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LOST AT SEA MATTHIAS NOGGLER ÜBER SILVINA OCAMPOS „THE PROMISE“

„I envy people who cry; they show off their tears like necklaces.“ Die argentinische Schriftstellerin Silvina Ocampo, die zunächst bei Fernand Léger und Giorgio de Chirico Malerei studierte, stand über weite Strecken ihres Lebens im Schatten ihrer deutlich berühmteren männlichen Kollegen wie etwa Jorge Luis Borges. Bis heute ist ihr Werk gerade im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt. Der US-amerikanische Independent-Verlag City Lights Publishers hat im November eine Reihe englischer Erstveröffentlichungen von Ocampos Büchern lanciert, von denen Matthias Noggler für uns den Roman „The Promise“ gelesen hat. Modernistisches Formexperiment trifft autofiktionale Künstlerinnennovelle.

Die unscharfe Fotografie auf dem Buchcover zeigt eine ältere Frau, die sich beide Hände schützend vor das Gesicht hält. Man sieht eine weiß gerahmte Cat-Eye-Sonnenbrille, eine Armbanduhr und graues halblanges Haar – mehr ist nicht zu erkennen. Bei dem Foto handelt es sich um eine der wenigen Porträtaufnahmen, die die argentinische Autorin Silvina Ocampo zu Lebzeiten von sich anfertigen ließ. Hierzulande ist Ocampo, wie auch ihr literarisches Werk, nahezu unbekannt. Dabei ist sie, zusammen mit ihrem langjährigen Ehemann Adolfo Bioy Casares und ihrer beider Freund Jorge Luis Borges, eine der bedeutendsten und einflussreichsten Figuren der argentinischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

1903 in Buenos Aires geboren, wuchs Ocampo gemeinsam mit ihren fünf Schwestern in wohlhabenden Verhältnissen auf. Bevor sie ab 1936 begann, erste Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben, studierte sie in Paris Malerei bei Fernand Léger und Giorgio de Chirico. Nach ihrer Ausbildung kehrte sie nach Buenos Aires zurück, wurde Teil des literarischen Boheme-Zirkels, der sich um die von ihrer Schwester Victoria Ocampo 1931 gegründeten Zeitschrift Sur bildete, und heiratete 1940 den Schriftsteller Adolfo Bioy Casares. Über viele Jahre zählte sie zu den wenigen Frauen, die in Argentinien als Schriftstellerin Anerkennung erfuhren. Bis zu ihrem Tod 1993 verfasste sie zahlreiche Kurzgeschichten, veröffentlichte mehrere Gedichtbände, arbeitete nebenher als Übersetzerin und Kinderbuchautorin und stand dennoch über weite Strecken ihres Lebens im Schatten ihrer weitaus berühmteren männlichen Kollegen, was sich bis heute an den wenigen vorhandenen Übersetzungen ihres Werks (vor allem ins Deutsche) bemerkbar macht.

Das oben erwähnte Foto ziert das Cover ihres Romans The Promise (La promesa). Ocampos demonstrative Verweigerung, sich porträtieren zu lassen, ist durchaus auch ein passender Bildkommentar auf ihren Text, der sich auf die Spurensuche nach Formen der Konstruktion und des Aushandelns von Identität begibt. Die Grundidee des Buches ist schnell erzählt: Eine Frau, die auf der Überfahrt von Buenos Aires nach Kapstadt über Bord eines Passagierschiffes geht, befindet sich zu Beginn der Erzählung allein zurückgelassen im Atlantischen Ozean. Sie ist zwar eine gute Schwimmerin, doch ihr Tod scheint sicher. Um sich von dieser ausweglosen Situation abzulenken, entschließt sie sich, ein lückenloses Inventar ihrer Erinnerungen anzufertigen.

Der nun erstmals ins Englische übersetzte Roman, an dem Ocampo seit Mitte der 1960er Jahre arbeitete und der 2010 posthum erschien, ist neben der frühen Kurzgeschichtensammlung Forgotten Journey (2019) (Viaje olvidado, 1937) eine von zwei Übersetzungen, die seit November letzten Jahres bei dem US-amerikanischen Independent-Verlag City Lights Publishers erschienen sind und den Auftakt zu einer ganzen Reihe englischer Erstveröffentlichungen von Ocampos Büchern bilden. The Promise blieb Ocampos einziger Roman, ist zu gleichen Teilen modernistisches Formexperiment wie autofiktionale Künstlerinnennovelle und verhandelt auf nur knapp 100 Seiten eines der Hauptmotive ihrer literarischen Arbeit: die Unzuverlässigkeit von Erinnerung und die daraus resultierende Unabgeschlossenheit von Identität und Selbst. Das titelgebende Versprechen legt die über Bord gegangene, namenlos bleibende Frau am Anfang der Erzählung gegenüber der Heiligenfigur Rita, Schutzpatronin aussichtsloser Fälle, ab: Sollte sie überleben, werde sie ihre Erfahrungen aufschreiben und publizieren. Der*die Leser*in hält mit dem Buch das Ergebnis dieses künstlerischen Taufmoments in Händen und erfährt in Form einer vielschichtigen Collage, die sich aus einzelnen, lose miteinander verbundenen Erinnerungen zusammensetzt, von verschiedenen Personen, die der Frau im Laufe ihres Lebens begegnet sind. Dabei verzichtet Ocampo auf eine lineare Spannungsdramaturgie und folgt stattdessen den verworrenen Gedankengängen, Assoziationen und absurden Geschichten ihrer Protagonistin.

