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RENÉ POLLESCH (1962–2024) Von Nina von Mechow

Endproben für „Tal der Fliegenden Messer“, 2008

Endproben für „Tal der Fliegenden Messer“, 2008

Dieses Wissen um die Herstellung der Geigen bei Stradivari, das gab es, solange die alle zusammen waren. Als Stradivari starb, waren die Stradivaris nicht mehr so gut. Mit Computern hat man dann später die Geigen vermessen, exakt Temperatur und Material und so, aber sie waren anders. Und man müsste eine Sprache entwickeln für alle unausgesprochenen Dinge, alle Blicke, die Leute untereinander austauschen in einer Werkstatt. Weil es einfach mehr gibt als das, was Leute sprachlich mitteilen können. Man kann das nicht beschreiben, nicht nachträglich zum Konzept machen, es ist nicht fassbar. Es gibt Dinge, die nicht festzumachen sind, sondern schlichtweg durch den Kontakt von Leuten entstehen. Das ist kein Zauber, es gibt etwas Materialistisches daran, das sich aber nicht in Sprache, Dokumenten oder Rezepten niederschlägt. Rezepte und Dokumente zu unausgesprochenen Dingen und Blicken machen, das geht eben nicht. Das Problem ist dann, dass alles richtig war, das heißt dann (aber) eben nur, an eine Erfolgsgeschichte zu denken … Die Garage von Apple zum Beispiel.
Aus dem Textbuch zu Black Maria (Stand 25. Januar 2020).
So ein Nachruf ruft nicht wirklich der Person hinterher, die man verloren hat, sonst würde man einfach sehr laut rufen, dass sie bitte hierbleiben soll.

Für Réne war klar, dass es viele Arten gibt, gemeinsam zu denken: durch Kostüme oder Musik, mithilfe der Kamera, mit Räumen, Stimmen oder Bewegungen. Ausgangspunkt für ein Stück waren die Konstellation von Leuten auf, hinter und vor der Bühne, aber auch ein Titel, das Bühnenbildmodel, die Probebühne, Probenkostüme oder auch organisatorische Fragen, die die Probenbedingungen bestimmten – Parameter also, die für unsere unmittelbare Arbeit relevant waren. Aber auch ein Text, den ein*e Dramaturg*in vorschlug, ein explizites Interesse einer Schauspielerin oder ihr Wunsch, einen Film zu drehen … Wichtig war nicht, woher der Impuls kam, sondern was man damit anfangen konnte. Vorschläge von uns Bühnen- und Kostümbildner*innen hat René erst mal nicht infrage gestellt. Er hat uns im Gegenteil als erste Autor*innen der Stücke bezeichnet.

Die ersten Seiten Text, die René selbst mitbrachte, waren Vorschläge, Themen oder Probleme, die ihn gerade interessierten. Die Gespräche während der Proben brachten andere Perspektiven auf seine Texte, und René schrieb weiter, bis die Inhalte mit der Gruppe resonierten. Am Anfang jeder Probe war völlig offen, in welche Richtung der Abend gehen würde, und die Texte entstanden am Tisch mit den Schauspieler*innen und auf der Bühne im Probieren. Bert Neumann hat diese Ergebnisoffenheit in der Arbeit sehr treffend mit den Worten NO SERVICE beschrieben. Damit meinte er keine Bockigkeit dem Publikum oder der Regie gegenüber, sondern spielte vielmehr auf die Tatsache an, dass die Theaterabende durch das Aufeinandertreffen verschiedener künstlerischer Positionen entstanden – und nicht im Sinne einer Leistung erbracht wurden.

René hat sich den Bühnenbildern mit großem Interesse genähert, egal ob sie auf den ersten Blick Möglichkeiten eröffneten oder Themen zur Disposition stellten, mit denen er sich ohne diese Vorschläge nicht beschäftigt hätte. Wenn ein Raum nicht auf Anhieb zu ihm sprach, ist er ihm in einer Art Diskurs begegnet. Er hat verschiedene Argumente eingebracht und auf verschiedene Weise darauf reagiert: in Form von Musik oder Licht, er hat sich angeschaut, was der Raum technisch kann. Die Schauspieler*innen haben sich auf der Bühne „rumgetrieben“ und den Raum mit unterschiedlichen Texten angesprochen, bis er eben geantwortet hat.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, wie ein Raum die Spieler*innen und auch René in Bewegung bringt, welche Kostüme ihnen gute Laune machen würden, was sie brauchen, um toll auszusehen, beziehungsweise was ihr tolles Aussehen für dieses Stück besonders macht. Wenn ich zum Beispiel für ein Zirkusstück wie Tal der fliegenden Messer wahnsinnig viele Kostüme vorschlug, konnte ich mich darauf verlassen, dass René und die Spieler*innen sich das zumindest erst mal anschauten und ausprobierten, was das dauernde Umziehen mit den Texten und den Körpern im Bühnenbild und mit den Videobildern auf der Leinwand machte. Und es war auch kein Drama, wenn Ideen und Vorschläge mal nicht funktionierten.

