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DEHYDRIERTE DYNAMIKEN Ellen Wagner über Dominique White in der Kunsthalle Münster

„Dominique White: When Disaster Strikes”, Kunsthalle Münster, 2023-24

„Dominique White: When Disaster Strikes”, Kunsthalle Münster, 2023-24

Elektronische Tanzmusik als Realitätsmaschine: Die enge geistige Verwandtschaft des Detroit Techno mit dem Afrofuturismus geht nicht zuletzt auf die Ablehnung einer Gegenwart zurück, deren repressive Strukturen es mit alternativen Zukunftsentwürfen zu überwinden gilt. Die britische Künstlerin Dominique White überträgt entsprechende emanzipatorische Strategien ins Skulpturale. Geprägt von Schwarzer Science-Fiction und den (Klang-)Welten prominenter Technofuturisten wie Drexciya oder Underground Resistance hat White für ihre ersten deutsche Einzelausstellung eine trockengelegte Unterwasserwelt entworfen. Ellen Wagner geht dieser auf Grund und erläutert, inwiefern sie vom Desaster erzählt und als diasporische Utopie zugleich voller Zuversicht ist.

„When Disaster Strikes, When Disaster Strikes, Take a look and sit on the sidelines and bear witness“ – so fordert es Busta Rhymes in „When Disaster Strikes“ (1997) – jenem Track, der titelgebend für Dominique Whites aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle Münster war. Im Angesicht des Desasters, das Busta Rhymes zufolge unvermeidbar erscheint, bleibt uns bloß, es vom Rand des Geschehens aus zu bezeugen. Der Aussage seiner Lyrics zuwiderlaufend, macht die Musik sich daran, etwas zu bewegen. Sie bewegt sich dabei selbst zwischen angriffslustigem Sprechgesang und stoisch entspannten Drums. Durchzogen von Effekten, die an hängende Schallplatten und ein beständig klingelndes Telefon erinnern, nimmt sich die Musik in ruhiger, rhythmischer Zielstrebigkeit ihre Zeit.

Whites Skulpturen hingegen empfangen uns zunächst in vielsagender Bewegungsstarre. Sie zitieren eine Unterwasserwelt, jedoch ohne die Besucher*innen in das Szenario eintauchen zu lassen. Im Slalom schlingern wir stattdessen zwischen inselartigen Materialassemblagen hindurch. Taue sind am Boden zu Kurven, Spiralen und Schlingen geführt. Die Künstlerin fasst diese Elemente unter dem Begriff „Shipwreck(ed)“ zusammen. Da ist nichts Schwebendes, Schwereloses. Vielmehr Masse, Kraft, Zug, Gewicht. Während White in früheren Ausstellungen bereits Bojen oder Netze verwendete, dominieren in Münster bildhauerisch nachgebildete Harpunen und Krabbenfangkörbe, die von der Künstlerin leicht vergrößert und damit den Dimensionen des menschlichen Körpers angepasst wurden. Energisch bäumen sich The tortuous und The antropophagus (beide 2023) wie Seeschlangen auf. Statt der Köpfe tragen sie Speerspitzen mit Widerhaken. Ihre Anspannung scheint kurz innezuhalten, bevor es zur Entladung, zum unerwarteten Vorschnellen kommt.

