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Gedächtnisspiegelung Christine Lemke über „Sex brennt“ im Medizinhistorischen Museum der Charité, Berlin

Pauline Boudry, Renate Lorenz, »N.O. Body« (Filmstill), Medizinhistorisches Museum, Berlin, 2008, Ausstellungsansicht Pauline Boudry, Renate Lorenz, »N.O. Body« (Filmstill), Medizinhistorisches Museum, Berlin, 2008, Ausstellungsansicht. © Christian Gänshirt 2008

Auf einer der Karten, die man sich aus der Ausstellung „Sex brennt“ im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité mitnehmen konnte, ist eine Wand abgebildet, auf der Schautafeln mit je vier Fotografien und Beschriftungen darüber und darunter angebracht sind. Die Fotografien zeigen Personen. Man sieht ihr Gesicht oder ihren Körper. Sie sind entweder bekleidet oder nackt. Über den Schautafeln hängt ein gerahm­ter Schriftzug: „Dr. Magnus Hirschfeld, Sexual Transitions, Sexes Intermédiares, Sexuelle Zwi­schen­stufen“. Der Text auf der Rückseite der Karte erklärt den Zusammenhang: Es handelt sich um die sogenannte „Zwischenstufenwand“ im von Magnus Hirschfeld 1919 in Berlin-Tiergarten gegründeten „Institut für Sexualwissenschaften“. Zur Demonstration seiner Zwischenstufentheorie, derzufolge Geschlechtsmerkmale in allen möglichen Kombinationen vorkommen können und demnach jeder Mensch eine einmalige Mischung sogenannter männlicher und weiblicher Merkmale ist, sammelte der Sexualwissenschaftler Fotografien und klassifizierte diese unter anderem nach Hermaphroditen, Androgynen, Homosexuellen und Transvestiten, so dass die „Zwischenstufenwand“, wie es von dem Kurator Rainer Herrn auf der Rückseite der Karte formuliert ist, „einen Fries hybrider Geschlechter, der sogenannten sexuellen Zwischenstufen“ darstelle.

Die Ausstellung "Sex brennt – Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft und die Bücherverbrennung", die aus Anlass des sich in diesem Jahr zum 75. Mal jährenden Überfalls, der Plünderung und der Schließung des Instituts für Sexualwissenschaften durch nationalsozialistische Studentenverbände und die sich daran anschließende Verbrennung der geraubten Bücher durch die Nationalsozialisten auf dem Opernplatz in Berlin von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité gezeigt wurde, widmete sich der Person und der Arbeit Magnus Hirschfelds wie auch der ihm zugetragenen Rolle als prominentes Angriffsziel nationalsozialistischer Propaganda. Laut dem im Pressetext postulierten Anspruch sollte die Ausstellung dabei nicht nur eine Aufbereitung und Präsentation von zum Teil noch unbekanntem historischem Archivmaterial zu Magnus Hirschfeld und seiner Arbeit leisten. Vielmehr sollten künstlerische Positionen eine aktuelle Beschäftigung mit der theoretischen Arbeit Hirschfelds und seinen sexualpolitischen Anliegen in Gang setzen.

Als „Versuch eines Gedächtnismodells“, dessen „räumliche Anordnung mit der Vorstellung einer unterbrochenen Kontinuität operiert“, wie es im Pressetext heißt, bildete die von Eran Schaerf und Christian Gänshirt gestaltete Ausstellungsarchitektur einen labyrinthischen Raum im Raum, der die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung zu einem aufeinander verweisenden Gefüge zusammensetzte. Bestehend aus einer sich vielfach krümmenden Wand aus durchscheinendem Pappkarton verstellte die Ausstellungsarchitektur einerseits den Blick für die Gesamtheit der räumlichen Gegebenheiten und der dargebotenen Exponate, lenkte die Aufmerksamkeit aber andererseits auf Wandverläufe, Nischen und Ecken. In die Wand eingelassene Vitrinen und Fenster öffneten den Blick der Betrachter/innen zudem für weitere Einblicke in die Ausstellung und setzten die Bezüge der Exponate untereinander in Szene.

In ähnlicher Weise war auch die Präsentation des umfangreichen Archivmaterials mittels der von Rainer Herrn und Eran Schaerf entworfenen „Postkarten“ angelegt, die rund 100 Exemplare umfassten. Diese wiesen jeweils eine Bildseite und eine das Motiv erklärende Textseite auf. Damit bot jede einzelne Karte einen anderen Einblick in das Werk und Leben Magnus Hirschfelds und in die historischen Ereignisse um die Bücherverbrennung.

