Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

83

Seth Price

Verkehrtes Sehen, merkwürdiges Denken, sonderbares Handeln

http://organic.software, 2015-

Um mir über ein paar Dinge klar zu werden, nahm ich mir eine einjährige Auszeit von der Kunstwelt. Ich schloss das Atelier, stellte keine verkäuflichen Werke her, lehnte Ausstellungen ab. Trotzdem hörte ich nicht auf zu arbeiten. Es ging nicht darum, mich vom künstlerischen Produzieren zurückzuziehen oder würdigere Aktivitäten zu verfolgen; es war eher der Versuch, meine kreative Arbeit von einem verwirrenden Kontext abzuschirmen, um zu entscheiden, wie es weitergeht. Ich machte etwas Musik, versuchte mich an einem Jugendroman, kam mit dem bescheuerten Ziel voran, sämtliche meiner Onlineprofile, Interviews und Fotos aus dem Netz entfernen zu lassen. Letzteres erscheint mir heute ein bisschen albern, mit seinem Anflug von 90er-Jahre-Wunsch nach Integrität. Erklären kann ich mir das nur mit einem Unwohlsein gegenüber der Art und Weise, wie Künstler/innen darauf programmiert sind, nach Sichtbarkeit zu trachten, nicht nur für ihre Kunst, sondern auch für sich als Person. Das Mandat der Gegenwart heißt: jeden kennen und jedem bekannt sein, um so zu einer maximal reproduzierbaren Komponente zu werden. And the wind cries: „Crush it.“

Unterdessen kalbt das Eis: das Land, die Nachkriegsordnung, die Sozialdemokratie. Dank jahrelangem neoliberalem Pessimismus und Clinton’schem Zynismus sehen wir Politik vornehmlich als einen Wettkampf um Krumen, obwohl es so viele von uns gibt, und die Dinge, die wir brauchen – Unterbringung, Medizin, existenzsichernde Löhne, Schutz vor staatlicher Gewalt, Fortschritt in Richtung Abschaffung des Gefängnisstaates und des rassistischen Kastensys-tems –, sowohl gerechtfertigt als auch realisierbar sind. Die gute Nachricht: Bernie Sanders, Occupy und Black Lives Matter haben uns gezeigt, wie man einen bankrotten Liberalismus ablehnt, mit der Folge, dass unter 30-Jährige nun mit gleicher Wahrscheinlichkeit Sozialisten wie Liberale sind. Das hat viel mit ihren Optionen in der gegenwärtigen Wirtschaft zu tun und auch die Sozialen Medien helfen dabei, weil sie das Spektakel durchlöchern, das die Politik der Clinton-Ära, von der Presse traditionell unterstützt, ausmachte. Allerdings verschärfen die Sozialen Medien auch den Eindruck der Sinnlosigkeit. Wenn Linke politisch aktiver sein wollen, erscheinen ihnen die Formen, die sich dafür bieten, nicht hinreichend und sie verbringen ihre Zeit exzessiv online – wohl wissend, wie schädlich und unproduktiv das ist. Eine völlig kontraproduktive Wut ist der Treibstoff von Twitter – vom Präsidenten an abwärts. Natürlich kann Wut auch produktiv sein. Bei einem Vortrag von Gayatri Chakravorty Spivak vor einer mehrheitlich weißen Oberschichten-Zuhörerschaft protestierte jemand unter ihnen: „Aber jetzt habe ich das Gefühl, nichts sagen zu können!“ Spivaks Antwort: „Werden Sie wütend auf das System, das dieses Gefühl erzeugt.“ Leider werden die Sozialen Medien aber vor allem dazu genutzt, anstelle von systemischen Problemen individuelle Vergehen zu adressieren. Wie Nico Baumbach sagt: „Den Leuten ist es zunehmend wichtiger, die Jouissance des Anderen zu vernichten, als das Leben aller zu verbessern.“

