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Alina Astrova

Unerträgliche Leichtigkeit: Däumelinchen geht in den Club

Hans Bellmer, „La céphalopode double“, 1965

Das Kind des neuen Jahrtausends legt den Kopf in seine Hände – ein externes kognitives Synthesegerät, ein durch Berührungen gesteuertes neuronales Zentrum. Was geschah in dem Moment, da sein Kopf vom Körper getrennt wurde? Was sieht der Kopf, wenn er aufs Neue auf den Körper zurückblickt? Was spielt sich jetzt in dem Raum ab, den der Kopf einmal einnahm?

Im folgenden Beitrag, der den Auftakt dieser Ausgabe bildet, geht die Londoner Musikerin Alina Astrova der Subjektivität des neuen Jahrtausends nach, das mit allerlei neuartige Geräten und umstrukturierten Bauteilen gespickt ist: Die Verknüpfung von Körper und Identität erscheint neu verdrahtet.

Bei seinen unausgesetzten Versuchen, „den Körper aus dem Zustand der Sucht oder der Unter­jochung durch das Fleisch gewordene Wort“ [1] zu erlösen, definiert Michel Serres die gegenwärtige Revolution der Sprache durch die Tatsache, dass sich nicht nur unser Wissen (das sich bereits mit dem Aufkommen des Druckwesens emanzipiert hatte), sondern auch das zu dessen Verarbeitung benutzte Betriebssystem in den Computer externalisiert hat. Im Innenraum des Kopfes, so schreibt er, gibt es inzwischen eine Absenz, einen Ort für „erfinderische Intelligenz“. Sein kopfloses Subjekt heißt „Däumelinchen“, und dies ist ein Codename für das Kind der Jahrtausendwende: „namenlos, gewiss, aber individuiert“, „weniger eine Quantität als vielmehr eine Qualität, eine Existenz“. [2] Wenn er darüber reflektiert, wie neue Technologien die Entwicklung einer neuen Art geistiger Prozesse ermöglicht haben, stellt sich Serres die Frage, warum unsere Verhaltensweisen noch immer von veralteten Rahmenbedingungen geprägt sind: Wie kann es nur sein, dass wir „die Ankunft der Gegenwart nicht bemerkt“ haben? [3]

Serres’ Vertrauen auf das revolutionäre Potenzial der Technologie bei der Emanzipierung erfinderischer Intelligenz erinnert an die im frühen 20. Jahrhundert verbreitete Begeisterung für die Zukunft der Musik, die durch die Ankunft elektronischer Verstärkung begründet wurde und die das Phänomen eines vom Akt der orchestralen Aufführung unabhängigen Sounds begreiflich machte. Der italienische Komponist und Pianist Ferruccio Busoni sprach im Jahr 1907 von einer befreiten Musik, „die schwebt, ihre Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft“. [4] Als er 1912 für Djagilew die „Jeux“ komponierte, sah Debussy vor seinem geistigen Auge ein Orchester „ohne Füße“: „Nicht dass ich an eine Gruppe von Musikern dächte, die einzig und allein aus beinlosen Krüppeln bestünde! Nein! Ich denke vielmehr an jene orchestrale Färbung, die wie hinterleuchtet erscheint.“ [5] Ergebnis ist Debussys wichtiges Spätwerk, das sich neben anderen Aspekten just durch diese orchestrale Färbung hervortut – durch die Qualität eines musikalischen Klangs oder, anders gesagt, durch sein Timbre. Gerade in Hinsicht auf die Einbeziehung des Timbreaspekts in den Kompositionsprozess sah Pierre Boulez dieses Stück als Paradebeispiel für „orchestrale Invention“, im Gegensatz zu dem, was er „orchestrale Einkleidung“ nannte. [6] Es war erst in Voraussicht der Logik der Klangsynthese, dass sich Debussy ein Orchester nicht als Ansammlung von Zierrat benutzter Instrumente vorstellte, sondern als Ausdruck seiner eigensten Qualität. Däumelinchen-als-Existenz, das ist der Widerhall der modernistischen Vorstellung vom Orchester-als-Qualität; in Serres’ kopflosem Subjekt spiegelt sich Debussys beinlose Musikergruppe.

