Cookies disclaimer
Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to deliver better content and for statistical purposes. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device. I agree

138

Andere Orte Elisa R. Linn über Ariane Müller bei Schiefe Zähne, Berlin

Ariane Müllers Werk hat bereits zahlreiche Formen angenommen und taucht in regelmäßigen Abständen in den verschiedensten Städten und Orten auf, stets mit linksfeministischem Ansatz und äußerst kritischem Auge auf den Kunstmarkt. Sie ist uns als Romanautorin, Malerin, Mitherausgeberin der Zeitschrift „Starship“, aber auch als Kritikerin für dieses Heft bekannt. Im Ausstellungsraum Schiefe Zähne zeigte sie nun morbid-humorvolle Porträts, die die Autorin Elisa R. Linn kontextualisiert.

An den Wänden der Galerie Schiefe Zähne ziehen sich Porträts von Skeletten entlang. Wie Ahnenbilder thronen sie dicht aneinandergereiht über den Köpfen der Besucher*innen neben einem leeren, mintgrünen Büroregal, das Teil des festen Inventars des Ausstellungsraums ist.

Dennoch macht sich in dieser „Ruhestätte“ keine andächtige Memento-Mori-Stimmung breit. Sie wird viel eher von den Abgebildeten korrumpiert, die weder das Genusspotenzial des Makaberen ausspielen noch ins Totenkultische verfallen.

14 Skelette präsentieren sich jeweils bis zu den Achseln hinter graubraunen Brüstungen in Frontalansicht, im Viertel-, Dreiviertel- oder Halbprofil im eklektischen Mal- und Modestil historischer Ären oder geprägt von aktueller Zeitgeistigkeit.

Ein Skelett mit Picasso-ähnlichem Schädel, den man aus Der schwarze Krug und der Totenkopf (1946) zu kennen scheinen mag, im ockerfarbenen Gewand mit Perlenkette (Konrad Witz’ Glanzlicht nacheifernd), reiht sich hier neben ein in fliederweißfarbene Singer-Sargent-Bluse gehülltes Skelett mit aristokratischer Eleganz und sibyllinischem Lächeln ein.

Unter den Abgebildeten befindet sich auch ein von feuerroten Schatten umwogter Schädel mit Gerippe in Rembrandts Pelzkragen neben einem dünkelhaften 2019-Dandy-Klischee mit lässig zur Seite geneigtem Kopf in brauner Velvetjacke mit hochgestelltem Kragen. Auf der gegenüberliegenden Seite begegnet einem ein verträumt dreinblickendes Skelett im weißem T-Shirt mit riesigen Blüten in Pink und Lila, das Müller mal im Prinzenbad sichtete (das T-Shirt, nicht das Skelett).

Anders als die im 16. und 17. Jahrhundert en vogue gewordenen Vanitas-Porträts (man denke beispielsweise an Hans Holbeins berühmtes Bildnis des Sir Brian Tuke nach 1539) − die oft das Bewusstsein der „eitlen“ Dargestellten über ihre eigene Sterblichkeit und die Erkenntnis, dass ihre Porträts sie überleben werden, bekunden – rechtfertigen die Porträts von Ariane Müller sich nicht mehr selbst durch den Versuch der Zurschaustellung des Vergänglichen. Das Vergängliche wird vielmehr zum eigentlichen Subjekt, zu Porträtierten, die ihre eigene Begegnung mit dem Tod schon längst erlebt haben.

Nichtsdestotrotz wirken die Toten hier nicht morbide, da ihnen etwas Zeitweiliges zu eigen ist, was nicht nur ihren mitunter schwer haftenden Pastellpigmenten auf Karton sowie der behelfsmäßigen Anbringung mit kleinen Rundkopfspitzen an der Wand geschuldet ist. Ihre Körperhaltung, die Neigung ihres Schädels, die leeren Augenhöhlen, aus denen man Blicke zu empfangen glaubt, ihr vermeintlich kommunizierendes Lächeln sowie vor allem die ihnen auf den „Leib“ geschneiderten Outfits verzeichnen hier eine gewisse allumfassende vergnügliche charismatische Präsenz.

Ariane Müller, „Other Places (Velvet jacket 2019)“, 2019

Ariane Müller, „Other Places (Velvet jacket 2019)“, 2019

Es verwundert kaum, dass Ariane Müller im knapp gehaltenen Ausstellungstext, der wie ein schonungsloses, persönliches Statement im Tagebuchstil daherkommt, ihre Motivation beschreibt, die Darstellung von der Verdammnis einer Frau aus dem 17. Jahrhundert (z. B. das Burgfräulein von Strechau, ein mit wallenden Locken, glänzenden Perlen und einem Federbarett geschmücktes Skelett) aufzugreifen:

For the last three years I have been working on comedy, and on a big rolling laughter I had envisioned feminism could be. Then maybe out of biographical reasons this summer I started to draw other places where gender is not discernible or only because of individual choices. It also started with the anger I felt seeing a 17th century moralistic image of damnation of a woman being painted as a skeleton and my wish was to surround her with other people so as to wish her well somewhere. [1]

Zu diesen „other people“ gehört auch ein im schlichten schwarzen Kostüm und mit hohem weißem Hemdkragen posierendes Skelett, das an die britische Schreiberin und Rezeptionsästhetikerin Violet Paget mit dem maskulinen Nom de Plume Vernon Lee erinnert, wie sie einst von ihrem Jugendfreund Singer Sargent porträtiert wurde. In ihren fiktiven Schriften und ästhetischen Theorien demontierte Lee nicht nur einige der tief greifendsten Dualismen (Mann−Frau, Subjekt−Objekt, Fakten−Fiktion) des Fin de ­Siècle, sondern stattete ihre „spurious ghosts“ [2] , ihre Schlangenfrauen, Femme fatales und heidnischen Göttinnen, durch kreative Orchestrierungen und Boykottierung konventioneller „Stiltrennung“ mit einer alternativen Subjektivität aus, die den eigentlichen Begriff des Subjekts zugunsten seiner Rätselhaftigkeit untergräbt, um zu einer erfinderischeren Form der Selbstdarstellung zu gelangen.

