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STACHELDRAHT GEGEN PALMEN Von Laura Sophie Stadler

Blick auf Marseille vom Dach der Cité Radieuse

Blick auf Marseille vom Dach der Cité Radieuse

Seit Beginn der Corona-Pandemie versichern sich viele der positiven Effekte des Ausnahmezustands, betonen das entschleunigende Potential der Beschränkungen. Wer in der privilegierten Position war und ist, die Krise als Chance zu begreifen, nahm sich die Zeit, persönliche Ziele zu hinterfragen und der unwägbaren Lage zum Trotz neue Pläne zu schmieden. Laura Sophie Stadler zog es nach Lockerung der Reisebeschränkungen nach Marseille. Bericht einer Reise mit offenem Ausgang.

Sind Träume ein erfüllender Ersatz für die Realität? Das habe ich mich im ersten Corona-Lockdown oft gefragt. Ich saß auf einem Bauernhof am Stadtrand von Bielefeld fest und wäre lieber in Marseille gewesen. Nichts gegen Bielefeld oder den Teutoburger Wald – da ist es auch idyllisch. Aber … It’s not quite Marseille. So habe ich also damals im März 2020 viele Stunden im Internet damit zugebracht, Marseille zu „stalken“ und mir alle möglichen Filme, die in Marseille spielen, anzusehen und gebannt die Instagram-Aktivitäten von Künstler*innen aus Marseille zu verfolgen.

Jetzt, anderthalb Jahre später, sitze ich in einem Café auf dem Boulevard Longchamp im ersten Arrondissement von Marseille. Ich habe meinen Job gekündigt, nehme mir eine seit Langem geplante, kreative Auszeit und schreibe viel. Setze mich mit der Geschichte meiner Familie väterlicherseits auseinander, die aus Algerien kommt und in Frankreich lebt. Da passt Marseille ganz gut, schließlich ist Algerien nah, und schließlich leben hier viele Algerier*innen und sogenannte Pieds-noirs. Vor allem aber passt Marseille gut in meine aktuelle Lebensphase, denn die Stadt ist ein unklares In-Between. Es herrscht eine garstige Gleichzeitigkeit aus anmutiger Schönheit und gnadenloser Brutalität. Viele der Häuserfassaden und Fensterläden sind in mediterranen Pastelltönen gestrichen, aber komplett kaputt. Ich weiß nicht, wie viele renovierte Häuser ich hier schon gesehen habe, ich kann sie auf jeden Fall an wenigen Händen abzählen. Walter Benjamin hat Marseille in den 1920er Jahren so beschrieben: „Es ist der Nahkampf von Telegraphenstangen gegen Agaven, Stacheldraht gegen stachlige Palmen […].“ [1]

Kampf bestimmt Marseille auch heute noch. Nicht untypisch für eine (mediterrane) Hafenstadt geben hier Armut, Kriminalität und Korruption den Ton an. Diese harte Realität ist nicht zuletzt ein guter Nährboden für eine blühende Rapkultur. Hip-Hop gehört zur heutigen DNA der Stadt wie wenig anderes, allenfalls vertritt die Fußballmannschaft Olympique Marseille die Stadt nach außen ähnlich prominent, und selbst da geht es nicht mehr ohne Rap; der Club hat mittlerweile sogar ein eigenes Raplabel (OM Records). Genauso wie der Rap, der die Stadt mit seinen düsteren Beats und derben Worten repräsentiert, steht auch Marseille für ungeschönte Schroffheit, für „Realness“. Schlagzeilen über Bandenkriege, Filme wie BAC Nord oder Serien wie die Netflix-Produktion Marseille mit Gérard Depardieu bescheren der Stadt Beinamen wie „Chicago français“ und locken ein junges, „szeniges“ und nach scheinbarer Authentizität dürstendes Publikum an (und halten ein anderes fern). Zugleich gab und gibt es immer wieder französische Politiker*innen, die Marseille gern zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Mittelmeerraums, ja, sogar zur inoffiziellen Hauptstadt Frankreichs erklären wollen.

Spätestens seit Corona ziehen immer mehr Pariser*innen nach Marseille. Obwohl – oder vielleicht, gerade weil – Marseille und Paris nicht unterschiedlicher sein könnten. Während es in Paris etwa ein klar umrissenes Stadtzentrum und die Banlieues gibt, in denen die gesellschaftlich Marginalisierten auch räumlich marginalisiert leben, gibt es in Marseille zwar eine Unterteilung in Nord und Süd – grob gesagt: im Norden arm, im Süden wohlhabend –, aber die Diskrepanz ist längst nicht so zynisch und eklatant wie in Paris. Denn die Armut wird in Marseille nicht zur Seite verdrängt, aus dem vermeintlich „lebenswerten“, reichen Teil der Stadt in die so genannte Peripherie vertrieben. Belle de Mai, das als das ärmste Viertel Frankreichs, womöglich sogar Europas, gilt, liegt mitten in der Stadt. Und auch viele andere Quartiers sind heterogen; Menschen unterschiedlichster Herkunft, regional wie sozial, leben Seite an Seite, gehen in dieselben Bars, zum selben Friseur.

Ich habe einen der Künstler, mit denen ich von Bielefeld aus zu virtuellen Traumreisen nach Marseille aufgebrochen bin, getroffen und gefragt, was er über die Entwicklung der Stadt denkt. Für Florent Groc [2] sind das „Wilde und das Raue das Schönste“ an Marseille. Er ist ein echter Phocéen (so nennen sich die Bewohner*innen Marseilles) und malt die Natur in und um seine Heimatstadt in leuchtenden Farben. Seine Bilder, obwohl allesamt abstrakte Landschaften, erinnern mich an die Gemälde von David Hockney. Sie zeigen sinnliche Landstriche in kräftigen Farben, aber auch scharfe Kanten, steile Abgründe, düstere Schatten. Seine Gemälde sind fragmentarisch, mosaikartig, und doch komponiert Groc aus einzelnen Farbflächen ein Ganzes. Irgendetwas an seinen Arbeiten bleibt mir unklar.

Und so reihen sie sich in mein Marseiller Gesamtgefühl ein, zu dem es auch eine Playlist gibt. [3] Ein Track darauf ist „L’empire du côté obscur“ von IAM, die zu den ältesten Vertretern der Marseiller Rapszene gehören. Ich habe ihn in der vergangenen Zeit immer wieder auf meinem iPhone abgespielt, während ich die vielen Marseiller Hügel auf und ab gelaufen bin. Für mich ist das Lied eine Hommage an die Stadt, an das Unklare, Widersprüchliche, Fragwürdige. An das Obskure eben.

Laura Sophie Stadler hat bis vor Kurzem als Redenschreiberin im politischen Berlin gearbeitet. Sie begeistert sich für Kunst und Kultur, insbesondere für Popkultur und Hip-Hop.

Image credit: public domain