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BERTHE MORISOT, SLOANE CROSLEY, DAVID LIESKE Seen & Read – von Isabelle Graw

Wie jeden zweiten Freitag teilt TZK-Herausgeberin Isabelle Graw heute drei Highlights dessen, was sie kürzlich gesehen und gelesen hat. Dazu gehören diesmal die Gemälde von Berthe Morisot, die gerade im Musée Marmottan Monet gezeigt und produktiv kontextualisiert wurden, und die humorvollen Seiten des Trauerns, die Sloane Crosley in ihrem neuen Buch anschlägt. Nicht zuletzt hebt Graw die aktuelle Ausstellung von David Lieske in Oslo hervor, wo in diverse DIN-Formate zerlegte Maschinengewehre auf ein Porträt des Modedesigners John Galliano und ein autofiktionales Soundpiece des Künstlers treffen.

„Berthe Morisot et l‘art du XVIIIe siècle“

Berthe Morisot, “Enfants à la vasque,” 1886

Berthe Morisot, “Enfants à la vasque,” 1886

Die These dieser fulminanten Ausstellung lautet, dass Berthe Morisot die malerische Rhetorik des 18. Jahrhunderts aktualisiert habe. Statt also Morisots Werk wie sonst mit der Bildsprache des Impressionismus in Verbindung zu bringen, wird überzeugend demonstriert, wie sie Antoine Watteaus Faible für weibliche Rückenansichten, Jean-Honoré Fragonards Interesse am Unfertigen oder François Bouchers Motiv der schlafenden jungen Frau in ihre Bildsprache überführte. Zu Recht erklären die Kurator*innen Morisot zu einer Meisterin der Produktion von Eleganz im Sinne des 18. Jahrhunderts. Bilder wie Rêveuse (1877) oder Jeune femme en gris étendue (1879) belegen darüber hinaus die Radikalität, mit der die Malerin ihre weiblichen Figuren in ein Meer aus heftigen grauen Pinselstrichen tauchte. Dafür, dass diese Figuren nicht wie versteinert wirken, sorgt die Vitalität ihrer malerischen Gesten. Am meisten hat mich Enfants à la vasque (1886) begeistert, das zwei in ihr Wasserspiel vertiefte kleine Mädchen zeigt. Auch diese Figuren wurden mit vergleichsweise wenigen Pinselstrichen skizziert; das Bild wirkt prozesshaft und übersetzt die rivalisierende Spannung zwischen den beiden Spielenden ins malerische Register. Ein Meisterwerk!

„Berthe Morisot et l‘art du XVIIIe siècle“, Musée Marmottan Monet, 18. Oktober 2023 bis 3. März 2024

Sloane Crosley, Grief is for People

Sloane Crosely

Sloane Crosely

Dies ist kein typisches Trauerbuch; denn statt dem Schmerz über den Tod ihres Freundes Russell, der sich das Leben nahm, Ausdruck zu verleihen, flüchtet sich die Autorin in Humor und Sarkasmus, was das Buch zu einem unterhaltsamen Pageturner macht. Zwei unterschiedliche Verluste – der ihres gestohlenen Familienschmucks und der ihres Freundes, der ihr Vorgesetzter im Verlagswesen war – werden miteinander enggeführt. Sloane Crosely demonstriert, dass liebgewonnene Objekte subjekthafte Züge annehmen können, sobald wir sie verlieren. Umgekehrt erscheint der tote Freund objekthaft dadurch, dass sie ihm ein Denkmal setzt. Statt den Gründen für Russels Selbstmord nachzugehen, lässt sie ihn wieder lebendig werden, indem sie seinen Charakter anschaulich beschreibt. Sie berichtet zudem, wie Russels übergriffige Witze und geschmacklose Andeutungen in einem veränderten kulturellen Klima in der Zeit vor seinem Tod allmählich zum Problem wurden. Zugleich richtet Crosley den Fokus auf ihr eigenes erratisches Verhalten als trauernde Person, was zuweilen comedyhaft wirkt. Dass der Prozess des Trauerns humorvoll sein kann, ist die zentrale Lektion dieses flott geschriebenen Buches.

Sloane Crosley, Grief is for People, MCD, 2024

„David Lieske: Armed Interpretation“

‟David Lieske: Armed Interpretation,” VI, VII, Oslo, 2024

‟David Lieske: Armed Interpretation,” VI, VII, Oslo, 2024

In dieser gelungenen Ausstellung wird nicht nur an den militärischen Ursprung der Standardisierung erinnert, sondern auch an den gewaltsamen Einfluss von gesellschaftlichen Normen auf die Subjektbildung. Im Zentrum des Galerieraumes hängt eine aus unterschiedlichen Bildfragmenten zusammengesetzte schwarz-weiße Reproduktion des deutschen Maschinengewehrs Typ 08/15, das im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam. Seine Typenbezeichnung 08/15 wird seither als Synonym für das Unoriginelle und Gewöhnliche verwendet. Der hilfreiche Pressetext von Nina Franz informiert zudem darüber, dass auf Basis der standardisierten Produktion dieses Gewehrs die industrielle DIN-Norm entwickelt wurde – und zwar für Objekte und Waren unterschiedlicher Art, von Papier bis hin zu Tischen. Demnach hat schon ein bloßes Blatt Papier im A4-Format einen militärischen Subtext. Passend dazu setzt Lieske sein Gewehr aus unterschiedlichen DIN-Größen zusammen und montiert es an eine freistehende Wand, die an der Rückseite von militärisch anmutenden Sandsäcken gestützt wird. Man wähnt sich im Schützengraben. Die Ausstellung demonstriert aber nicht nur, wie künstlerische Produktion in von Kriegen erschütterten Zeiten aussehen kann, ohne vordergründig „politisch“ zu sein. In einem Soundpiece, das von einem Vintage-Kassettenrekorder abgespielt wird, erzählt Lieske die Geschichte seiner Jugend in Hamburg als autofiktionales Drama zwischen normativer Zurichtung und Auflehnung. Das gegenüberhängende Porträt des geläutert wirkenden Modedesigners John Galliano fungiert hier wie ein Echo des Persönlichen. Denn so wie Galliano sein Gecancelt-Werden überstand, inszeniert Lieske mit dieser Ausstellung überzeugend sein Comeback als Künstler.

„David Lieske: Armed Interpretation“, VI, VII, Oslo, 26. Januar bis 30. März 2024

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Rob Kulisek; 2. public domain; 3. Courtesy of MCD, photo Jennifer Levingston; 4. courtesy of V, VII, Oslo, photo Christian Tunge