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Séduction à la francaise Isabelle Graw und Colin Lang im Gespräch mit Joan Scott

Isabelle Graw und Colin Lang: Wir wollen über eine Bemerkung von Ihnen sprechen, die uns kürzlich aufgefallen ist, nämlich dass die Idee einer französischen Form von Verführung als nationalem Charakterzug ein Mythos sei. Diesem Mythos scheinen auch die Unterzeichnerinnen eines offenen Briefs, in dem die Freiheit zur „Behelligung“ oder „Belästigung“ („importuner“) verteidigt wird, anzuhängen. Wenn man das weiterdenkt: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diese Anhänglichkeit an den Mythos der Galanterie, die privilegierte Frauen wie Catherine Deneuve zeigen?

Joan Scott: Der Mythos von der französischen „Galanterie“ unterstützt eine konservative Sichtweise nicht nur auf heteronormative Geschlechterbeziehungen, sondern auch auf das, was heute die „französische nationale Identität“ sein soll – eine Identität, die sich nicht zuletzt durch polemische Abgrenzung von Muslimen definiert. Zumindest seit 1989 gehört zu der Kampagne, dass Muslime in der französischen Gesellschaft unassimilierbar seien, auch die hartnäckige Behauptung, dass offenes erotisches Spiel ein angestammter Teil der französischen Kultur sei, während die Repression von Sexualität als charakteristisch für Muslime gilt. An keiner der beiden Seiten in diesem Gegensatz ist etwas Wahres, aber das kümmert die nicht, die die islamophobe Kampagne betreiben.

Graw/Lang: Was, außer dem Beharren auf diesem Mythos, wie Sie ihn nennen, verteidigen Deneuve und ihre Mitstreiterinnen? Welche Bedrohung geht für sie, die Unterzeichnenden des umstrittenen Briefs aus Le Monde, von #MeToo und #Balancetonporc aus?

Scott: Es ist ihre etablierte Subjektivität, die hier bedroht wird, ihr Verständnis davon, was Weiblichkeit bedeutet, was von Frauen in der französischen Gesellschaft verlangt wird. Die Unterzeichnerinnen sind überwiegend Schauspielerinnen und Medienstars. Ihre Karrieren hängen davon ab, dass sie an das vorherrschende Verständnis von Verführung glauben. Verführung muss zum Spiel gehören, das gespielt werden muss. Ihr Erfolg hängt letztendlich vom ihrem Glauben daran ab, dass sie für Männer auf eine konventionelle (man könnte sagen: ungleichberechtigte, inegalitäre) Weise attraktiv sein müssen, und dass sie diese asymmetrischen Beziehungen dann als „natürlich“ rechtfertigen müssen.

Graw/Lang: Lassen Sie uns ein wenig grundlegender auf die funktionalen Operationen dieser Mythologie schauen. Sie kennen die Geschichte der Frauenbewegungen in Frankreich wie kaum jemand anderer. Wie arbeitet, Ihren Erfahrungen und Forschungen zufolge, dieser bestimmte Mythos, den sie ausgemacht haben? Und schließt nicht auch die Artikulation und unablässige Reartikulation des Mythos andere davon aus, an Kämpfen für Gleichheit und faire Behandlung für Frauen teilzunehmen?

Scott: Ich habe darüber ausführlich im Kapitel „French Seduction Theory” geschrieben, das in meinem Buch „The Fantasy of Feminist History” (Duke University Press 2011) enthalten ist. Ich stelle dort fest, dass der Mythos nicht nur die Unterordnung der Frauen unter Männer legitimiert (ihre „liebende Zustimmung“), sondern auch die Unterordnung einer ganzen Reihe weiterer Differenzen (Rasse, Ethnizität, Sexualität) unter die Nation. Die Vorstellung von Frankreich als einer einheitlichen und untrennbaren Nation beinhaltet auch den Verzicht auf die Sammlung von Daten über diese Differenzen. Als würden Statistiken Bruchstellen in der Einheit der Nation erkennbar werden lassen. Gender-Asymmetrie bietet eine Matrix, um über Differenzen allgemein nachzudenken und über deren unzulässige Ansprüche auf politische Anerkennung. Es ist nicht nur so, wie Sie sagen, dass die „Artikulation und Reartikulation des Mythos andere davon ausschließt, an Kämpfen für Freiheit und faire Behandlung von Frauen teilzunehmen“. Es geht noch weiter: er disqualifiziert auch andere soziale Bewegungen davon, in ihrem eigenen Namen Gleichheit einzufordern.