Silke Otto-Knapp, „Land and Sea (Rocks)“, 2019

Silke Otto-Knapp, „Land and Sea (Rocks)“, 2019

So erzählt sie beispielsweise von der dramatischen Dreiecksbeziehung zwischen Leandro, Verónica und Irene, schildert die kindliche Wahrnehmungswelt von Irenes Tochter Gabriela und erinnert sich an Celia, deren Blicke Lebensmittel verderben lässt. Die meisten dieser Episoden sind in sich geschlossene Kurzgeschichten; einzelne Abschnitte tauchen leicht verändert mehrmals auf, und viele Sätze haben die pointierte Präzision von observational comedy: „I envy people who cry; they show off their tears like necklaces.“ (37) „However, old people always look like they’re in disguise, and that ruins everything.“ (10) „What do women do when they’re not at home?“ (14). Mit Absicht entschied Ocampo sich (die ihrer eigenen Aussage nach „out of impatience“ hauptsächlich Short Stories verfasste) bei ihrem einzigen Langtext für eine lose, fragmentarische Textstruktur. Diese erlaubte ihr, über Jahre hinweg Korrekturen vorzunehmen und unterschiedliche Konstellationen der einzelnen Episoden auszutesten, ohne Gefahr zu laufen, damit die übergeordnete Struktur des Buches zu gefährden. Mit längeren Unterbrechungen arbeitete sie fast 25 Jahre lang an dem Romanprojekt, und erst kurz vor ihrem Tod, als sie schon unter den Spätfolgen ihrer jahrelangen Demenzerkrankung litt, fand der bis dahin unabgeschlossene Text seine finale Form.

The Promise thematisiert aber nicht nur die Fragilität und die notwendig bruchstückhaft bleibende Qualität von Erinnerungen; der Roman betont vor allem auch deren beständige Formbarkeit, was sie in die Nähe nachträglicher Erfindungen rückt, die sich immer wieder neu erzählen lassen. Oder wie Ocampo ihre langjährige Sekretärin an den Rand einer Manuskriptseite notieren ließ: „the memories are recurrent.“ [1] Diese wiederkehrenden, leicht modifizierten Textabschnitte können aber auch als Versuche gelesen werden, die wechselseitigen Mechanismen von Erinnerung und Fiktion im Text selbst abzubilden: als sich gegenseitig bedingende Grundvoraussetzungen literarischer Produktion. So erklärt Ocampo etwa in Bezug auf das Mädchen Gabriela: „For her, the world she listened to and imagined on the other side of doors was the real world. The other was merely a performance.“ (47) Überhaupt verweist der Roman kontinuierlich auf sich selbst und seine Entstehungsbedingungen, ist darin ein klassisches Beispiel moderner Metafiktionalität, gleichzeitig geht er aber auch den trügerischen Beziehungen zwischen Bewusstsein und Welt nach und positioniert seine ertrinkende Heldin als unzuverlässige Erzählerin in Lebensgefahr. In kurzen lakonischen Sätzen reflektiert diese über ihre ausweglose Lage und beschreibt den sozialen Alltag von Frauen in einer Gesellschaft, die über weite Strecken des 20. Jahrhunderts von männlichen Diktatoren und Militarismus bestimmt war. Schon auf einer der ersten Seiten lässt Ocampo ihre Erzählerin feststellen: „I don’t have a life of my own; I have only feelings. My experiences were never important – not during the course of my life nor even on the threshold of death. Instead, the lives of others have become mine.“ (4)

Die Erzählposition wechselt demnach immer wieder zwischen male und female, das androgyne Ich spricht als körperlose Stimme und sucht sich mithilfe imaginierter bzw. fremder Erinnerungen einen provisorischen Ort der Identität. Als voyeuristisches Phantom bleibt die Erzählerin für ihre Figuren unsichtbar anwesend, wechselt in ihren Beschreibungen zwischen Empathie und analytischer Distanz und praktiziert eine zwischen Entfremdung und Emanzipation changierende Subjekterfahrung, die sich der Möglichkeit einer queer identity annähert. Damit erinnert uns Ocampo nicht zuletzt auch an die selbsttherapeutische, da transformative Kraft des Erzählens, die ihre Protagonistin zu Beginn des Romans so erklärt: „In a way, like Sheherazade to King Shahryar, I told stories to death so that it would spare my life and my images, stories that seemed to never end.“ (6) Nach nur 100 Seiten bricht die Erzählung der Frau abrupt ab. Die letzten Sätze thematisieren noch einmal ihre lebensbedrohliche Lage, in der trotz der Aussichtslosigkeit die Hoffnung spürbar bleibt, irgendwann womöglich mit den fließenden Verhältnissen koexistieren zu können: „The water was cruel to me that day. I felt the cold again when I went under. One day, will I be able to live in the water?“ (103)

Silvina Ocampo, The Promise, San Francisco: City Lights Publishers, 2019.

Matthias Noggler ist Künstler. Er lebt in Wien und Berlin.

Anmerkungen

[1]Ernesto Montequin, „Foreword“, in: Silvina Ocampo, The Promise, San Francisco 2019, S. 11–15, hier: S. 14.