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RÄUMLICHE TEXTUREN Anika Reineke über Christin Kaiser bei Åplus, Berlin

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, 2021, ­Ausstellungsansicht

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, 2021, ­Ausstellungsansicht

Die Interaktion zeitlicher und räumlicher Aspekte gilt seit der topologischen Wende in den späten 1980er Jahren als zentraler Ausgangspunkt der soziologischen Theoriebildung. Mit der Temporalität raumbildender Praktiken befasste sich kürzlich auch Christin Kaisers Ausstellung „Künftige Ruinen“ im Berliner Projektraum Åplus. Von den textiltheoretischen Überlegungen Gottfried Sempers ausgehend thematisierte Kaiser hier die Vergänglichkeit (städte-)baulicher Strukturen. Das soziale Produkt Raum wird somit, wie die Kunsthistorikerin Anika Reineke argumentiert, im Wechselspiel von Natur und Architektur einsichtig – Phänomenen also, die im Sinne von Donna Haraways „naturecultures“ längst ebenso eng verwobenen sind wie die Erfahrung von Zeit und Raum.

Im Mittelpunkt der bildhauerischen Praxis von Christin Kaiser stehen konkrete Gebäude, und doch sind sie darin nur partiell anwesend. Vielmehr ist Kaiser dem Raum als „sozialem Produkt“ auf der Spur, erzeugt durch sich stetig wandelnde Verbindungen zwischen Architektur, Gesellschaft und Natur. [1] In ihrer Ausstellung „Künftige Ruinen“ in der Berliner Galerie Åplus machte Kaiser diese Verbindungen in Form von zwei architektonischen Fragmenten erfahrbar, deren steinerne, auf Überwältigung angelegte Form ins Textile überführt ist, und kombinierte sie mit einer Serie aus fünf großformatigen Arbeiten „vereitelter“ Architekturfotografie. Vereitelt insofern, als Kaiser Gebäude ablichtete, die absichtsvoll mit Bäumen umpflanzt und von diesen verdeckt wurden. Indem die Künstlerin zudem den Boden des Ausstellungsraums mit grobem Kies ausgeschüttet hat, wurde den Besucher*innen die eigene Raumproduktion mit jedem Schritt ins Bewusstsein gerufen. Einen zusätzlichen Abgesang auf jegliches „Aufgehobensein in Ewigkeit“ (Brian O’Doherty) leistete der Ausstellungstitel, der einer Songzeile der Einstürzenden Neubauten entnommen ist: „Alles nur künftige Ruinen / Material für die nächste Schicht“.

Im ersten Raum der Ausstellung evozierte die textile Skulptur Dorischer Ärmel (2021) schon allein durch ihre Höhe von vier Metern eine antike Säule – ein Eindruck von Erhabenheit stellte sich ein, der durch die verhältnismäßig kleine Grundfläche des Ausstellungsraums zusätzlich verstärkt wurde. Mit ihrer leicht konisch zulaufenden, runden Form ließ sie sich nur mit erhobenem Blick umrunden. Während sich aus dem signalgelben, festen Textil in regelmäßigen Abständen die weiße Polstervliesfüllung hervorstülpte und damit die Grate dorischer Kanneluren aufgriff, ahmten die verjüngte, geraffte Handöffnung am Boden und der schräge Ärmelansatz ein Kleidungsstück nach. Doch wer nach der soliden Monumentalität eines Architravs suchte, wurde enttäuscht: Die textile Skulptur hing von der Decke herab und war im Innern hohl.

Ihr Gegenstück stellte die gleichfalls raumgreifende und doch zurückgenommene Arbeit Center Arc (2021) aus silbergrauem Ripstop-Polyester, einem reißfesten Funktionsstoff, dar. Mit Dorischer Ärmel hat es die textile Referenz an ein architektonisches Element gemein, in diesem Fall ein geschwungener Torbogenausschnitt mit angeschlossenem Wandstück. Seine prekär schmale Wandtiefe bezieht Center Arc allein aus der Fütterung der Kissenelemente, die Steinen gleich aneinandergesetzt und mit Säumen verfugt sind. Dahinter liegt der Durchgang zum zweiten Galerieraum. Die versetzte Hängung greift das transitorische Passage-Momentum des Torbogens auf. Als Raumtrenner ist Center Arc zugleich, laut Gottfried Sempers Diktum, „legitime[r] Repräsentant […] der räumlichen Idee“. [2]

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, 2021, ­Ausstellungsansicht

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, 2021, ­Ausstellungsansicht

Kaiser hatte sich zuletzt 2018 im Leipziger Verein für zeitgenössische Kunst mit Semper auseinandergesetzt. Dass dessen Bekleidungstheorie, nach der die Anfänge des Bauens auf die textilen Techniken zurückzuführen seien, vielfach widerlegt wurde, mindert die Wirkung ihrer Werke nicht. Kaiser nutzt vielmehr Sempers grundlegende textiltheoretische Überlegungen als Ausgangspunkt für ihre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Architektur zu Gesellschaft und Natur. Während sie in Leipzig mit der hautfarbenen Textilmauer Gewand (2018) den menschlichen Körper zum gebauten Raum in Beziehung setzte, rückten die Gebäude in ihrer Ausstellung bei Åplus buchstäblich in den Fokus. Kaisers Torbogen etwa bezieht sich auf die imposanten Rundbögen in den Ruinen der römischen Caracalla-Thermen. Sinniger Fingerzeig der Geschichte: Caracalla bezeichnete auch ein von den Römer*innen adaptiertes germanisches Obergewand.