Graw/Lang: Es gibt viele Theorien über die Strukturen mythischen Denkens und mythischer Formen. In einigen wird behauptet, dass es irgendwo auch immer eine materielle Grundlage gibt, durch die bestimmte Mythen strukturiert werden, und denen sie auch ihre Wirkmacht verdanken. Lassen sich im Fall der „séduction à la francaise“ solche Grundlagen feststellen? Und wenn, könnten Sie welche benennen?

Scott: Die materiellen Grundlagen liegen in der Unterordnung von Frauen gegenüber Männern quer durch das soziale, ökonomische und politische Spektrum: die Duldung von Gewalt im Haushalt und von sexuellen Übergriffen (indem man sie zu gutartiger „Verführung“ umdefiniert); gläserne Decken in den Berufen; duale Arbeitsmärkte auf Grundlage von Geschlecht; ungleiche Löhne; Diskriminierung auf Grundlage von Rasse und Ethnizität; die Radikalisierung von Religion und die Religionisierung (wenn man das so sagen kann) von Rasse.

Graw/Lang: Aber ist da nicht noch eine andere materielle Tatsache in diesem Mythos impliziert? Nämlich die gelebte Realität, die vor allem von Frauen erfahren wird, die im Kulturbereich oder im Show Business arbeiten? Sie machen die Erfahrung, dass ihr gutes Aussehen und ihre körperliche Anziehungskraft ihnen Handlungsmacht verleihen. Sie können ihr Aussehen für ihre Karrieren einsetzen, denn es ist nun einmal ganz einfach ein Aspekt, der bisher für diesen Typ von Karrieren in hohem Maß zählte. Anders gefragt: Könnte es nicht sein, dass Frauen wie Deneuve diesen Mythos verteidigen, weil sie ihn als befreiend erlebt haben und durch ihn bis zu einem gewissen Grad Macht dazugewonnen haben?

Scott: Dieser Umstand ist extrem wichtig – ich bin froh, dass Sie mich darauf bringen. Ja, ich denke, Sie haben Recht. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich hier von einem materiellen Umstand sprechen würde. Ich glaube, es handelt sich hier um eine psychische Tatsache für viele Frauen (und nicht nur im Show Business). Lacan spricht darüber in „Die Bedeutung des Phallus“. Frauen garantieren die Maskulinität. Sie sind in dem Maß Gegenstand des Begehrens, in dem sie den Phallus begehren. In gewisser Weise haben sie die Macht darüber, ob Männer über ihren Phallus verfügen können oder nicht. Catherine Deneuve und ihre Schwestern begreifen von sich, dass sie diese Macht haben. Auch wenn sich diese dann als eine Unterordnung von Frauen materialisiert. Ziemlich paradox, oder?

Graw/Lang: Allerdings! Nun etwas allgemeiner gefragt: Wie gehen Sie mit der #MeToo-Bewegung um, insbesondere mit ihren Formen individualisierter Teilnahme an den gegenwärtigen Enthüllungen über Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung? Wie können Bewegungen wie #MeToo zu einer stärker strukturellen und systemischen sozialen Analyse beitragen? Gibt es Wege, diese Bewegungen zum Beispiel mit einem intersektionalistischen Zugang zu verbinden?