Möglicherweise beschränkte sich die orches­trale Invention in den „Jeux“ im Großen und Ganzen auf einen Vorsatz. [7] Dass Debussy jedoch aus den engen Begrenzungen seiner Situation heraus die Möglichkeit eines beinlosen Orches­ters zu denken vermochte, ist schon durch seine Voraussicht bedeutsam. Erst Jahrzehnte später sollte sich sein Bestreben durch die Popularisierung jenes Synthesizers in die Wirklichkeit umsetzen lassen, der die Befreiung der Produktion von Timbre aus dem Körperhaften von Live-Instrumenten bewirkte. In der House-Musik mit ihrer vollkommenen Überwindung des performativen Charakters von Rock kam das Potenzial für den Ausdruck der seinshaften Qualität musikalischen Klangs zur Anwendung – während diese Performanz bei den vorangegangenen Disco- und Elektronikmusiken der 1970er Jahre noch einigermaßen präsent geblieben war. [8] Nachdem sie Debussys Prophezeiung erfüllt hatten, waren die Denkweisen der House-Produzenten der 1980er Jahre bereits unwiderruflich auf das 21. Jahrhundert ausgerichtet, wo, im Dunkel eines Clubs, Existenz nicht mehr im Körper eingeschlossen bleiben konnte.

Auf der Suche nach der Paradise Garage von heute stößt Däumelinchen auf die Unterhölle, einen Vintage-Shop, in dem die futuristischen Experimente vergangener Zeiten in Identitätsdatenbanken kompiliert werden, aus denen sich heutige Producer/innen Ensembles zusammensuchen können. Im jüngsten Synthesizer-Revival tritt unmissverständlich die von Serres beklagte Beschäftigung mit längst überflüssig gewordenen Rahmenbedingungen zutage. Das wiedererwachte Interesse an diesen Maschinen scheint mit einer bestimmten Erkenntnis entstanden zu sein: Dass sich nämlich die mit dem Erreichen der Soundsynthetisierung freigesetzte Bewegung – eine Ausrichtung auf einen Ort jenseits der Moderne, hin zur Clubkultur – mit dem Fortschreiten digitaler Technologie als begrenzt erwiesen hatte. Die Erforschung der Möglichkeiten des Computers brachte unweigerlich die Grenzen der ihm vorangegangenen Technologie zum Vorschein, und das weckte wiederum den Wunsch nach der Wiedererlangung ihres Status. Es scheint fast so, als ließen sich in der Wiederbelebung desjenigen Augenblicks, in dem modernistische Wertvorstellungen überwunden wurden, plötzlich postmoderne Ideale irgendwie gegen den Verlust von Handlungsfähigkeit immunisieren, den diese nachfolgend erfahren mussten. Diese Suche nach einer verlorenen Freiheit ist ein Prozess, durch welchen eben das, was an jener Zeit frei war – ihre Bereitschaft für das Neue –, zur Ikone gerinnt. Der Synthesizer als Modell: Ihn heute anzuwerfen, ihn laufen zu lassen, ist kein Akt der Befreiung der Existenz vom Körperhaften mehr. Es ist ein Akt der Nostalgie, Nostalgie nach der Möglichkeit einer solchen Befreiung, zu einem Zeitpunkt, an dem das Potenzial der Computer selbst zwielichtig wird.