Dominique White, „The antropophagus“ und „The tortuous“, 2023

Dominique White, „The antropophagus“ und „The tortuous“, 2023

„When Disaster Strikes“ ist nicht die einzige musikalische Referenz in Whites Arbeit, die hier zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wird. So werden im Begleittext der Ausstellung auch Vertreter*innen des Detroit Techno als Inspiration der Künstlerin genannt, zum Beispiel das Duo Drexciya, das von 1992 bis 2022 aktiv war. Im CD-Booklet des Konzeptalbums The Quest (1997) ist zu lesen, worauf sich der Name dieses Musikprojektes bezieht: Die Erzählung beschreibt Drexciya als afrofuturistische Gemeinschaft unter Wasser, bestehend aus Nachfahr*innen der ungeborenen Kinder jener Frauen, die im Zuge der Mittelpassage über Bord der Sklav*innenschiffe geworfen wurden. Bereits im Mutterleib umspült von salinen Fluten des Atlantiks, konnten diese Kinder unter Wasser atmen lernen: zwischen den Küsten Afrikas, Europas und den Amerikas; zwischen Andockstellen für und Widerständen gegen die Hydrarchie kolonialer Seemächte, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind; in einem auditiven Zwischenraum, der möglichen Erzählungen ein Übertragungsmedium bietet. White schafft mit ihrer Ausstellung einen vergleichbaren Raum, in dem aus Kollisionen neue Geschichten hervorgehen und jedes einfache, einseitige Verständnis des „Vorankommens“ ausgebremst erscheint. In dieser Hinsicht lässt sich ihre Arbeit als bildhauerisches „Befahren“ der von Drexciya klanglich interpretierten transatlantischen Route auffassen.

Drexciya wird oft als Beispiel einer afrofuturistischen Entfremdung (estrangement) hegemonialer Zeitregime genannt – als „Sonic Fiction“, wie Kodwo Eshun formuliert. Eshun besteht in seinen Ausführungen zum Afrofuturismus auf eine Berücksichtigung retrospektiver und proleptischer Temporalitäten gleichermaßen – als Faktoren kolonialer und kapitalistischer Machtausübung, etwa im Managen von historischem Bewusstsein und Zukunftsprognosen, wie als Mittel eines Widerstands, der Gegenerinnerung immer auch als aus der Zukunft kommend und Zukunft als kollektive Arbeit begreift. Für Eshun ist der Afrofuturismus ein „tool kit“ der afrikanischen Diaspora, mit dem Imperativ „to code, adopt, adapt, translate, misread, rework, and revision these concepts“. [1] Genau diese offenen Enden und ambivalenten Dynamiken kennzeichnen Drexciyas Projekt ebenso wie diese Arbeiten Whites, die halb zerfallen anmuten und zugleich noch unfertig und weiter zu bearbeiten.

Geprägt von afrofuturistischen wie -pessimistischen Theorieeinflüssen findet Whites Ausstellung in absoluter Stille und „aquat(op)ischer Ortlosigkeit“ statt: Während die Objekte unter kühlem, künstlichem Licht von Ereignissen am Meeresgrund erzählen, entspricht die Architektur der Kunsthalle im ehemaligen Getreidespeicher einem vormals industriell genutzten Ort an Land. Man sieht aus dem Fenster, und beide dieser imaginativ vorgenommenen Verortungen verlieren buchstäblich den Boden unter den Füßen: Wir befinden uns über den Dächern der Stadt im fünften Stock eines Atelierhauses im Hafen. Die Desorientierung zwischen oben und unten, zwischen Wasser, Land und Luft, begleitet uns durch die Ausstellung. Sie scheint sowohl den Haltverlust Schwarzer Menschen durch koloniale Gewalt und diskriminierende Strukturen aufzugreifen als auch einen Gegenentwurf anzudeuten, der sich diesen entzieht. Die hölzernen Elemente der Skulpturen wirken wie angewinkelte oder gestreckte Gliedmaße, Metallspitzen und -haken wie Antennen und Fühler, die fragil sind und sich doch wehrhaft behaupten – geknickt, gebeugt und dennoch präsent im Raum. Tatsächlich lässt sich von hier, vom Klang übertragen auf den Raum, eine Rhythmik parallel zu Drexciyas atlantischem Deep Sea Dweller – so der Titel einer EP des Duos aus dem Jahr 1992 – erkennen.

Dominique White, „The dethroning of the Human“, 2023

Dominique White, „The dethroning of the Human“, 2023

Zwischen all den glucksenden, zischenden und rieselnden Stücken auf The Quest, das eine gefährliche futuristische Unterwasserreise erzählt, unterbricht der Track „Dehydration“ schon nach sechseinhalb Minuten den Fluss. Dort hören wir eine Art elektronisches Pizzicato, unverbunden mehrstimmig gezupft und dabei leicht hallend. Ganz ähnlich „dehydriert“ White unsere Wahrnehmung, die sich zunächst auf Weniges, Greifbares – Kaolin, Kohle, Sisal, Mahagoni, Metall – konzentriert. Statt eines immersiven Fließens gleicht der Gang durch die Ausstellung einem aufmerksamen Abgehen einzelner Schauplätze materieller Transformation.

