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DÜSTERBURG, DOKUMENTARFILM, DISKURS Elena Meilicke über die Duisburger Filmwoche 2023

Nikolaus Geyrhalter, „Stillstand,“ 2023, Filmstill

Nikolaus Geyrhalter, „Stillstand,“ 2023, Filmstill

November in der von Harun Farocki als „Düsterburg“ bezeichneten Industriestadt: beste Kinozeit. Nicht nur, weil die weichen Sessel im warmen Saal bei nasskaltem Wetter besonders einladend sind, sondern auch weil dort die Filmwoche einen aktuellen Überblick über die Dokumentarfilmszene bietet. Zum zweiten Mal berichtet die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Elena Meilicke für TEXTE ZUR KUNST davon und stellt vier Filmprojekte vor. Darunter der Versuch von Corinna Belz, dem Fettnäpfchen-reichen Genre des Künstlerporträts gerecht zu werden, und „Stillstand“, ein Rückblick auf die Pandemiejahre 2020 und 2021 in Wien. Die für das Festival so wichtigen Diskussionen finden ebenfalls Eingang in Meilickes Kurzrezensionen der Beiträge.

„Seit 1986 bin ich fast jedes Jahr auf der Filmwoche gewesen“, schrieb Harun Farocki 2006 in einem Text mit dem Titel „Dreißig Jahre Düsterburg“: „Stets nur ein paar Tage, stets zur gleichen Jahreszeit, immer wieder die Begegnung mit den gleichen Leuten. Ein Stück Parallel-Leben, eine Zeitraffer-Erfahrung.“ [1] Auf 30 Jahre bringe ich es noch nicht, aber doch schon auf sechs oder sieben. Für ein paar Tage fahre ich dorthin, stets zur gleichen Jahreszeit, Anfang November. Die Stadt ist immer grau und verregnet, „eine Miststadt“, wie Farocki schreibt, „unmondän“. Dennoch oder gerade deshalb: Die Duisburger Filmwoche, die nur in einem einzigen Kino stattfindet, sich auf eine überschaubare Anzahl von Filmen konzentriert und jedem einzelnen den Luxus einer ausführlichen Diskussion widmet, ist seit Jahrzehnten und immer wieder Anziehungspunkt für Dokumentarfilm- und Diskursverliebte.

Zu Beginn der Filmwoche ein Künstlerporträt: Thomas Schütte – Ich bin nicht allein von Corinna Belz. Dieses Filmgenre ist eine potenziell schwierige Angelegenheit, das mit zahlreichen Fallstricken aufwartet: Geniekult, Pathos, Mythisierung, alles schon gesehen. Belz – die bereits Filme über Gerhard Richter und Peter Handke gedreht hat – war es wichtig, gegen die oft üblichen Topoi anzugehen, und Schüttes Persona kam ihr dabei entgegen. Denn er, so die Filmemacherin in der Diskussion nach der Vorführung, fahre ja eine „Anti-Pathos-Strategie“ und sei quasi der „Anti-Kiefer“. Später platzierte sie noch einen kleinen Seitenhieb gegen Wim Wenders aktuellen Anselm-Kiefer-Film, als sie auf die Publikumsfrage, wie sich Skulptur denn in Film übersetzen lasse, witzelnd antwortete: „Vielleicht mit 3-D?“

Belz’ Film kommt ohne 3-D aus, und ihr Protagonist selbst strahlt tatsächlich kein Pathos, sondern schnoddrige Bodenständigkeit aus. Gefragt, ob er das Arbeiten mit Ton im Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie kennengelernt habe, meint er knapp: „Nee, in der Psychiatrie. In der Basteltherapie.“ Als Bastelarbeit will Belz Schüttes Werk nicht missverstanden wissen, dennoch reduziert sie die kunsthistorische Einordnung auf ein Minimum. Nur punktuell kommen ein Schweizer Museumsdirektor und eine MoMA-Kuratorin zu Wort. Stattdessen rückt der Film die künstlerischen Prozesse in den Vordergrund und zeigt die Arbeit vieler Hände am Material wie Wachs, Ton, Styropor. Es geht um Modelle und Materialmetamorphosen, um unterschiedliche Größenverhältnisse und Skalierungen. Vor allem interessiert sich der Film für die Arbeit in verschiedenen Werkstätten, in denen nach Schüttes Anweisungen und mit höchster Konzentration Bronze gegossen, Ton bearbeitet, Glas geblasen wird – eingefangen in perfekt aufgelösten Filmsequenzen, die eine ganz eigene Spannung und Schönheit entfalten.