Man kann sich mit seinem Körper an Orte des Protests und der Solidarität begeben, sein Geld Organisationen überlassen, was aber kann ein Kunstwerk tun? Im Sinne Spivaks bemühte ich mich, meine Frustration auf etwas Produktives umzulenken. Am Ende meiner Auszeit schrieb ich einen Kurzroman – „Fuck Seth Price“ –, der den literarischen Trend der Autofiktion adaptierte. Während der darauffolgenden Monate vor der Veröffentlichung entwickelte ich eine Webseite, die ich dem Roman begleitend zur Seite stellen wollte. Im Juni 2015 wurden beide Werke veröffentlicht.

http://organic.software/ ist eine Online-Datenbank mit Profilen von über 4000 Kunstsammlern/-sammlerinnen: Porträts, Street Views, Spenden an die Politik, geschäftliche Verbindungen, Platz für User-Kommentare. Ich veröffentlichte sie unautorisiert, mit fiktiver FAQ-Sparte, die Algorithmen, Data Mining, maschinelles Lernen anführte. Mich interessierte die Anonymität heute und wie sie Ängste und Lügengeschichten über Transparenz und Wahrheit kanalisiert, über gesichtslose Akteure, namenlose Quellen, 400-Pfund-Hacker. Die alle angestellt waren, um meine Datenbank zu erstellen.

Der Roman und die Webseite waren ein Versuch, das System der Kunst jenseits seiner ökonomischen und distributiven Strukturen zu thematisieren, dabei aber dessen Mandat, jeden zu kennen und jedem bekannt zu sein, dennoch einzubeziehen. Ich verstehe diese Werke als Porträts: Porträts davon, wo meine Gedanken waren; von einem bestimmten Augenblick in einem System (organic.software/faces ist ein Klassenfoto der Sammler/innen des Jahres 2015); davon, wie ich und dieses System in einem größeren Bezugsrahmen von Reichtum und Macht situiert sind. Man könnte das einen Weg nennen, Kritik am Flow zu äußern und ihn zugleich zu verkörpern. Oder nennt es Heuchelei, denn es ist so viel einfacher, einen wohlüberlegten Abstand vom Markt einzunehmen, wenn dieser einen unterstützt.

In jedem Fall ist es wohl so, dass, wenn du das Kunstwerk nicht signierst und keine PR betreibst, es niemanden einen Dreck interessiert. Die Seite wurde genutzt, aber nicht auf breiter Front. Dann wurde Trump gewählt, und ich stellte den Wert der gefakten Story infrage, sodass ich mich entschied, meinen Namen auf die About-Seite zu setzen. Es fühlte sich an wie ein Zugeständnis, denn die Arbeit hatte in ihrer vorherigen Undurchsichtigkeit eine seltsame Kraft. Für eineinhalb Jahre lag sie still da draußen herum und hat ihr Ding gemacht, ohne Kunst zu sein. Für einen Künstler ist das eine eindrückliche Erfahrung. Als ich mir einmal Gedanken über die Produktion „politischer Kunst“ machte, versicherte mir Leslie Thornton, dass selbst die abstrakteste Kunst politisch sein könne – einfach, indem sie einen Raum offen hält. Aus dieser Perspektive braucht Subversion weder Ziel noch Referenten, und es stimmt, dass Kunst sehr effektiv sein kann, wenn ihre Bedeutung dem Anschein nach abwesend ist. Andererseits ist die Seite ein Tool, und Tools sollten zugänglich sein. Warum einen Raum offen halten, wenn nicht für andere? Die ursprüngliche About-Sparte der Webseite behauptete, es handele sich um das Werk von „Tool-Entwicklern“, was wahr ist – oder auch falsch, in dem Sinne, wie auch Autofiktion falsch ist –, denn ich sehe meine primäre Rolle als Künstler inzwischen darin, Tools herzustellen, um sie mit anderen Künstlern und Künstlerinnen zu teilen. Kunst hat nicht nur den Wert, die Demonstration von Techniken und Persönlichkeiten zu sein, sondern auch von Haltungen und Seinsweisen. Du tust, was du tun musst, und dann geht es über in die Hände anderer. Kunst ist das produktive Resultat aus verkehrtem Sehen, merkwürdigem Denken, sonderbarem Handeln.

Übersetzung: Sonja Holtz