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Crystal Mesh Existenzbilder aktueller Mode

Backstage bei / at Craig Green, AW 2016, Foto: Jason Lloyd-Evans Backstage bei Craig Green, AW 2016, Foto: Jason Lloyd-Evans

In der aktuellen Absage an alles Helle, allzu Heile, wie man sie etwa in den zerfaserten Jeans von 69 oder Faustine Steinmetz oder der Club Wear von Nazir ­Mazhar findet, entdeckt die Literaturwissenschaftlerin und Modejournalistin Ingeborg Harms eine Wiederkehr von Designmomenten der 1980er: etwa die oft mit Junichiro Tanizakis „Lob des Schattens“ in Verbindung gebrachten Strategien klassischer japanischer Avantgarden wie Yohji Yamamoto und Comme des Garçons. Das erneute Interesse an Tanizakis Text werde heute zur Fortschrittsskepsis, die sich auch in der Suche nach – liebevoll? – reparierter oder restaurierter Kleidung zeigt.

Und auch Referenzen an die Funktionalität der 90er sind zahlreich, doch statten die Stücke heute keinen immunen Hardbody mehr aus, wie ihn die Mode dieses Jahrzehnts im Sinn hatte. Stattdessen inszenieren die Formen eine prekäre Bereitschaft, alles stehen und liegen zu lassen.

Die Mode ist heute so unübersichtlich wie die Musikszene in den 90er Jahren. Sie kopiert, morpht, graftet, sampelt, remixt und scratcht, was das Zeug hält. Doch trotz der Polyfonie der Stile, die nicht nur auf parallelen, sondern oft auch auf jedem einzelnen Laufsteg stattfindet, sind auffällige, für den Zeitgeist relevante Trends zu entdecken. Alles beherrschend sind in einem Klima des Misstrauens – gegenüber immer schnelleren Zyklen, dem immer hektischeren Austausch der Kreativchefs und letztlich gegenüber Qualität und Relevanz – der wachsende Moralismus und die Sehnsucht nach einfachen Verhältnissen. In der Mode übersetzt sich diese Disposition in eine Renaissance der japanischen Ästhetik, die in den 80ern mit Yohji Yamamoto und Comme des Garçons als Herausforderung des Maximalismus auftrat. Damals führte das japanische Understatement vor, dass asymmetrische, mit Unfertigkeiten versehene Kleider in einer Welt der maschinell reproduzierten Prototypen die wahre Couture sind. Jetzt ist Junichiro ­Tanizakis Manifest „Lob des Schattens“ abermals zur Bibel westlicher Konsumkritik avanciert.

Natürlich ist es absurd, die von Tanizaki beschworenen Werte auf das westliche 21. Jahrhundert zu beziehen. Sein 1933 erschienener Essay handelt von einem feudalen Japan der Handwerker, Geishas und Lehnsherren. Er ist das Hohelied auf eine schwindende Ethik der Sparsamkeit, Selbstkontrolle, Askese und Demut, der Geduld, Hochachtung vor den Älteren, Ehrfurcht gegenüber der Natur und des selbstverständlichen Sinns für den eigenen Platz im Gefüge der Dinge. Die damit einhergehende Ästhetik stellt den Menschen und sein Können nicht ins Zentrum. Sie spart mit dem Glanz, ob es Lackgefäße oder geschwärzte Geishazähne sind, mutet ihren Anhängern alle erdenklichen Unbequemlichkeiten zu und legt im Gegensatz zur westlichen Aufklärung keinen Wert darauf, die Dunkelheit zu verdrängen.

Schon Tanizaki kontrastierte sein Lob des alten Japan mit der klinisch hellen, restlos ausgeleuchteten Produktwelt der amerikanischen Moderne. Dort hatten technischer Fortschritt und Industrialismus eine uns bis heute definierende Gegenwirklichkeit geschaffen, die den Menschen weitgehend von mühsamer Handarbeit befreit, ja, jede Spur seiner Hand als unsauber und infektiös verdächtig macht. Er durfte das Produkt zwar erwerben und mit seiner Sterblichkeit kontaminieren, doch um den Preis der makellosen Reinheit, die im Moment des Einkaufs verfliegt und die Ware auf einen Bruchteil ihres Werts reduziert. Während die Dinge in der Ästhetik des Schattens durch den Gebrauch an Wert und Würde gewinnen, verliert das westliche Konsumgut seinen Fetischcharakter durch den bloßen Kontakt mit der Welt der Zwecke.