Ludmilla Schollar, Vaslav Nijinsky und Tamara Karsavina in „Jeux“, 1913

Was heutige Producer/innen im Synthesizer suchen, das versucht Däumelinchen im eigenen Körper zu finden. In ihren Händen hält sie das Gerät, in das hinein sich ihr Kopf verlagert hat. Wenn sie nach unten starrt und an anderen vorbeigeht, die ebenso in ihre Mobiltelefone versunken sind, ersetzen Torso und Gliedmaßen die Gesichter als Erkennungsmerkmale unter Fremden. Aufgrund dieser neuartigen Haltung begegnet Däumelinchen – wie zum ersten Mal – dem Rest ihres Körpers und vertieft sich zunehmend in ihn. Sie verändert ihn, lässt ihn hungern, trainiert ihn. Sie sorgt sich um die Qualität der Nahrung, die sie konsumiert, hat Angst um ihre Gesundheit. In den Club geht sie wegen ihrer immer neuen Begeisterung darüber, wie sich ihr eigener Körper und wie sich die Körper der anderen bewegen. Sie macht Gebrauch von ihm, solange es geht, im vollen Bewusstsein, dass Gelegenheiten selten sind. Weil sie spürt, dass Maschinen ihr physisch überlegen sind, hält Däumelinchen die Bedeutung des Körpers als Identitätsort aufrecht. Ihr Kampf erfährt taktische Unterstützung, berechnet die Obrigkeit doch, wie viel Macht sich aus Däumelinchens hartnäckigem Festhalten an der Zuweisung bestimmter Identitäten an spezifische Körper gewinnen lässt. War traditionell das Schaffen sozialer Identitäten Sache des Staates, die diesen korrekt funktionieren ließ und das „den Regierenden die Möglichkeit [gab], die Regierten zu verstehen“ [9] – dann liegt ein zweifacher Nutzen im Outsourcing dieses Jobs. Wenn Däumelinchen ihre eigenen Kategorien generiert, unterwirft sie sich der Illusion der Selbstermächtigung; zugleich aber wird es wahrscheinlicher, dass sie sich mit noch größerer Strenge an diese Kategorien hält.

Däumelinchen produziert und verwirklicht ihre Sucht nach dem Identitätskörper zu einem Soundtrack der Isolation, den diese Feedbackschleife mit sich bringt – und der Staat streicht den Gewinn ein. Der Wert, dass eine Identität unmittelbar in der Spezifität eines entsprechenden Körpers Ausdruck findet – trans, russisch, anorektisch –, erzeugt die Gleichsetzung der Identität mit den Körpern und damit indirekt auch deren Austauschbarkeit.

Im Sinne der Logik dieser Austauschbarkeit werden die Online-Informationen, die Däumelinchen über ihre Identität zur Verfügung stellt, zu Daten, die dazu benutzt werden können, sie physisch zu orten, „away from keyboard“. Indem die Daten die trügerische Prämisse stützen, dass das zunehmende Teilen solcher Informationen Grundlage einer wachsenden Kollektivität werden könnte – eine Summe unterschiedlicher Teile, die sich gegenseitig nachzuahmen beginnen und in Folge auf Selbstüberwachung basierende Support Groups einrichten –, akkumulieren Kontroll­mechanismen in immer stärkerem Maße detaillierte Richtlinien für ihr Profiling. Dies wiederum ermöglicht das präventive und unbeschränkte Management des physischen Körpers in einem Zeit-Raum, der der Anwendung des Gesetzes vorgeordnet ist. Das Verbinden körperloser Identitäten im Onlinestatus arbeitet damit zugleich der Isolierung entsprechender physischer Körper offline zu. Wo nämlich das Bild des Körpers nie in Erscheinung treten muss, lässt sich eine kollektive Wirklichkeit nur ausdrücken als Konnektivität der vielen Identitäten, die das Netzwerk schmücken.

Im Bewusstsein der Tatsache, dass sich die demokratische Qualität eines Bildes – das es den Däumelinchen ermöglicht, füreinander in Erscheinung zu treten und so eine gemeinschaftliche Wirklichkeit zu konstituieren – nicht innerhalb der Grenzen der Abhängigkeit von Identität-als-Fleisch kommunizieren lässt, will Serres den Körper aus seiner Gleichsetzung mit der Identität befreien. Er zielt nicht darauf, Identität zu überwinden, zu unterdrücken oder auszuweiten, indem er Post-Gender-Körper, entgenderte Subjekte oder Cyborgs erschafft. Vielmehr ruft Serres zur Kodierung von Identitäten auf – und damit auch zur Störung der Identitäts-Körper-Korrelation. Ein Code – der ausreicht, „die Anonymität zu wahren und zugleich freien Zugang zu gewähren“ [10] – entspreche nicht einem spezifischen Körper, schlägt er vor, sondern fungiere als Pseudonym für diesen. Die Erfahrung, im Besitz eines solchen Pseudonyms zu sein, ist verlockend, ist sie doch jedem und jeder zugänglich. Was wäre das für eine Musik, die sich in ähnlicher Weise codiert ausdrückt wie das Pseudonym, das Däumelinchens Sucht zu brechen vermag?