Volker Spengler hat uns Kostümbildnerinnen manchmal als „Ladys von der Verpackungsbranche“ beschimpft. Perücken sind einige Male aus den Stücken geflogen. Wenn René seine Leute auf der Bühne nicht mehr als sie selbst erkennen konnte, hat er komplett die Orientierung verloren, dann rief er: „Oh Nein!!! Könnt Ihr das bitte abziehen …“

Kill Your Darlings.

René hat während der Proben unglaublich viele Texte geschrieben, sie mit den Spieler*innen ausprobiert, dann wieder verändert oder auch verworfen. Auch szenische Ideen, Einfälle für Clips wurden oft schnell wieder fallen gelassen. René konnte blitzschnell erkennen, wann ein Text oder eine Szene zur Verabredung geronn, wann die Autonomie der Spieler*innen verloren ging. Irgendeiner Vorstellung nachzujagen oder irgendeine Schwierigkeit zu meistern, daran hatte er kein Interesse. Die Stücke mussten irgendwie von allein entstehen, ohne Ehrgeiz, ohne Anstrengung. Durch die besondere Aufmerksamkeit füreinander.

Es war schon anstrengend, bestimmte Inhalte kollektiv zu denken, und sie konnten leicht wieder wegrutschen. An das gemeinsame Wissen musste man sich ziemlich aufwendig heranrobben. Es wurden in den Proben alle gehört, und alle kamen vor an einem Theaterabend, dafür hat René immer gesorgt. Dabei ging es im Team weniger um Gerechtigkeit, vielleicht eher um sowas wie Emergenz. Je nach Zusammensetzung der Truppe veränderten sich die Themen. Es kamen Spieler*innen in die Produktionen, die einen anderen Fokus auf sich forderten und auch bekommen haben. Das veränderte dann sowohl den Probenprozess als auch die Vorstellungen.

Dass René theoretische Texte auf die Bühne brachte, hat vielen Mitarbeiter*innen einen neuen Kosmos eröffnet. Und die Möglichkeit, Theorie – wie René sagte – alltagstauglich zu machen. Mit ihm konnte man sich Theorie praktisch zunutze machen, Gedanken aufgreifen, um den eigenen Ansatz zu schärfen, ohne dafür ein komplettes theoretisches Werk durchdringen zu müssen. Ähnlich verhielt es sich mit Filmen, die wir gemeinsam schauten und als Folie benutzten, indem wir Szenen oder Texte daraus übernahmen. Sie uns also, wie auch die Theorie, auf gemeinschaftliche Weise aneigneten.

René hat sowohl in den Stücken als auch in der Arbeitspraxis dauernd Veränderung produziert. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass er mit großer Offenheit und Neugier beobachtete. Irgendwie hat er es geschafft, dass wir ohne Druck arbeiten konnten – immer nur so weit, wie wir eben gerade kamen. Oft sind in den letzten Probentagen noch mal neue, sehr tolle Texte entstanden, die dann aber keiner mehr lernen konnte, die blieben dann eben übrig.

Wir haben alle unheimlich gerne mit René gearbeitet.

„Aber es gibt eben kein Happy End, das ganze Leben ist im Grunde ein Prozess des Niedergangs.“ [1]

Image credit: Courtesy of Nina von Mechow

Nina von Mechow studierte Bühnenbild und Kostüm an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ und der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Mit René Pollesch pflegte sie seit 2002 eine enge Kooperation pflegte. Für das Bühnenbild von Die Gewehre der Frau Katrin Angerer wurde sie 2022 mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet. Neben Produktionen am Wiener Akademietheater, bei den Ruhrfestspielen und am Warschauer Teatr Rozmaitości, den Münchener Kammerspielen und dem Deutschen Theater arbeitet Nina von Mechow kontinuierlich an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Seit 2022 ist sie Professorin für Bühnenbild an der Akademie der Bildenden Künste Wien.

Anmerkungen

[1]Aus Don Juan, René Pollesch nach Molière, Volksbühne, 2012.