Ihr Arbeiten beschreibt die Künstlerin als assoziative Recherche, als ein verknüpfendes Suchen, bei dem sie unterschiedliche Zeit- und Bedeutungsebenen anreichert. [3] Im Fall von „Künftige Ruinen“ verband sie die architektonischen Elemente historischer sozialer Räume mit Textilien, wie sie für Outdoorjacken verwendet werden – jene Uniform der urbanen Gegenwart. Die Säule wurde hier zum Ärmel einer „Daunenjacke fürs Haus“ (Kaiser), das Torbogenfragment zum Halsausschnitt des Hightech-Winterpullovers. Kaiser überführte die Ruinen vergangener „Raumrepräsentationen“ (Henri Lefebvre) damit in eine postmoderne Textilität, in der der Dorische Ärmel die Tempelsäulen, Ort kollektiver Religiosität, kleidet und Center Arc die Thermen, Zentrum urbaner Raumpraxis, wärmt. Brauchen vergleichbare soziale Räume in der Zukunft die Produkteigenschaften futuristischer Funktionstextilien, müssen sie formbar, widerstandsfähig und osmotisch gegenüber Mensch und Natur werden, um bestehen zu können?

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, 2021, Ausstellungsansicht

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, 2021, Ausstellungsansicht

Im zweiten Ausstellungsraum untersuchte Kaiser das soziale Produkt Raum im Wechselspiel von Natur und Architektur mit dem Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie. Für die Bilder der Serie Baumwall (2021) fotografierte Kaiser zwei Gebäude, die im Laufe der Zeit mit Bäumen umpflanzt wurden: Zum einen Paul Ludwig Troosts 1933 bis 1937 erbautes Haus der Deutschen Kunst, jenem nationalsozialistischen „Vorzeigebau“ in München, dem in den 1970er Jahren Linden vorgesetzt wurden, vermutlich, um die totalitäre Fassade zu entschärfen; zum anderen Ludmilla Herzensteins nur ein Dutzend Jahre später erbaute Laubenganghäuser auf der Berliner Karl-Marx-Allee. Bei ihrer Recherche zu den Laubenganghäusern, Teil von Hans Scharouns Vision einer „Wohnzelle Friedrichshain“, fand Kaiser einen Artikel aus den 1950er Jahren, in dem Pappeln als vorgelagerte Bepflanzung für diese im Sozialismus verhassten modernistischen Bauten empfohlen wurden.

Als „architectura non grata“ sollten die geächteten Gebäude, so Kaiser, versteckt werden. In ihren fünf, etwa DIN-A4-großen Fotografien spürt sie der Wirkung dieser räumlichen Praxis nach. Dabei nehmen die Gebäude nur jeweils einen schmalen Streifen am linken oder rechten Bildrand ein, den Rest verdeckt jedes Mal ein unscharfer Baumstamm im Bildvordergrund. Durch die 119 x 79 cm großen Fotodruck-Passepartouts, die mit einem Blow-up-Fotodruck der jeweiligen Baumrinde beklebt sind und diesen dadurch in grober Körnung noch näher ziehen, erzeugt Kaiser den Sogeffekt eines Guckkastens. Fenster, Türen, Treppen und Laubengänge lugen hinter der „Verschattungsmaßnahme“ (Kaiser) Baum hervor. Die Gebäude behaupten sich gegen den Raum, den die Bäume einnehmen.

Kaisers Werke evozieren so gesehen Fragen nach den Produktionsbedingungen, Interferenzen und Bezügen der räumlichen Praxis von Gesellschaften. Wie Lefebvre geht auch Kaiser davon aus, dass Architektur sich in „räumliche Texturen“ einfügt und diese dadurch verändert. Dabei spielt vor allem die Temporalität für Kaiser eine große Rolle: „Künftige Ruinen“ verweist auf die erbarmungslose Vergänglichkeit jedes Raumprodukts. Die Thermen, Tempel und Laubengänge der Vergangenheit sind steinerne Überreste sozialer Räume früherer Gesellschaften. Zum Material für die Gesellschaft der Gegenwart werden sie bei Kaiser, indem diese die Geschichte des gebauten Raums an aktuelle Stadtplanungs-, Nachhaltigkeit- und Zukunftsdiskurse knüpft, wobei Fragen zum Verhältnis von Mensch, Natur und Architektur eine besondere Rolle zukommt.

„Christin Kaiser: Künftige Ruinen“, Åplus, Berlin, 18. September bis 20. November 2021.

Anika Reineke ist Kunsthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Staatlichen Museen zu Berlin. Zuletzt erschienen unter anderem Textile Terms. A Glossary (hg. mit Anne Röhl/Mateusz Kapustka/Tristan Weddigen) und ihre Doktorarbeit Der Stoff der Räume. Textile Raumkonzepte im französischen Interieur des 18. Jahrhunderts.

Image credit: Courtesy Christin Kaiser & Åplus Berlin, Fotos: Åplus Berlin

Anmerkungen

[1]Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 2000 [1974].
[2]Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Ästhetik, Bd. 1: Textile Kunst, Frankfurt/M. 1860, S. 229.
[3]Christin Kaiser in conversation with Katharina Wendler , September 2021.