Sollte man es als einen Versuch zur Wiedereinführung eines demokratischen Elements in die gesellschaftspolitische Organisation der neuen digitalen Ordnung verstehen können, dann könnte das Pseudonym als Grundlage für den von Boulez vorgeschlagenen Inventionsprozess dienen. Wo Verkleidung als eine Strategie des Zusammenheftens statischer Einzelteile (vergangener Errungenschaften, die man rückschauend in die Unbeweglichkeit von Ikonen versetzt hat) zur Anwendung kommt, um eine Illusion von Bewegung zu erzeugen – hier wird Invention zur Notwendigkeit, wenn es um die Versöhnung in sich selbst dynamischer Einzelteile geht. Es liegt im nicht statischen Wesen des Pseudonyms begründet – das schließlich eine Bewegung zwischen dem Allgemeinen und dem Partikularen erzeugt –, dass es sich zur Codierung und Invention als Methoden politischer Organisation von Kollektivität eignet und dem Verkleidungscharakter, dem Ergebnis des Profiling von Körpern in die Isolation hinein, widersteht. Nähert sich Serres’ Däumelinchen modernistischen Ideen an, dann nicht aufgrund nostalgischer Ehrerbietigkeit vor statischen Monumenten. Die Moderne selbst wie einen Code zu behandeln, sie in Bewegung zu versetzen, ermöglicht den Zugang zu dem, was sich in jedem Moment der Veränderung ausdrückt: die Erwartung jenes Neuen, das stets nur von Technologie gestützt, nicht aber in sie eingeschlossen sein kann. Wie Debussy ist vielleicht auch die heutige futuristische Producerin nicht in der Lage, die Zukunft zu zeigen; aber sie versteht es, die Vorzüge der Vergangenheit und das Potenzial der Gegenwart nicht zu Statuen zu verfestigen zu lassen, die sie nur würde tragen müssen. Technologie erlangt in ihren Händen das Potenzial, einen Freiraum zu schaffen für unerträgliche Leichtigkeit; für ethisches Handeln.

Übersetzung: Clemens Krümmel

Anmerkungen

[1]Übers. nach Steven Connor, „Michel Serres’s Five Senses“, http://www.stevenconnor.com/5senses.html.
[2]Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Frankfurt/M./London 2015.
[3]Ebd.
[4]Zit. nach Ludwig Rubiner, „Ferruccio Busonis Musikästhetik“ (1916), http://www.rubiner.de/busoni.html.
[5]Übers. nach Claude Debussy, Correspondance 1872–1918, Paris 2005, S. 310f., zit. nach Myriam Chimènes, „The definition of timbre in the process of composition of Jeux“, in: Richard Langham Smith (Hg.), Debussy Studies, Cambridge 1997, S. 4.
[6]Ebd., S. 25.
[7]In ihrem Aufsatz zeigt Chimènes, dass sich bei einer historischen Quellenanalyse – von Briefen, Manuskripten und ähnlichem – Boulez’ Behauptung als unzureichend herausstellt. Sie schlussfolgert, dass „das gesamte Soundphänomen nicht vollständig in dem aufgeht, was wir den Keim einer musikalischen Idee nennen“ (S. 25), denn die Einführung des Timbre erfolgt lediglich im Zwischenstadium.
[8]Soundsynthetisierung wurde bereits in der Industrial Music, bei einer Reihe von Discotracks und von Bands wie Kraftwerk eingesetzt. In den meisten Fällen kam sie jedoch als ein Versuch zum Einsatz, Rockmusik neu zu definieren oder deren Definition auszuweiten.
[9]Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, Frankfurt/M. 2014.
[10]Serres, Erfindet euch neu!, a. a. O.