Letztlich wird man das Gefühl nicht los, dass unser inspizierender Blick aus der Raummitte auf Ariane Müllers Totenbilder geradezu dazu verleitet wird, über diese zu urteilen – als habe man es an den Wänden mit fotografischen Porträts aus dem polizeilichen Archiv im Stile der Bertillonage oder einer Typisierung zum Zwecke eines physiognomischen Abbildes einer Gesellschaft im Damals und Jetzt zu tun. Und das, obschon jegliche Mutmaßungen über die Identität der gesichtslosen Leblosen anhand ihrer Fassade ins Leere laufen, da sie gar niemand mehr sind.

Paradoxerweise gleicht der Blick der Betrachter*innen hier nicht nur dem kritischen Blick einer Geschworenenjury, die durch Abstimmung ein Urteil über die Angeklagten fällt; im Gegenteil, es könnte ebenso gut umgekehrt sein, wie Tucholsky, der sich durch „homunculi“ zu vervielfältigten wusste, in seinem Merkblatt für Geschworene bereits ausführte. [3]

Inspizierende werden in Müllers Ausstellung zu Inspizierten und vice versa, wobei der Inspizierte erst durch das Erfahren des Beobachtetwerdens sich seiner eigenen Präsenz bewusst wird: „Ich ergreife den Blick des Anderen als eine Verhärtung und Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten. […] So ist der Andere ein mit Sprengstoff geladenes Instrument, das ich mit Sorgfalt handhabe, weil ich, um dasselbe herum, die ständige Möglichkeit spüre, daß man es platzen läßt.“ [5]

Es ist ein bisschen so, als befände man sich als Betrachter*in in Georges Seurats kaleidoskopischer Zirkusszene (Zirkus, 1891), in der man auf das pompös zurechtgemachte Bürgertum gafft, das es sich auf den oberen Bänken bequem macht, während man sich auf den billigen Plätzen etwas legerer gibt. Beim Verfolgen des Spektakels erhascht man die starrenden Blicke auf der anderen Seite der Manege: Wir, die Betrachter*innen, werden ebenso zur Ausstellung wie die Toten.

Die Frage des Publikums ist für die Commedia dell’arte-Figur Pulcinella noch dringlicher, verschmilzt doch die Zuschauer*innenmenge hier mit dem Schauspiel zu einem Ganzen. Zuschauer*innen verfolgen hinter einer Holzbrüstung die comicartige Routine des Pulcinella, wie etwa in Giandomenico Tiepolos Pulcinella und Saltimbanchi (Artisten) (1790). Dieser spielt sein Leben lang dieselbe Rolle mit der vertrauten Zinkenmaske, die nicht preisgibt, ob Pulcinella lacht oder weint; wer oder was er ist. Er ist „Jederetwas“5 und schlägt sich jenseits vom Komödiantischen und Tragischen durch die Banalitäten des Lebens. Pulcinella überrascht das Publikum unvorhersehbar; anders als der „Charakter“ ist er stets nur Maske und kann vor Gericht gestellt, freigesprochen und gleichzeitig zum Tode verurteilt werden, den er hintergeht. Denn ohne „Charakter“ beißt er ins Gras, ohne jemals tot zu sein, und überdauert als bloße „Idee“ vom Wie des Lebens. [6] Ariane Müllers Tote, die ihrer Schleier schon beraubt sind, werden schließlich die „other places“, jene vermittelnde Idee, die uns als Projektionsflächen für konservierte Gegebenheiten und zu erwartende Subjektivitäten immer wieder enttäuschen, indem sie uns erlauben, das zu identifizieren, was wir im Umkehrschluss „entidentifizieren“ [7] : nämlich die Performativität einer proteischen Lebensweise, die überdauert, wenn es uns gelingt, nicht einen Charakter wieder zu leben, sondern zu leben, wie das Leben so spielt.

„Ariane Müller: AN“, Galerie Schiefe Zähne, Berlin, 7. September bis 18. Oktober 2019.

Titelbild: „Ariane Müller: AN“, Schiefe Zähne, Berlin, 2019, Ausstellungsansicht

Anmerkungen

[1]Pressetext zur Ausstellung.
[2]Vernon Lee, Hauntings and Other Fantastic Tales, Canada 2006.
[3]Ignaz Wrobel, „Merkblatt für Geschworene“, in: Die Weltbühne, 6.8.1929, S. 202.
[4]Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg 1993, S. 391.
[5]„Pulcinella“ leitet sich vom neapolitanischen Wort „Pullecino“ ab, was „Küken“ heißt und geschlechtsneutral ist. Es handelt sich hierbei im Grunde nicht um ein Substantiv, sondern um ein Adverb. Vgl. Giorgio Agamben, Pulcinella ovvero Divertimenti per li regazzi, Roma 2015.
[6]Vgl. ebd.
[7]Vgl. José Esteban Muñoz, Disidentifications: Queers of Color and the Performance of Politics [1999], North Yorkshire 2008, S. 12.