Die Karten kamen in der Ausstellung gedoppelt vor: Zum einen dienten sie als didaktisches Informationsmaterial, das in der Ausstellung selbst nach bestimmten Themenfeldern geordnet an den Wänden angebracht war, zum anderen konnten sie von den Besucher/innen anstelle eines Kataloges mitgenommen werden. So changierte ihr Status zwischen einem reinen Informationsträger und einem auszuwählenden Objekt, das man aus der Ausstellung mitnahm. Sie fungierten so als Ausschnitte eines sich öffnenden und zugleich zerstreuenden Archivs, das - einem Gedächtnis gleich - keine objektivierbare oder verfügbare Gesamtheit an Wissen, Gedanken und Meinungen aufweist, sondern den Besucher/innen mithin verschiedene Formen der Teilhabe und der Bezugnahme anbot.

Die ausgestellten künstlerischen Arbeiten von Pauline Boudry/Renate Lorenz, Arnold Dreyblatt, Eva Meyer/Eran Schaerf, Henrik Olesen, Ulrike Ottinger und Marita Keilson-Lauritz lassen sich vor dem Hintergrund dieser Konzeptionen als remixe umschreiben. Ihnen allen ist gemein, dass sie sich dem Leben und Werk Magnus Hirschfelds nähern, indem sie sich Teile aus dem Pool des Archivmaterials aneignen, sie befragen, kommentieren, neu kontextualisieren, variieren oder einfach wiederholen.

Der „Zwischenstufenwand“ Hirschfelds etwa begegnet man als nachgebaute Version in der Arbeit „Der Körper unter der Haut ist eine überhitzte Fabrik“ (2007) von Henrik Olesen. Die Form und Anordnung der Schautafeln Hirschfelds behielt Olesen bei, durchkreuzt und „aktualisiert“ deren Systematisierung von Geschlechtertypen jedoch durch die Assoziation von historischem mit gegenwärtigem Bildmaterial und „Klassifizierungen“, die er aus queeren Zusammenhängen schöpft. So kombiniert er beispielsweise für die von ihm eingeführte Klassifizierung Bears in der schwulen Szene kursierendes Bildmaterial mit historischen Abbildungen von behaarten Männern und vollzieht darüber eine schwule Einschreibung in die Geschichte. Auch in der Filminstallation „N.O. Body“ (2008) von Pauline Boudry und Renate Lorenz wird historisches Bildmaterial angeeignet. Ausgehend von einer Fotografie aus Hirschfelds Bildband zur Geschlechterkunde, auf der die Bartdame Annie Jones abgebildet ist, inszenierten die Künstlerinnen in den Räumen des alten Hörsaals der Charité den Auftritt der besagten Bartdame. Einen wissenschaftlichen Gestus imitierend und diesen immer wieder durch Gelächter konterkarierend hält „Annie Jones“ einen Diavortrag, bei dem sie unterschiedlichstes Bildmaterial von Transgender-Darstellungen vorführt und sich darüber hinaus der Betrachtung des historischen Fotos ihrer selbst aussetzt.

Für ihren Film „Mein Gedächtnis beobachtet mich“ (2008) montierten Eva Meyer und Eran Schaerf wiederum Bildmaterial der Bücherverbrennung, Reproduktionen von Hirschfeldkarikaturen aus der nationalsozialistischen Presse, Fotografien aus dem damaligen „Institut für Sexualwissenschaften“ und Abbildungen wissenschaftlicher Buchveröffentlichungen Hirschfelds. Mit einer menschlichen Silhouette, die sich vor den laufenden Bildern bewegt und spricht, haben sie noch eine zusätzliche Ebene in den Film eingezogen. Die genaue Identität der Person bleibt unklar. Sie zitiert Auszüge aus Briefen, Tagebucheintragungen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen Hirschfelds und erscheint so wie ein untoter Schatten ihrer selbst, der sich nachträglich in seiner eigenen Geschichte spiegelt.

Dieser aneignende und fortführende Umgang mit historischem Bild- und Textmaterial widerspricht aus der Perspektive der Gegenwart eindeutigen Festschreibungen der Vergangenheit. Durch die mittels der Ausstellungsarchitektur betont in Szene gesetzte Bezüglichkeit zwischen den einzelnen Arbeiten und Exponaten entstand eine Vielzahl von Anschlüssen, Aktualisierungen, Verschiebungen und Korrekturen. Verstärkt durch die Dominanz der Ausstellungsarchitektur verloren die künstlerischen Arbeiten in diesen Prozessen der Verknüpfung jedoch einen Teil ihrer Autonomie und schienen sogar wie in einen ausgreifenden Organismus des Gedenkens eingelassen, der sie fast verschluckt. In diesem Zusammenhang kam es in der Gesamtkonzeption von „Sex brennt“ den Betrachter/innen zu, die beschriebenen Verknüpfungen unter den einzelnen Arbeiten und Exponaten aufzunehmen und weiterzutragen, aber auch Unterscheidungen und Abgrenzungen einzuführen.

„Sex brennt. Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft und die Bücherverbrennung“, eine Ausstellung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité, Berlin, 7. Mai bis 14. September 2008.