Comme des Garçons, 1982, Foto: Peter Lindbergh

In dem Maße, wie der Rohstoffverbrauch, der nicht nur für die unerschöpfliche Produktparade, sondern auch für ihre Herstellung, Verpackung und Dissemination nötig ist, dämonisch wird, steigt das Ansehen traditioneller Ökonomien, ihrer Verfahren und Gallionsfiguren. Recyceltes Patchwork-Denim von Vetements und 69 steht so hoch im Kurs wie Faustine Steinmetz’ auf alten Webstühlen mit den Fehlern der Handarbeit gewirkte Kreationen und andere, eher symbolische Bekenntnisse zu Nachhaltigkeit und Patina-Wertschätzung: kunstvoll applizierte Motten­­­- l­öcher, Risse, Ripp-outs und Verschnittenes von Kapital, dem japanischen Vater-Sohn-Unternehmen, das bemängelte Retouren zum Kern seiner Geschäftsidee machte und grotesk verunstaltende Kleider liebevoll produziert und als Relic-Look verkauft.

Und doch haben die neuen Puritaner wenig mit der Mayflower-Besatzung zu tun. Während die amerikanischen Gründerväter darauf achteten, dass ihre Kleider gut gepflegt, dezent gestopft, perfekt gebügelt und gestärkt waren, vermeidet die neue Askese gerade diese Wohlanständigkeit. Ihre Charakteristiken sind demonstrative Zerrissenheit, existenzielles Drama, ein Air von Selbstkasteiung und Martyrium. Die Versehrtheit der Kleidung steht für die Verletzlichkeit des Körpers. Er ist kein immuner Hardbody im Sinne der 90er Jahre mehr, sondern, ganz wie der Körper im Klassizismus, ein Abbild der Seele.

Nur fehlt ihr neben dem von Schiller beschworenen Gleichgewicht der spielerischen Existenz auch der Gleichmut des Puritaners und seine unerschütterliche Glaubenssicherheit. Statt kollektiver Ethik erleben wir das Schauspiel einer sich endlos ausdifferenzierenden Moral. Man wird heute kaum zwei Personen finden, die sich auf das, was man sagen, essen, kaufen, unterstützen darf, einigen können. Diesen Dissens reflektiert auch die Mode. Sie träumt sich in die schlichten Strukturen, Werte und hehren Ehrbegriffe eines Tanizaki’schen Feudalismus hinein, doch ihr Held bleibt ein romantischer Einzelkämpfer in Fantasieuniform. Seine mentale Konstitution ist von den Ideen der in den Dschihad ziehenden Jugend westlicher Metropolen nicht allzu weit entfernt. Während der den Märtyrertod antizipierende Extremist auf das vollautomatische Paradies hofft, disziplinieren sich die im Paradies lebenden Silicon-Valley-Ingenieure aus Dave Eggers’ „Circle“-Roman gerade so, als wollten sie in den Heiligen Krieg ziehen.

Backstage bei / at Vetements, SS 2016, Foto: Pierre-Ange Carlotti

Bei näherem Hinsehen bleibt von der politischen Korrektheit der Mode, die sich 2002 spektakulär an John Gallianos Clochard-Kollektion für Dior entzündete, also doch nicht viel übrig. Sie ist magisch angezogen von den politischen Ereignissen und ihren Protagonisten, dem Flüchtling, dessen Existenz sich auf das bloße Überleben konzentriert, und dem Dschihadisten, der aus dem westlichen Lebensstil aussteigt und ihn unter Einsatz seines Lebens in die Knie zu zwingen versucht. Mit opulentem Layering und dem Used-Look spielt die Mode auch auf das heimatlose Dasein an, während ihre martialischen Stilelemente eher auf eine Engführung von fundamentalistischer Attitüde und persönlicher Empfindlichkeit zielen. In dieser Hinsicht symptomatisch ist die aktuelle Raf-Simons-Kampagne. Sie verbindet die Wärmewerte eines Norweger-Pullunders provokativ mit einer Kopfvermummung, die nicht nur an Terroristen, sondern auch an Geiseln denken lässt.

In der Frauenmode ist es womöglich ebenfalls der Einfluss der islamischen Kleiderkultur, der sich in den Maxilängen und der oft geradezu grotesken Schulterbedecktheit niederschlägt. Doch diese neue Liebe zur Verhüllung hat mehr als eine Quelle. Signalisiert sie doch, dass in der Atmo­s­phäre der Überwachung, der Notstandsgesetze und der intensiven Polizeipräsenz im öffentlichen Raum Transparenz auch im vestimentären Sinne unheimlich wird. An ihre Stelle tritt neben der blickabwehrenden Anonymität des Used-Looks und dem Verbergen spezifischer Körperformen auch einschüchterndes Rollenspiel. Man wird zum eigenen Avatar im wirklichen Leben, überträgt das Game of Thrones auf die Straße, wappnet sich mit Brustpanzern und Exoskeletten, Samurairüstungen, heraldischen Applikationen und 3-D-Ornamenten.

