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FÜR EIN „MULTIDIREKTIONALES“ ERINNERN – DER BEITRAG MICHAEL ROTHBERGS VON MICHA BRUMLIK

Soweit ersichtlich, präsentieren die Texte zur Kunst als erste Zeitschrift ein begrifflich-philosophisches Konzept, das die schwierigen Debatten zwischen postkolonialer Kritik und Zionismus im Hegelschen Sinne aufheben könnte. Dabei ist es kein Zufall, dass es in dem Beitrag „Kino mit/in Geschichte“ von Noit Banai und Sabeth Buchmann im Heft 119 um Kunstwerke geht – scheinen doch viele, keineswegs alle Kunstwerke mit ihrem vielfältigen Anspielungs- und Verweisungsreichtum dem am ehesten zu entsprechen, was dem Begriff einer Solidarität mit allen Opfern der Geschichte entspricht.

Tatsächlich ist die in Texte zur Kunst brillant dokumentierte Kritik an der postkolonialen Kritik des Zionismus, namentlich Achille Mbembes, auch Ausdruck einer bestimmten Geschichtsphilosophie. Freilich liegt die Bedeutung jeder Geschichtsphilosophie in der Rolle, die sie für das Erinnern und Gedenken innerhalb menschlicher Gesellschaften oder Gruppen spielt. Das ist zumal bei dem inzwischen weltweit, ja, sogar von den Vereinten Nationen anerkannten Holocaust-Gedenktag – dem 27. Januar – der Fall. Freilich handelt es sich bei ihm nicht um den einzigen von den UN, genauer: der UNESCO, anerkannten Gedenktag. Wenig bekannt ist, dass es seit einigen Jahren auch einen Gedenktag der UN an die Sklaverei gibt, einen Gedenktag, der an den Beginn des Sklavenaufstands in Haiti im Jahre 1791 erinnern soll. So begeht die UNESCO seit 1998 am 23. August den International Day for the Remembrance of the Slave Trade and of its Abolition und begründet das so:

„This International Day is intended to inscribe the tragedy of the slave trade in the memory of all peoples. In accordance with the goals of the intercultural project ,The Slave Route‘, it should offer an opportunity for collective consideration of the historic causes, the methods and the consequences of this tragedy, and for an analysis of the interactions to which it has given rise between Africa, Europe, the Americas and the Caribbean.“ [1]

Zu fragen ist daher: Kann nur der vom nationalsozialistischen Deutschland an sechs Millionen europäischen Jüd*innen begangene Mord als jene einzige, singuläre „große Erzählung“ gelten, die weltweit das Menschenrechtsbewusstsein vorantreiben soll?

„Neue Räume“, so die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider schon vor 20 Jahren in ihrer Studie Erinnerung im globalen Zeitalter, „öffnen sich. Und die von vielen Historikern geschmähte Massenkultur drängt sich in den frei gewordenen Raum. Dieser Erinnerungsraum wird das kosmopolitische Gedächtnis werden […] Damit zusammenhängende Fragen der Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit des Holocaust führen dazu, dass diese Unterscheidungen aufgehoben werden. Der Holocaust wird als einzigartiges Ereignis vergleichbar. Die partikulare Opfererfahrung der Juden kann universalisiert werden.“ [2] Als Beleg für ihre These präsentierten Levy und Sznaider eine Anzeige in der New York Times, in der die drei bedeutendsten amerikanisch-jüdischen Organisationen, das American Jewish Committee, der American Jewish Congress sowie die Anti-Defamation League, schon vor mehr als 20 Jahren, nämlich am 5. August 1992 – nachdem erste Bilder von in serbische Lager eingesperrten Bosniern um die Welt gingen – feststellten:

„Zu den blutigen Namen von ,Auschwitz‘, Treblinka und anderen Nazi-Todeslagern scheinen die Namen von Omarska und Brcko hinzuzufügen sein […] Ist es möglich, dass fünfzig Jahre nach dem Holocaust die Nationen der Welt, unsere eingeschlossen, passiv dastehen und nichts tun und vorgeben, hilflos zu sein? […] Es sei hier betont“, so schließt die Anzeige, „dass wir jeden notwendigen Schritt tun werden, inklusive der Gewalt, um diesem Wahnsinn und dem Blutvergießen ein Ende zu setzen.“ [3]

