-Crafts-Bewegung und auch in der Weimarer Phase des Bauhauses durchaus in Betracht gezogen. Das sind tatsächlich Begriffe, die in den Beiträgen zu Souffles Widerhall finden. So durchkreuzen Populärkultur, Handwerk und Manufakturwesen den Gipfel der Modernisierung, den Fordismus.

Maharaj: Ja, und diese arbeitsame Revolution (Industrious Revolution) bedeutet eine interessante Infragestellung der Auffassung, nach welcher es nur eine einzige Reise gab, die von der Menschheit in Richtung Zukunft angetreten worden ist, und das sei die industrielle Revolution. Wir reden hier nicht von den „Übeln“ des Kapitalismus oder Ähnlichem, obwohl wir natürlich die Folgen im Auge haben: die Erniedrigung, die Ausbeutung. Eigentlich reden wir darüber, ob es eine solche Vielfalt an Produktions- und Kreationsmodi gegeben hat. Ich habe den Kapitalismus als eine Produktionsform zu definieren versucht, die Unterentwicklung und nicht Entwicklung schafft, die Mainstream-Version der Geschichte. Von der anderen Seite aus betrachtet, muss ein Teil der Welt – der normalerweise als die Peripherie, als der Rand des Westens gesehen wird – unterentwickelt sein, damit im Westen Entwicklung stattfinden konnte. Meiner Einschätzung nach gibt es heute zwei Veränderungen dieser Geschichte: Die erste besteht darin, dass in der heutigen Globalisierung die Unterentwickelten ihre Reise direkt ins Herz der sogenannten entwickelten Welt anzutreten haben, um eben diese entwickelte Welt am Leben zu erhalten. Die zweite ist, dass diese Parteien sich selbst am Leben halten müssen. Die Kommunikationskreisläufe verändern sich. Es gibt nicht mehr den ausgebeuteten Arbeiter, der irgendwo da draußen das koloniale Subjekt wäre und den wir nie zu sehen bekommen; vielmehr sind sie es, die hierher gekommen sind, jetzt gerade und auf viele, viele unterschiedliche Weisen. Und mit der Bewegung der Arbeit über die Grenzen, über die Trennlinien zwischen Ost und West, Nord und Süd hinweg, entstehen industriell unterentwickelte Gebiete immer stärker hier im Herzen der Entwicklung. Also kann der Kapitalismus zu Umkehrbewegungen innerhalb seiner eigenen entwickelten Zonen führen. Und dann erkennt man auch, was De-Industrialisierung heißt. Es geht nicht nur darum, dass die Menschen etwa durch den Thatcherismus Einbußen erlitten hätten, sondern auch durch diese andere Geschichte, also die von der Linken und merkwürdigerweise auch von der Rechten gemeinsam vertretene Überzeugung, dass auf höchstem Niveau gemachte technologische Errungenschaften zu immer fortgeschrittenerer Entwicklung führen müssen.

von Osten: Der Kapitalismus ist aber auch blind gegenüber anderen Produktionsformen. Er kann sie nicht einmal als gültige Form begreifen. Doch Künstler*innen und die Postkolonialen wie Tagore oder die von mir erwähnten anderen Beispiele begannen sie anzuerkennen. Hier setzte auch in den 1970er und 1980er Jahren die Kritik eines feministischen Ökonomismus an. Heutzutage wird mit dem, was Commons, Postkapitalismus oder was präfigurative Praktiken genannt wurde, der Faden anderer Produktionsformen wieder aufgegriffen.

Maharaj: Ja. Das findet auch in Gandhis Ansicht seinen Ausdruck, nach der wir letzten Endes bei selbstorganisierten Gemeinschaften ankommen werden, die er sich anarchistisch vorstellte, und mit Anarchismus meinte er im Grunde nichts anderes als Selbstorganisation, die ihre Grundlage in der Kreativität der Menschen haben sollte. Wir sehen vielerorts Anzeichen für die Entstehung solcher Möglichkeiten, die in unserer Zeit im Sinne von Kleinunternehmertum oder einer „unternehmerischen“ Kreativität der Menschen beschrieben werden; es wird davon ausgegangen, dass die Menschen immer Unternehmer sind. Vielleicht würde ich es nicht so zugespitzt formulieren, dass der Süden zurückkehrt, denn das würde sicherlich eine Überbewertung des Südens bedeuten. Deshalb habe ich mich auch auf Gandhis Bahnreise über den südafrikanischen Gebirgszug bezogen – den Drakensberg, der über eine der weltgrößten Fundstellen paläolithischer Felsenkunst verfügt –, bei der man ihn Ruskins „Diesem Letzten“ lesen sieht. Das erscheint einem zunächst als eher unpassende Lektüre! Bei seiner Ankunft in Durban beginnt er mit einer Übersetzung dieses Textes ins Gujarati – Sarvodaya, ein Schlüsseltext für das Durchdenken des Weges zu einem befreiten Leben jenseits des Kolonialismus. Bei diesem „Transportprozess“ können wir nicht den globalen Süden als etwas sehen, das einfach dem Norden gegenübersteht. Vielmehr erkennt man die Verbreitung von Ideen „aus dem Norden“, die mit neuen Hinzufügungen „im Süden“ – im Schatten des Paläolithikums – in einem Akt des Hinübertragens und Wiedererklingen-Lassens umgestaltet und neuen Nutzungen zugeführt werden. Man bekommt eine Vorstellung von einem globalen Prozess, der nicht 500, sondern 5000 Jahre umfasst.

Übersetzung: Clemens Krümmel

Marion von Osten (1963-2020) war Kuratorin, Forscherin und Autorin. 2014 übernahm sie die Position der Kuratorin und künstlerischen Leiterin des bauhaus imaginista (2018-2019). Von 2006 bis 2012 war sie Professorin für Kunst und Kommunikation an der Akademie der bildenden Künste Wien und lehrte von 1999 bis 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und als Professorin für künstlerische Praxis am Institut für Theorie der Kunst und Gestaltung der ith ZHDK, Zürich. Davor war sie Kuratorin an der Shedhalle Zürich (1996-1999). Sie war Gründungsmitglied des Center for Post-colonial Knowledge and Culture (CPKC, Berlin).

Sarat Maharaj ist Autor, Forscher, Kurator und Professor für Visual Art and Knowledge Systems an der Universität Lund und der Kunstakademie Malmö, Schweden.

Image credit: Marion von Osten