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Wie tanzt sich konzeptueller Sound? Stefan Römer über das aktuelle Interesse an „Conceptronica“ nach einem Essay von Simon Reynolds

Chino Amobi - „WELCOME TO PARADISO (CITY IN THE SEA)“, Videostill, 2018.

Chino Amobi - „WELCOME TO PARADISO (CITY IN THE SEA)“, Videostill, 2018.

White Cube oder Club? Dieser Frage geht Simon Reynolds in seinem viel diskutierten Essay „The Rise of Conceptronica“ nach. Am Beispiel zeitgenössischer elektronischer Musik schmäht Reynolds das Näheverhältnis von Popmusik und Kunst als eines der Konjunktur „konzeptualistischer“ Tendenzen: Nicht nur sei die Musik ins Museum abgewandert, so Reynolds, sie sei auch immer seltener physische denn intellektuelle Erfahrung. Gegen diesen Reduktionismus schlägt der Künstler und Kunsttheoretiker Stefan Römer eine theoretische Perspektive auf Reynolds’ Diagnose vor, die die tradierte Unterscheidung zwischen U und E zugunsten eines Konzeptualismus obsolet macht, der tanzbar ist.

Der Musiktheoretiker Simon Reynolds hat mit dem im Herbst gelaunchten Essay „The Rise of Conceptronica“ einen Nerv getroffen: Mit „Why so much electronic music this decade felt like it belonged in a museum instead of a club“ [1] löste er eine hitzige Diskussion über elektronische Musik aus. An seiner Argumentation und der seiner deutschen, durchweg männlichen Kritiker interessiert mich vor allem, was die Differenz „konzeptueller“ gegenüber anderer aktueller Musik ausmacht.

Der für sein Buch Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past (2011) und das gemeinsam mit seiner Partnerin Joy Press verfasste Sex Revolts: Gender, Rock und Rebellion (1996) einschlägig bekannte Reynolds konstatiert in seinem Essay bei einer Reihe elektronischer Soundpraktiken ab den 2010er Jahren einen Bruch mit der Clubkultur hin zu Konzerten im Kunstkontext. Dieses Thema kann die zeitgenössische Relation zwischen Kunst und Musik sowie ihre divergierenden Formate erhellen – schließlich kulminierte das Thema im letzten Jahr in einer Reihe von Ausstellungen, von denen „Hyper! A Journey into Art and Music“ in den Hamburger Deichtorhallen die lauteste und populärste, nicht aber unbedingt die interessanteste war. Bei solchen Projekten zwischen Kunst und Musik verliert man sich oft in Illustration und sucht vergeblich nach erkenntnisfördernden Kriterien.

Unter dem insofern absolut begrüßenswerten Begriff der „Conceptronica“ [2] fasst Reynolds das weite musikalische Feld „from high-definition digital abstraction to styles like vaporwave and hauntology“ und geht nicht nur auf Holly Herndons Musik ein, sondern auch auf Chino Amobis Album Paradiso sowie dessen Buch- und Soundprojekt Eroica. Reynolds kritisiert Amobis geplante Ausdehnung des Projekts auf eine Ausstellung, einen Film etc. und dass dieser dazu ein breites Feld von Theoretiker*innen bemüht. Dies kontrastiert Reynolds mit einer älteren Generation elektronischer Musik, wie z.B. Aphex Twin und Luke Vibert sie verkörpern, die sich mit „puerile humour and porn references“ zufrieden gegeben habe. An diesen etwas reduktionistischen Vergleich knüpft Reynolds die Hauptunterscheidung zwischen „old-school IDM“, die immer auch als entspannender Hintergrund fungieren konnte, und Conceptronica, die zu sehr zum Grübeln verleite. Auch bemerkt er den „selbstkuratorischen“ Impuls, der den conceptronica artists ermögliche, ihre Arbeiten in Projekt- und Förderanträge zu übersetzen. Entsprechend kritisiert er etwa Amobis Anspruch, ekstatische Tanzmusik mit kritischer Kunst und Theorie kombinieren zu wollen. Im deutschen Pop-Diskurs gilt eine solche Strategie seit den 1990ern als Differenzproduktion zu kommerzieller Musik. Aus dieser Beobachtung zieht Reynolds schließlich sein Hauptargument: Obwohl Conceptronica den Beat der Body Music nutze, sei sie aufgrund der dominanten crashing drum nicht tanzbar. Vielmehr gehe es bei ihr nicht nur darum, nachzudenken, sondern in Gedanken zu versinken, was Reynolds mit der Immersionserfahrung einer Fotoausstellung oder eines Videos vergleicht. Daniel Gerhardt erkennt in seiner Kritik an Reynolds deshalb einen „streckenweise intellektuellenfeindliche[n] Ton“ [3] .

