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Lob der Unbescheidenheit. „Kanon-Politik“ (1992) revisited

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Als mich die Einladung erreichte, zum Thema dieser Jubiläumsausgabe von Texte zur Kunst einen kurzen Beitrag (maximal 5000 Zeichen) zu leisten, konnte ich nicht umhin, an mich selbst oder besser: an mein früheres Selbst zu denken. Dieses hielt im Sommer 1992 auf einer Veranstaltung dieser Zeitschrift in der Kunsthochschule Kassel eine Rede – in der Hitze der Debatten rund um die viel geschmähte, aber äußerst populäre Jan-Hoet-Documenta IX und der Atmosphäre einer unaufhaltsamen Politisierung der „Pop­linken“ in der Folge des Nachwende-Rassismus in der Bundesrepublik. Ähnlich der vorliegenden Ausgabe sollte die Konferenz (gleich darauf veröffentlicht unter dem Titel „Autoren von Texte zur Kunst halten Reden u.a. auf der Documenta IX“) von der Kürze der Beiträge (maximal 15 Min.) leben. Gegenstand der besagten Rede war nun, was ich damals „Kanon-Politik“ nannte. Wie ich zu diesem hölzernen Thema kam? Vielleicht weil ich kurz zuvor beschlossen hatte, einer anderen Einladung zu folgen, nämlich der, in die Redaktion von Texte zur Kunst einzutreten. Mir schwante, dass ich damit zum Teil eines Unternehmens werden könnte, das sich der Kritik des Kanons ebenso verschreiben würde wie einem bei dieser Arbeit der Negation und Dekonstruktion unweigerlich sich formierenden Gegenkanon (der seinerseits das Potenzial hatte, schlicht kanonisch zu werden).

ABBA, 1970

Ich wählte zu diesem Zweck einen Umweg, indem ich versuchte, die unterschiedlichen Kanons, in die das Werk von ABBA seit den ersten Erfolgen der Gruppe in den 1970er Jahren eingegangen war (unter besonderer Berücksichtigung der Camp-Rezeption), mit dem Umstand zu vermitteln, dass ABBA selbst sich nicht in eine bestimmte Tradition, eine bestimmte Kanonlinie der Popmusikgeschichte eingereiht hatte, sondern ein erstaunlich inkompatibles Phänomen geblieben ist, wodurch sich im Umkehrschluss wieder sein kanonischer Charakter erklären ließe. Dabei ging es mir offenbar darum, die Unausweichlichkeit und Unhintergehbarkeit der Prozesse und Politiken des Kanonisierens zur Grundlage eines genealogischen Kritikmodells zu machen. Ich schrieb und sagte zum Abschluss, was mir noch heute einigermaßen einleuchtet, wenn auch nicht mehr in allen Einzelheiten verständlich ist: „Ich kenne keine Alternative zu der Alternative von Einrichtung oder Abrüstung des Kanons. Ich will aber, dass jedes Entwerfen und Verwerfen eines Kanons innerhalb des unausweichlichen Kanonsystems eine Funktion in einem übergeordneten Projekt erfüllt. Kanonizität hat das Potenzial, soziale Zusammenhänge (Kommunikation) zu gefährden und zu garantieren.“ Es scheint, als wäre es diesem früheren Selbst nicht zuletzt darum gegangen, die eigene, zwingende Verstricktheit in die Herstellung von Ein- und Ausschlüssen zur Prämisse kritischen Handelns zu machen. Die Institution, die Texte zur Kunst 1992 wohl noch nicht gewesen ist, aber in der Vorstellung der Beteiligten sein oder werden sollte, ruhte ganz maßgeblich auf dieser Überzeugung. Dabei gelang es nicht immer, das Wissen um die eigene Involviertheit und Interessiertheit, über Lippenbekenntnisse hinaus, produktiv zu machen. Dafür wurde der Verweis auf Selbstreflexivität, die wir, instruiert vor allem durch Bourdieu, aber auch (mit der Zeit) durch queer-feministische Theoretikerinnen wie Butler oder de Lauretis, zu einem kritischen Leitprinzip erhoben hatten, zur dominierenden Begründungsfigur ästhetischer und politischer Urteile. Diese wiederum liefen regelmäßig auf die Negation hegemonialer Formationen und etablierter Haltungen hinaus, nur um wiederum in einer ihrerseits bald gern beschimpften Kanonisierung ausgesuchter künstlerischer und theoretischer Produktionen zu münden. „Kanonisieren ist eine unbescheidene Tätigkeit“, meinte ich damals, und Bescheidenheit war 1992 definitiv keine Zier. Als arrivierte Zeitschrift im 25. Jahr, deren Macher/innen geübt darin sind, den Vorwurf der einseitigen und machtvollen normativen Setzungen zu parieren, die Frage nach dem Kanon aufzuwerfen, kann freilich durchaus kokett wirken. Doch adressiert die Kanonfrage im Jahr 2015 eben auch eine Situation, in der die atemberaubende Expansion der Gegenwartskunst mit der systematischen Entwertung begründeter normativer Urteile Hand in Hand geht. Gegen die herrschende Mischung aus finanziellen und charismatischen Akten der Spekulation und Willkür sollten sich die kanonbildenden Prozesse, die zumindest ansatzweise der Kraft des Arguments vertrauen, daher in Unbescheidenheit üben, ohne zu vergessen, dass die „Kraft des Arguments“ keine universelle Kategorie ist, sondern immer wieder aufs Neue der Überprüfung auszusetzen ist – der Überprüfung durch die Materialien, Einwände und Indizien im umfangreichen Archiv der Kritik des (westlichen, patriarchalen, kolonialen usw.) Kanons der Kunst.

Tom Holert

Titelbild: Jan Hoet mit den Kuratoren Denys Zacharopoulos, Pier Luigi Tazzi und Bart de Baere, Pressekonferenz, Documenta IX, Kassel, 1992. Foto: Dirk Pauwels

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