In diesem Sinne versammelten sich vor ebenfalls 20 Jahren, zur Jahreswende 2000/2001, auf Einladung des schwedischen Staates in Stockholm Vertreter*innen von 40 Staaten, um im globalen Zeitalter über humane Werte vor dem Hintergrund eines wieder erstarkten Rassismus zu diskutieren und dabei die allfälligen Lehren aus dem Holocaust, das heißt aus der industriellen Massenvernichtung europäischer Jüd*innen und nicht nur der Jüd*innen, sondern auch von Millionen von Pol*innen, Sowjetbürger*innen und weiteren Minderheiten durch das nationalsozialistische Deutschland, zu ziehen. Die maßgeblich von dem israelischen Historiker Jehuda Bauer verfasste Abschlusserklärung des „Stockholm International Forum on the Holocaust“ erklärte entsprechend:

„Da die Menschheit immer noch an den Wunden des Völkermordes, der ethnischen Säuberung, des Rassismus und des Fremdenhasses leidet, teilt die internationale Gemeinschaft die schwerwiegende Verantwortung, das Böse zu bekämpfen […] Wir sind – so schließt dieses Dokument verpflichtet – uns der Opfer, die umgekommen sind, zu erinnern, die Überlebenden, die noch unter uns weilen, zu respektieren und das der Menschheit gemeinsame Streben nach gegenseitigem Verständnis und Gerechtigkeit zu betonen.“ [4]

Diesen Gedanken versucht der bereits erwähnte US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in seinem bahnbrechenden, bereits 2009 auf Englisch erschienenen Werk Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization zu radikalisieren – in einem Werk, das die Chance eröffnet, die festgefahrenen Fronten nicht zuletzt der Debatte um die Arbeiten Achille Mbembes bzw. der postkolonialen Kritik zu überwinden. „Multidirektionales Erinnern“ im Sinne Rothbergs gewinnt seinen Sinn genau dann, wenn unterschiedliche Erinnerungen und Erinnerungen an unterschiedliche Verbrechen das, worum es jeweils geht – nämlich im weitesten Sinne genozidale Verbrechen – weiter zu verdeutlichen. Die Entfaltung dieses Konzepts gelingt Rothberg dadurch, dass er sich bei seinen Analysen nicht auf historiografische Arbeiten im engeren Sinne bezieht, sondern vor allem auf literarische und filmische Kunstwerke sowie auf Tagebuchaufzeichnungen.

Tatsächlich kann Rothberg zeigen, dass es das Jahr 1961, also das Jahr der Eröffnung des Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann, war, das in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle spielt. Wurde doch in diesem Jahr nicht nur jener Prozess eröffnet – nein, am 17. Oktober 1961 spielte sich in Paris das von Polizisten im Auftrag der Polizeiverwaltung veranstaltete Massaker an friedlichen algerischen Demonstrant*innen ab, dem 200 Menschen zum Opfer fielen. Nicht wenige Reaktionen französischer Intellektueller und Schriftsteller*innen wie etwa die in Birkenau und Ravensbrück Inhaftierte Charlotte Delbo [5] und der Althistoriker Pierre Vidal-Naquet – seine Eltern wurden in der Shoah ermordet – erinnerten sich angesichts dieses Massakers an die Untaten der Nationalsozialist*innen und ihrer französischen Kollaborateur*innen [6] , vor allem an den damaligen Polizeipräfekten von Paris, Maurice Papon (1910–2007). Ihm wurden Jahre später in Frankreich der Prozess ob seiner Kollaboration mit den Deutschen bei der Deportation von Jüd*innen gemacht, und er wurde 1998 zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren verurteilt, von denen er drei absaß.