Scott: Ich weiß nicht genau, was Sie mit einem intersektionalistischen Ansatz meinen. Für mich scheint Intersektionalität selber zu sehr in Kategorien zu denken, um ein Weg zu sein, um über die Operationen der Differenz (Klasse, Rasse, Sexualität, etc) nachzudenken. Ich bin mir nicht sicher, ob Menschen ihre Subjektivität so erleben, dass sie sich feinsäuberlich als zusammengesetzt aus Kategorien auflisten lässt (weiß, Arbeiterklasse, lesbisch, zum Beispiel). Ich denke, die Erfahrung des eigenen Selbst ist viel komplizierter, als die (politisierten) Kategorien von Identität dies vorhersagen können. Ich meine auf jeden Fall, dass #MeToo die Angelegenheiten der Machtstrukturen viel stärker ansprechen muss. Es muss auch eine Politik dafür formuliert werden. Ich fand Jacqueline Roses Text in der London Review of Books sehr überzeugend. Sie schreibt darin, dass sich Sexualität rechtlich nicht vollständig erfassen lässt. Erotische Beziehungen sind extrem kompliziert in ihrer Interpretation und Erläuterung. [1] Ich denke auch, dass wir eine feministische Bewegung brauchen, die nicht nur die Missbräuche öffentlich macht, die Frauen erlitten haben, sondern die auch Wege aufzeigt, wie das beendet werden kann. Ich wüsste gern, wie diese Bewegung aussehen könnte und was ihre politischen Strategien sein könnten.

*Graw/Lang: Auch wenn das Ideal eines verführenden Mannes (im Gegensatz zu einem, der seine Macht ausnützt) im Kern vielleicht ein französischer Mythos ist, sind auch andere Narrative von Sexiness, Erotik und auch nur Charme von einem Verständnis ungleicher Rollen für Frauen und Männer geprägt: einer ist aktiv, die andere passiv, einer will etwas, die andere hält es zurück, und so weiter. Derzeit sieht es so aus, als würden mit den gegenwärtigen Enthüllungen auch diese Gendernormen hinterfragt. Oder sie erscheinen zumindest nicht länger als harmlos, wie man das der Galanterie bisher unterstellt hat. Sehen Sie das auch so? Sind das Narrative, die wir als Gesellschaft überwinden könnten, und nicht nur in Frankreich? Und wenn, wo finden wir dann andere Narrative von Charme, Galanterie und, letztlich, Sexualität?

Scott: Ich denke, die Narrative sind Formulierungen des Rätsels der Geschlechterdifferenz. Freud, Lacan und Laplanche haben uns wichtige Wege gelehrt, wie man darüber nachdenken kann. Sie (und andere auch) behaupten, dass die Geschlechterdifferenz letztlich nicht erklärt werden kann. Gendernormen sind eine Möglichkeit, etwas mit Bedeutung zu belegen, dessen Bedeutung uns nicht transparent ist. Genitale Biologie ist keine Erklärung für Geschlechterrollen. Geschlechterrollen schreiben Körpern eine Bedeutung zu. Gender ist ein Versuch, ein intelligibles Muster über das Geschlecht und die Sexualität zu legen. Das mythische Narrativ ist eine Möglichkeit, normative Genderidentitäten zu „fixieren“, und alles zurückzuweisen, was diese bestreitet, überschreitet oder Alternativen dazu aufzeigt. Wird es neue Narrative geben, die an die Stelle der vorherrschenden treten? Werden sie den psychischen Nerv treffen? Nur so können sie einen Effekt haben. Wie könnten sie aussehen? Wir müssen diese Fragen mit Leuten aus vielen Disziplinen durchdenken. Die Psychoanalyse gehört da auch dazu – eine Psychoanalyse, die nicht versucht, normative Kategorien für das Verhalten zu finden, sondern die unser Denken für die Operationen der Psyche in der ganzen Komplexität ihrer Formen öffnet.

Übersetzung: Bert Rebhandl

Titlebild aus Claire Denis' „Vendredi Soir” (2002)