Corinna Belz, „Thomas Schütte - Ich bin nicht allein,“ 2023, Filmstill

Corinna Belz, „Thomas Schütte - Ich bin nicht allein,“ 2023, Filmstill

Die hier naheliegende Frage nach einem System, das Kunst und Handwerk, Konzeption und Ausführung säuberlich voneinander trennt und den fertigen Werken am Ende allein Schüttes Namen anheftet, stellt der Film nicht. Auch Schüttes (exorbitanten) Erfolg auf dem Kunstmarkt als Voraussetzung, die vorgeführten aufwendigen Produktionsweisen zu nutzen, lässt er außen vor. Und schlussendlich geht auch das Pathos-Vermeidungsprogramm des Films nicht wirklich auf. Denn indem dieser letztlich den Tod als bestimmendes Thema von Schüttes Werk identifiziert – das als roter Faden unterschiedliche Werkphasen miteinander verknüpft, von frühen Entwürfen eines überdimensionalen Grabmals über Tonköpfe, die die Memorialfunktion von Skulpturen aufrufen, bis hin zu gläsernen Urnen –, schleichen sich existenzielle Fragen hinterrücks doch in den Künstlerfilm ein.

Krankheit und Sterben beschäftigen auch Nikolaus Geyrhalter in seinem Film Stillstand, einer Chronik der Corona-Pandemie vom Frühjahr 2020 bis Winter 2021 in Wien. Im Gespräch nach der Vorführung musste Geyrhalter sich die neckische Frage gefallen lassen, ob er sich über die Pandemie nicht gefreut habe, deren postapokalyptische Szenerien seiner eigenen Bildästhetik schließlich sehr entgegenkämen. Tatsächlich setzt Stillstand Ansichten der menschenleeren Stadt und Interviews mit unterschiedlichen Akteur*innen (Ärztin, Gesundheitsstadtrat, Lehrerin, Bestatter, Kinobetreiber, Floristin usw.) in der für Geyrhalter typischen Weise ins Bild; in wohlkomponierten, streng achsensymmetrisch aufgebauten statischen Totalen. Der Film interessiert sich vor allem für das zivilgesellschaftlich-politische Management der Pandemie, das als insgesamt erfolgreich bewertet wird. Als Pandemie-Narrativ wirkt das stellenweise sehr staatsnah, ein bisschen zu glatt und eindimensional.

Dennoch bietet Stillstand als Konfrontation mit einer kollektiven Erfahrung der jüngsten Vergangenheit, die für viele traumatisch war und ist, eine interessante Seherfahrung. Ich spürte im Kino sitzend leichten Unwillen, sich mit diesen „verlorenen Jahren“ (so eine Schülerin im Film) überhaupt zu befassen, eine Abwehr, die vielleicht symptomatisch ist. Und recht gut fängt Stillstand die seltsame Zeitlichkeit der Corona-Jahre ein, ihre Unstrukturiertheit, tendenzielle Unerinnerbarkeit und auch ihre affektive Dynamik: vom euphoriedurchwirkten Schock der ersten Monate (ein Kinobetreiber schildert seine Hoffnung, dass aus der Pandemie eine neue gesellschaftliche Solidarität erwachsen könne) bis hin zur zähen Erschöpfung anderthalb Jahre, drei Lockdowns und ungezählte Querdenker*innen-Demos später – eine Erschöpfung, die sich in Gesichter und Körper eingezeichnet hat und bis heute nachzuwirken scheint.

Julian Vogel, „Einzeltäter,“ 2023, Filmstill

Julian Vogel, „Einzeltäter,“ 2023, Filmstill

Mit Ereignissen der jüngeren, speziell deutschen Vergangenheit – vor der Pandemie und von dieser medial überlagert – setzt sich Julian Vogels Dreiteiler Einzeltäter auseinander, der in Duisburg mit dem 3sat-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Er ist den Anschlägen in München 2016, in Halle 2019 und in Hanau 2020 gewidmet, bei denen 20 Menschen – die meisten sehr jung und mit Migrationsgeschichte – ermordet wurden. Dreimal in Folge Einzeltäter: Das ist als performativer Widerspruch eine starke Setzung, um genau dieses entpolitisierende Narrativ zu zerschlagen. In den Vordergrund tritt stattdessen der Zusammenhang rassistischer Gewalt als das gemeinsame Motiv der drei Taten. Dabei zielen Vogels Filme, die vom ZDF produziert wurden und in der Mediathek abrufbar sind, nicht auf eine umfassende und objektive Rekonstruktion der Anschläge. Sie rücken vielmehr die Angehörigen der Getöteten in den Mittelpunkt, geben der Erfahrung und Trauer von Eltern, Freund*innen und Geschwistern Raum. Einige von ihnen waren in Duisburg anwesend, sahen die fast vier Stunden Film gemeinsam mit dem Kinopublikum.