Doch bedurfte es nicht dieses Anlasses: Hatte doch schon Hannah Arendt in ihrem 1951 erstmalig publizierten Buch über die Ursprünge des Totalitarismus – wenn auch mit falschem Zungenschlag – die Erfahrung der Europäer*innen in den afrikanischen Kolonien als Ursprung des Rassismus namhaft gemacht. Dann aber, und dies hebt Michael Rothberg besonders hervor, wies der 1913 in Martinique geborene antikolonialistische Autor Aimé Césaire – einer der Begründer des Konzepts der „Négritude“ – in Auseinandersetzung mit dem Kritiker Yves Florenne das Nachwirken des Hitlerschen Gedankenguts in der französischen Bourgeoisie nach. [7] Gleichwohl war Césaire keineswegs der erste und einzige antirassistische Aktivist, der sich vor dem Hintergrund des gegen Schwarze gerichteten Rassismus mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzte.

Der Schwarze Intellektuelle W. E. B. Du Bois war der Begründer der antirassistischen Theorie der „Color Line“. [8] 1949 besuchte Du Bois, der Ende des 19. Jahrhunderts u.a. in Deutschland studiert hatte, die Überreste des Warschauer Ghettos – ein Besuch, über den er eine kurze Aufzeichnung verfasste: „The Negro and the Warsaw Ghetto“, ein Text, der einige Jahre später in seinem Essay Jewish Life seine Fortsetzung fand. Dort heißt es:

„The results of these three visits, and paricularly of my view of the Warsaw Ghetto, was not so much clearer understanding of the Jewish problem in the world as it was a real and more complete understanding of the Negro problem. In the first place, the problem of slavery, emancipation, and caste in the United States was no longer in my mind a separate and unique thing as I had so long conceived it. […] The race problem in which I was interested cut across lines of color and physique and belief and status and was a matter of cultural patterns , perverted teaching and human hate and prejudice, which reached all sorts of people and caused endless evil to all men.“ [9]

Erinnern und Gedenken stehen demnach nicht nur unter dem Imperativ einer universalistischen Moral, die sich mit durchaus guten Gründen auf die weltgeschichtliche Singularität des Holocaust berufen kann, sondern sind, zumal in einer globalisierten Welt, notwendig mit anderen Erinnerungen verflochten, und zwar so, dass es dabei nicht um ein Nullsummenspiel geht.

Eben diese Vorstellung aber gab der in Deutschland 2020 geführten Debatte um das Werk Achille Mbembes ihre sinnlose, unversöhnliche Schärfe. Gleichwohl scheute sich Rothberg im Zuge seines Projekts nicht, auch auf den Israel-Palästina-Konflikt einzugehen. Davon zeugt seine Auseinandersetzung mit dem israelischen Historiker Benny Morris, der zunächst wie kein anderer die verbrecherischen Aspekte der Vertreibung der Palästinenser*innen 1947/48 behandelt hatte [10] , um dann, einige Jahre später, offen und geradezu zynisch diese Vertreibung zu rechtfertigen. [11] Erinnerungen sowie Formen des Gedenkens – das betont Rothberg immer wieder – sind kein Nullsummenspiel. Berührt dieser Umstand, so ist abschließend zu fragen, die zumal in Deutschland mit guten Gründen behauptete weltgeschichtliche Singularität des Holocaust – und zwar so, dass der Aufruf anderer Menscheitsverbrechen als ,Relativierung‘ des Holocaust gilt?