Dabei steuern wir zwischen metaphorisch aufgeladenen Jagdgeräten, den Harpunen und Krabbenfangkörben, hindurch. Am Meeresgrund vergessen werden letztere oft zur Gefahr für Schiffe. Und vielleicht sind diese Objekte, aus deren aufgereckten Spitzen und Klingen aufreibende Kämpfe sprechen, auch als „Fallen“ in der Ausstellung zu verstehen: Sie ziehen effektvoll Aufmerksamkeit auf sich, doch lenken sie im nächsten Schritt dorthin, wo gerade scheinbar nicht mehr oder noch nicht viel zu erzählen ist: zu den wolkigen, verklebten und zerfallenen Gewirken, die sich aufgehäuft verteilt in ihren Zweigen, Streben, Stäben befinden.

„When Disaster Strikes“ ist eine „trockene“ Ausstellung – im Sinne einer sogenannten trockenen Akustik, die in Räumen mit kurzer Nachhallzeit, dafür jedoch mit sich umso klarer artikulierendem Klang entsteht. Wir treffen auf sieben skulpturale Anordnungen oder räumliche Assemblagen, die teils als Pendants visuell miteinander korrespondieren, zugleich aber – ihre eigene Position im Raum behauptend – einen Abstand zueinander einhalten. Da sich die gleichen Materialien in jeder Arbeit neu kombinieren, treten ihre spezifischen Eigenschaften in der Wiederholung besonders deutlich und wandlungsfähig hervor. Zugleich sind es die Materialitäten selbst, die den Situationen unscharfe Ränder verleihen: Einige Werke, etwa The dethroning of the Human (2023), wurden mit weißem Kaolin in variierender Deckkraft überzogen, wodurch sich im Umfeld dichte Kleckse gebildet haben. Ein zart gepuderter schwarzer Kranz aus Kohlestaub am Boden umgibt dagegen A refusal to be captured und A refusal to be dominated (beide 2023). Die Arbeiten muten wie zum Erliegen gekommene Streitwagen an, um die herum sich feine Bewegungsspuren abzeichnen. Offen bleibt, ob sie von der Künstlerin beim Aufbau hinterlassen wurden oder von Besucher*innen, die beim Umkreisen der Werke nah herangetreten sind.

In Bezug auf Drexciya betont Katherine McKittrick die Fähigkeit der Live-Improvisation, in kollaborativer physischer Arbeit innovative Energien freizusetzen: „They harness the storm and then let it go“, „[…] one cannot improvise without practising and arranging and rearranging memory patterns developed through partly unconscious repetition.“ [2] In Whites Ausstellung hallen diese Sätze nach. Die Werke verweigern die „Gefangen-“ oder Indienstnahme durch Produktion wie Rezeption – gerade in den Texturen, die in Kontakt miteinander und mit uns gebracht werden, aber nicht in fester Form zu halten sind; stattdessen anfällig für jeden Luftzug, antastbar durch Neugier und robust gegen alle Versuche der Ausdeutung, der „Erkennung“.

Dominique White, „A refusal to be dominated“, 2023

Dominique White, „A refusal to be dominated“, 2023

Überall treten Schattierungen hervor, die den starken Kontrasten eingeschrieben sind: Rostig-orange Verläufe überziehen das Eisen. Die monochrom verkohlten oder hell gefassten Partien regen an, schemenhafte Formen und Landschaften in sie hineinzudeuten. Von Skulptur zu Skulptur etabliert White eine Regelmäßigkeit aus Wiederholungen und Abweichungen. Dabei entstehen keine politischen „Halbzeuge“, sondern Gerüste und Skelette, instabil ungelenk oder schmerzhaft verhakt. Die stellenweise plakative, doch notwendig martialische Bildsprache öffnet sich in dieser Abstrahierung vom Bild des Schiffswracks auf das Wie der noch so unwahrscheinlich erscheinenden Verbindungen, die wir im Alltag zwischen uns und anderen Menschen und Erfahrungen herzustellen suchen.