Comme des Garçons Hommes Plus, AW 1985

Diese Aufwertung des Bluffs, der List, der Simulation und Dissimulation findet in der Männer- wie der Frauenmode statt. Die einzelkämpferische Kriegerfigur ist neben den sexuellen Camouflage-Looks der nach Belieben gemischten Geschlechtercodes zum neuen Genderparadigma geworden. Bei ihrer Gestaltung scheint man nach westlichen Heldenfiguren zu suchen, die vom Dschihadismus ebenso weit wie vom kapitalistischen Zynismus entfernt sind. Die Schutzkleidung des modernen Risikomanagements, der Katastrophenhelfer, Sanitäter und Toxic-Waste-Deporteure konkurriert als Inspiration mit historischen Referenzen. Umit Benan beschwört Fidel Castros Rebellen herauf, Gosha Rubchinskiy kehrt zu den Kunstfasern und dem Colorblocking des Sowjetsports zurück, Hood By Air zitiert die Gladiatoren-Archetypen aus Graphic Novels, während Craig Green und Nasir Mazhar hochsexualisierte Kampfsportarien liefern. Selbst vor dem Workwear des Maschinenzeitalters schreckt der heroistische Trend nicht zurück. Denn die Dekon­s­truktion des digitalen Frühlings führt direkt in die Arbeiterromantik. Neben Louis Vuittons Mechanikerkluften werden Feuerwehruniformen und Bauarbeiter-Looks rauf und runter zitiert. Im Geiste der westlichen Fitnessreligion ergänzen sie Junichiro Tanizakis Lob des Handwerks durch das der Oberarmmuskeln.

Von einem Ende der Konsumkultur kann also kaum die Rede sein, von Fortschrittsskepsis hingegen schon. Denn es braucht gar keinen japanischen Lehrmeister, um zu erkennen, dass ein 40 Jahre alter Mercedes /8, ein 20 Jahre alter Prada-Mantel und für manche gar ein Nokia-Handy verlässlicher, praktischer, hochwertiger, diskreter und emotional befriedigender sind als ihre zeitgenössischen Äquivalente. Wenn Tanizaki den ästhetischen Effekt eines Lackgefäßes im Halbdunkel eines japanischen Interieurs beschreibt, macht er nicht nur für den Wert des Handgemachten und aus Naturstoffen Geformten sensibel, er geißelt auch den kulturellen Kolonialismus, der Usancen, Lebensstile und Objekte von einem Land ins andere verpflanzt und jedes generische Produkt bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Doch wenn von einer Rückkehr zum Regionalismus die Rede sein kann, und der Impuls ist sicher vorhanden, dann handelt es sich meist um mediale Tribes und virtuelle Allianzen. Selbst wenn junge Modemarken und lokale Ateliers Loyalitäten binden, ist das noch lange keine Rückkehr zum ästhetischen Regionalismus im Sinne Tanizakis.

Backstage bei / at Nasir Mazhar, AW 2016, Foto: Jason Lloyd Evans

Doch das hat auch sein Gutes, denn so wie die traditionellen Ästhetiken in den Landschaften, Witterungen, Mentalitäten und Ritualen bestimmter Orte wurzeln, wurzelt das ästhetisch Neue im globalen Dorf in der Luft. Befindlichkeiten reisen subkutan um den Globus und reichern sich mit kreativem Input an, bis eine neue Popkultur Gestalt annimmt. Unter der Maske romantischer Rückwärtsgewandtheit scheint die Mode derzeit ihre kraftraubende und eskapistische Vintage-Fixierung zu überwinden. Sie ist nicht länger orientierungslos und von vergangenen Modeperioden besessen, sondern tastet nach ihren eigenen Mythen, nach einem Ausdruck für neue Komplexi­täten. Sie kultiviert Spielraum für ethische Propositionen, Fragen der Würde und des individuellen Lebensentwurfs. Als Trendmaschine verliert sie an Einfluss und gewinnt, gerade weil sie die Gebrochenheit der Ich-Konstruktionen teilt, an politischer Bedeutung. Während ihr System der Stardesigner und der Brand-Diktatur in sich zusammenbricht, skizziert ihre Metamorphose Auswege aus der kapitalistischen Verknöcherung. Verantwortung ist der neue Schlüsselbegriff für nachhaltigen Luxus (wie auch die demonstrativen Formen von Verantwortung Luxus sind), doch er betrifft nicht nur die Herstellung, sondern auch die Konsumenten, die nach Kleidern für ihren Reifeprozess Ausschau halten. Wenn die Mode überleben will, muss sie diesem Begehren entsprechen. Denn ihr Geheimnis war schon immer die augenblickliche Wiedergeburt.

Ingeborg Harms