Mit Blick auf Arcas Zyklus Mutant;Faith räumt Reynolds ein, dass die conceptronica artists zunehmend sowohl Performer*innen als auch Produzent*innen seien. Was er nicht berücksichtigt, ist, dass sich diese Tendenz zum Auteurhaften auch auf die neuen technologischen Möglichkeiten im audiovisuellen Bereich zurückführen lässt, aber eben auch auf die seit den 1970er Jahren in der Kunst gängige Nivellierung der Disziplinen. Dafür ist „Ausdifferenzierung, Verfeinerung, Abgrenzung und Abspaltung in Subgenres“ wichtig, wie Arno Raffeiner anmerkt, weil Kritik und Widerspruch die „Dinge am Laufen halte“. [4]

Alva Noto – Konzert auf der Piazza, UNIEQAV – Eine audio-visuelle Live Performance 18.1.2020, K21, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

Alva Noto – Konzert auf der Piazza, UNIEQAV – Eine audio-visuelle Live Performance 18.1.2020, K21, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

Als ich vor einigen Wochen einen Carsten-Nicolai-Gig im Düsseldorfer K21-Museum erlebte, fiel mir ein, dass ich bereits 2003 an gleicher Stelle Rodney Graham mit Band gehört hatte. Die Verlagerung von Musikevents ins Museum hat bereits in den 1990er Jahren begonnen: Damals wurden anlässlich von Eröffnungen exzessiv Platten aufgelegt und Künstler*innen wie Jutta Koether, Kai Althoff, John Miller oder Mike Kelley traten mit ihren Bands auf – eine Strukturveränderung des Museums vom White Cube zum multimedialen Ambient setzte ein, während der Club gleichzeitig zur industriellen Massenvergnügungszone wurde. Zu der Tatsache, dass Konzerte schon früher im Museum stattfanden und in Form von Soundinstallationen oder Videos ausgestellt wurden, gesellte sich ab 2000 das Absatzproblem des Musikalbums bei gleichzeitiger Vinyl-Renaissance. Ab 2010 tourte Kraftwerk weltweit durch große Museen, Lady Gaga suchte sich Berater*innen aus der Kunstwelt, und der Wu-Tang Clan produzierte ein Album, das als Unikat in die Sammlung des New Yorker Museum of Moden Art Aufnahme fand – alles durchaus als konzeptualistische Tendenzen zu untersuchen.

Weder Reynolds noch seine Kritiker legen nun allerdings eine konzise Definition vor, was Conceptronica von früheren theoretisierten und ästhetisierten Sounds unterscheidet, obwohl sie ein großes Potenzial birgt. Dazu wäre auch endlich eine stichhaltige Differenzierung konzeptueller Musik vom Minimalismus nötig. Die von Reynolds etwas genervt kommentierten Künstlertexte, die den Conceptronica-Sound oft begleiten, geben in diesem Zusammenhang Hinweise auf mögliche Unterschiede: Denn ein Charakteristikum des Konzeptualismus in der Kunst besteht beispielsweise in der Produktion von künstlerischen Begleittexten, die die eigenen intellektuellen Prozesse und Referenzen in die künstlerische Produktion implizieren. Wie lässt sich aber ein konzeptualistischer Ansatz seinerseits theoretisieren? Hierzu wäre nicht nur eine Untersuchung dieser Texte wichtig, sondern auch eine Bezugnahme auf jüngere musiktheoretische Ansätze. [5]

Stefan Römer arbeitet de-konzeptuell mit Bildern, Filmen, Sound und Texten.

Image credits: Andreas Endermann, Chino Amobi

Anmerkungen

[1]https://pitchfork.com/features/article/2010s-rise-of-conceptronica-electronic-music/.
[2]Reynolds hat den Begriff „Conceptronica“ bereits in seiner Review „Matmos, The Rose Has Teeth in the Mouth of a Beast; Ten ,sound biographies‘ of homosexual icons which sample the sound of burning flesh?“ (2006) eingeführt: https://www.theguardian.com/music/2006/apr/23/18.
[3]https://www.zeit.de/kultur/musik/2019-10/simon-reynolds-conceptronica-techno-theorie-marginalisierung.
[4]https://www.nzz.ch/feuilleton/conceptronica-simon-reynolds-findet-elektro-pop-zu-kopflastig-ld.1519750.
[5]Vgl. Stefan Römer, „Inter-esse in Resonanz“, in: Resonanzen. Eine Ausstellung der Stiftung Baden-Württemberg im ZKM (2018), hg. v. Kunststiftung Baden-Württemberg, Bielefeld 2019, S. 68–77, hier: En. 6, S. 71f., und En. 17, S. 76f.