Von den drei Teilen enthält der erste zum Anschlag in München am ehesten eine ausgearbeitete Konfliktlinie: Er zeichnet den Kampf der Angehörigen um die Anerkennung des Anschlags als grundsätzlich rassistisch motivierte Tat nach. Denn sehr schnell hatten Medien, Politik und Justiz sich darauf geeinigt, dass man es mit einem nicht politisch motivierten Amoklauf zu tun habe, und daran lange stur festgehalten. Erst nach dem Anschlag von Halle wurde München nachträglich als rassistische Tat anerkannt. Gerade weil Einzeltäter davon erzählt, wie wichtig es ist, welche Taten wie erinnert werden und welche Narrative eine Gesellschaft über sie entwickelt, werfen die Setzungen, die Vogels Filme vornehmen, aber auch Fragen auf. Teil 2 zum Anschlag in Halle etwa porträtiert hauptsächlich den Vater des in einem Imbiss getöteten Kevin Schwarze, während die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die der Täter zuvor angegriffen hatte, so gut wie nicht vorkommen.

Helin Çelik, „Anqa,“ 2023, Filmstill

Helin Çelik, „Anqa,“ 2023, Filmstill

Von extremer Gewalt, Gewalt von Männern gegen Frauen, erzählt auch Anqa von Helin Çelik, der den ARTE-Dokumentarfilmpreis erhalten hat. Zusammengesetzt aus extremen Close-ups von weiblichen Gesichtern – Lippen, die sich in stummem Gebet bewegen, eine Hautwucherung an der Nasenwurzel, halbgeschlossene Lider über erblindeten Augen –, zieht Çelik die Zuschauer*innen in eine filmische Situation, die sich rational kaum sortieren lässt, dafür unmittelbar affiziert: als wortloser Schrecken und stummer Schrei. Anqa bewegt sich nahezu ausschließlich in Innenräumen, die halb Gefängnis, halb Schutzraum zu sein scheinen und nicht näher verortet werden – irgendwo im arabischen Raum.

Ansichten voller Unschärfen reihen Details und Ausschnitte aneinander, eine Küchenzeile, ein Gasherd mit blaugelber Flamme, Frauenhände, die rhythmisch klopfend einen Säugling in den Schlaf wiegen. Und immer wieder: Stoffe, Textilien, Tücher, florale Muster in endlosen Variationen auf Wolldecken und Vorhängen, die luftig und halb durchsichtig sind und doch den Blick nach draußen verstellen. Sie tauchen den Raum in ein dämmriges Halbdunkel jenseits von Zeit und Welt. Es passiert nichts in diesen abgeschlossenen Räumen, zwischen diesen Stoffen und Mustern; es gibt keinen Plot und keine Entwicklung. Auf der Tonspur sprechen die Frauen manchmal auf Arabisch, Fetzen von Erinnerungen an Schüsse, an die Angst vor dem Dunkel, die Nacht. Eine große, fast erdrückende Schwere und Traurigkeit gehen von diesem Film aus, der vom Leben nach der Gewalt handelt.

Duisburger Filmwoche 2023 vom 6. bis 12. November.

Elena Meilicke ist promovierte Medien- und Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin. Forschungsschwerpunkte sind Medienpathologien, Medien und Gender, zeitgenössische Film- und Serienästhetik und Formen des Dokumentarischen. Aktuell arbeitet sie an einer Monografie zur Medien- und Kulturgeschichte der Resilienz, außerdem ist sie Teil eines künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprojekts zu filmischen Autosoziobiografien, das an der Filmakademie Wien angesiedelt ist.

Image credit: 1. © Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH; 2. © Real Fiction Filmverleih; 3. © Julian Vogel 4. © Helin Çelik; all images courtesy of Duisburger Filmwoche

Anmerkungen

[1]Harun Farocki, „Dreißig Jahre Düsterburg“, in: Matthias Dell/Simon Rothöhler, Duisburg Düsterburg. Werner Ruzicka im Gespräch, Berlin 2018, S. 161–166, hier: S. 163.