Als Merkmale der Singularität, der Präzedenzlosigkeit der Shoah werden in der Regel folgende Merkmale aufgeboten: Erstens die bisher weltgeschichtliche – in der Tat beispiellose – Entwürdigung der Opfer, indem sie ihrer Namen beraubt und nummeriert wurden, um zweitens vergast zu werden. Drittens die ebenso beispiellose Selbstzweckhaftigkeit und Unbegrenztheit des unter Aufbietung aller Mittel betriebenen Jüd*innenmordes, der allen Jüd*innen auf der ganzen Erde und in aller Zukunft gelten sollte; und das zumal in einer Kriegssituation, in der eigentlich alle Mittel hätten aufgewendet werden müssen, um gegen die Alliierten zu bestehen. So handelte es sich viertens bei der Gesellschaft, die dieses Menschheitsverbrechen beging, um eine in jeder Hinsicht höchst entwickelte bürgerliche Gesellschaft. Anders als die Apparatschiks des Stalinismus oder die jugendlichen Dschungelkämpfer der Roten Khmer waren es die Spitzen, die Eliten, aber auch die breiten Schichten der bürgerlichen Gesellschaft im Deutschen Reich, die diese Verbrechen arbeitsteilig begingen. Gleichwohl wird der Singularität dieses Verbrechens nichts genommen, wenn an die – wie oben zu zeigen versucht wurde – Singularität der Verbrechen des Kolonialismus, sei es im Kongo, sei es im transatlantischen Sklavenhandel, erinnert wird. Erinnern und Gedenken sind kein Nullsummenspiel. Rothberg beschliesst sein Buch, indem er noch einmal Bezug auf Morris’ zynische Rechtfertigung der Vertreibung der Palästinenser*innen nimmt, mit folgenden Worten, die als Maxime künftigen Gedenkens in einer globalisierten Welt gelten können und denen allenfalls hinzuzufügen wäre, dass auch und gerade Achille Mbembe gut beraten gewesen wäre, sie in seinen israelkritischen Texten zu berücksichtigen. Michael Rothberg gelingt es nämlich, mit seinem Konzept einer multidirectional memory – auf Deutsch: eines multiperspektivischen Gedenkens – der unseligen, allemal politisch instrumentalisierbaren Konkurrenz von Erinnerungen eine universalistische Perspektive im Sinne einer allen Opfern von Gewaltherrschaft zukommenden anamnetischen Solidarität zukommen zu lassen:

„I draw two corollaries from the kinds of memory conflicts emblematized by the Israeli/Palestinian dispute. First, we cannot stem the structural multidirectionality of memory. Even if it were desirable – as it sometimes seems to be – to maintain a wall, or cordon sanitaire, between different histories, it is not possible to do so. Memories are mobile; histories are implicated in each other. Thus, finally, understanding political conflict entails understanding the interlacing of memories in the force field of public space. The only way forward is there entanglement.“ [12]

Damit weist Michael Rothberg einen Ausweg aus der am Beispiel der Mbembe-Debatte behaupteten Unmöglichkeit, die Singularität des Holocaust zu anderen Menschheitsverbrechen ins Verhältnis zu setzen. Dass das umgekehrt nicht bedeuten kann, genozidale Verbrechen unterschiedlicher Reichweite in ihrer Grausamkeit und Größenordnung schlicht einander gleichzusetzen, sollte deutlich geworden sein. Gerade wenn „multiperspektivisches Erinnern“ zur fruchtbaren Perspektive einer solidarischen, kritischen Geschichtsschreibung und Gesellschaftsanalyse werden soll, ist es unerlässlich, Ähnlichkeiten wie Unterschiede präzise zu benennen.

Dr. Micha Brumlik, Prof. em.; dzt. Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin.

Anmerkungen

[1]https://en.unesco.org/commemorations/slavetraderemembranceday.
[2]Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/M. 2001, S. 213.
[3]Ebd., S. 180.
[4]Zit. nach ebd., S. 213.
[5]Charlotte Delbo, Trilogie. Auschwitz und danach, Frankfurt/M. 1993.
[6]Pierre Vidal-Naquet, La torture dans la République: essai d’histoire et de politique contemporaine (1954–1962), Paris 1998.
[7]Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009, S. 78.
[8]Shamoon Zamir (Hg.), The Cambridge companion to W. E. B. Du Bois, Cambridge 2008.
[9]Rothberg, Multidirectional Memory, S. 116.
[10]Benny Morris, 1948: A History of the First Arab-Israeli War, Yale 2008, S. 309 u. S. 405–407.
[11]Rothberg, Multidirectional Memory, S. 309–312.
[12]Ebd., S. 313.