Das bildhauerische Nachbilden der Netze, Harpunen und Fallen in einem langwierigen Prozess des Abarbeitens am Material entfremdet die Formen ihren üblichen Funktionen in maritimen Ökonomien und bereitet sie zugleich auf etwas anderes vor. White, deren Vorfahren aus der Karibik nach Großbritannien einwanderten, bearbeitet nicht bloß vergangene gewaltvolle Ereignisse, sondern reagiert auf das, was ist und was sein könnte. Und dies schließt besonders die (Un-)Möglichkeiten Schwarzen Lebens ein, hin- und hergeworfen zwischen Abwertung und punktueller Solidarisierung, zwischen Selbstermächtigung und Existenzbedrohung. Damit überträgt sich die Ambivalenz in der Handhabung der Werkstoffe, zwischen Destruktion und Formfindung, dem Ummanteln, Verkleben oder Versengen bereits beschädigter oder rostiger Elemente, auch auf deren mögliche Deutung als noch unbestimmte kollektive Praktiken in der Zukunft. Aus dem Zusammenspiel entstehen neue Formationen, die, im Moment vielleicht noch unlesbar, buchstäblich eine Haptik vermitteln; eine Greifbarkeit, Angreifbarkeit und Konfrontationsbereitschaft, die mit eigener Verletzlichkeit einhergeht; die, übertragen auf einen gesellschaftlichen Umgang miteinander, nicht im Rückzug, sondern in der Auseinandersetzung aus konfliktuösen Mehrdeutigkeiten schöpft.

Das anhäufende Modellieren in aller Formlosigkeit, ohne figuratives Ziel, wie es uns bei White begegnet, ist vergleichbar mit dem langsam drehenden Motor des manövrierenden Erkundungs-U-Boots, das eine Baustelle passieren muss: „This is Drexciyan Cruiser Control […], please decrease your speed to 1.788.4 kilobahn, thank you.“ [3] Es ist verwandt mit dem klingelnden Telefon, das ich bei Busta Rhymes zu hören glaube. Es wurde gar nicht aufgenommen und ist trotzdem für mich wahrnehmbar. Nicht abzuheben, aber dennoch da zu sein, oder das Tempo zu drosseln, statt die Baustelle weit zu umfahren, sind bewusste Entscheidungen, mit Zeit umzugehen. Sie nehmen Geschwindigkeit aus den Erwartungen. Antworten nicht auf Dringlichkeit, die andere kommunizieren. Widerstehen, afrofuturistisch gelesen, der als „folgerichtig“ angenommenen Reaktion und lassen in der Verzögerung einen Spielraum für die Reflexion des Vergangenen und Künftigen entstehen. Ähnlich bestimmt auch die bildhauerische Arbeit Whites ihren eigenen Rhythmus, indem sie auf der Auseinandersetzung mit Spuren und Andeutungen angehaltener Bewegungen besteht. Ihr Potenzial bildet und erschließt sich durch genaues Hinsehen – die Einstellung unserer Sinneswahrnehmung auf ein visuelles Hören und Ertasten einer erst noch zu entstehenden Form.

„Dominique White: When Disaster Strikes“, Kunsthalle Münster 9. Dezember 2023 bis 10. März 2024.

Ellen Wagner lebt und arbeitet als Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kuratorin in Offenbach und Frankfurt/M.

Image credit: Courtesy Dominique White and Veda, photo Kunsthalle Münster / Volker Renner

ANMERKUNGEN

[1]Kodwo Eshun, „Further Considerations on Afrofuturism“, in: CR The New Centennial Review, Juni 2003, S. 287–302, hier: S. 301.
[2]Katherine McKittrick, Dear Science and Other Stories, Durham: Duke University Press, 2021, S. 56.
[3]Intro zu Drexciyas Album Bubble Metropolis, siehe auch Nettrice R. Gaskins, „Deep Sea Dwellers: Drexciya and the Sonic Third Space“, in: Shima, 10, 2, 2016.