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ECHTE UND FALSCHE OPFER SARAH SCHULMAN im Gespräch mit Caroline Busta und Anke Dyes (Texte zur Kunst)

Ryan Trecartin, „Mark Trade“, 2016, Videostill aus 1-Kanal-HD-Video

Politische Diskussionen finden heute zunehmend in geschlossenen Kanälen statt, in denen Menschen mit gemeinsamen Überzeugungen unter sich bleiben. Konflikte scheinen schwer zu ertragen zu sein. Um diese Kommunikationsformen für eine produktive Debatte zu öffnen, ist es wichtig zu verstehen, woher diese Unfähigkeit zu streiten kommt.

In ihrem jüngsten Buch, „Conflict Is Not Abuse: Overstating Harm, Community Responsibility, and the Duty of Repair“, schreibt die Journalistin und Aids-Aktivistin Sarah Schulman, ein Schlüsselfaktor sei der Aufstieg eines Opfer-Täter-Modells zur dominanten Form staatlicher Kontrolle in den USA während der Reagan-Jahre. Texte zur Kunst hat Schulman zu systemischen Ursachen von Intoleranz befragt, und warum in diesem Modell Konflikte für manche Misshandlungen gleichkommen.

Texte zur Kunst: Dein neues Buch bietet eine faszinierende Analyse der Art und Weise, wie sich heute „Konflikt“ verstehen lässt, sowohl der Konflikt zwischen Personen als auch der Konflikt im weiteren politischen Sinne. Schon mit dem Titel „Conflict is not Abuse. Overstating Harm, Community Responsibility, and the Duty of Repair“ verweist du auf eine heute zunehmende Kultur von Misshandlungsvorwürfen. Im Gegensatz zum Konflikt – der oft die angemessenere (und produktivere) Reaktion bei Meinungsverschiedenheiten wäre und offene Debatten zulässt, selbst wenn das bedeutet, auch eigene mögliche Fehler in Betracht zu ziehen – seien solche Anschuldigungen nicht verhandelbar. Inwiefern sieht man diese Tendenz, einen Opferstatus für sich in Anspruch zu nehmen und anderen Schuld zuzuweisen, in der heutigen Politik? Und was sind die zugrunde liegenden Faktoren, die dazu führen, dass „Konflikt“ heute so oft mit „Misshandlung“ verwechselt wird?

Sarah Schulman: Beginnen wir mit dem naheliegenden Beispiel Donald Trump. Jeden Tag erzählt uns Trump, wie übel man ihm mitspielt, dass er ein Opfer unfairer Attacken sei. Dabei verhält es sich doch in den meisten Fällen anders: Es sind keine Attacken, wenn die Presse seine Lügen aufdeckt oder wenn Communities darauf reagieren, wie er Immigranten oder Transmenschen etc. zu Sündenböcken macht, sondern es sind Situatio-nen, in denen jemand einfach die Wahrheit über ihn ausspricht. Er reklamiert für sich die Rolle eines Opfers dort, wo er der Täter ist. Das ist eine typische Vorherrschaftskonstruktion, man kennt sie aus persönlichen Beziehungen, aber auch aus Auseinandersetzungen verschiedener Gruppierungen. Zugleich gibt es Menschen, die tatsächlich misshandelt werden. Zum Beispiel die Amerikaner aus der weißen Arbeiterklasse, die Trump gewählt haben und die keine gesellschaftlichen Perspektiven nach oben haben. An manchen Orten haben die Menschen seit Generationen in Bergwerken oder Fabriken gearbeitet, und nun wurden diese Arbeitsplätze wegglobalisiert, und die Menschen stellen fest, dass sie im größeren ökonomischen Zusammenhang keinen Platz mehr haben. Sie machen aber nicht die wirklichen Urheber ihrer Benachteiligung dafür verantwortlich, nämlich das weiße eine Prozent, sondern sie identifizieren sich durch einen gemeinsamen Rassismus mit dieser Macht. Wir haben es also mit einer Gruppe von Misshandelten zu tun, die dazu manipuliert werden, ihre Ängste auf andere, in diesem Fall auf Immigranten und Flüchtlinge, zu projizieren, die nicht die Ursache für ihr Leid sind. Das ist eine weitere grundlegende Konstruktion, um die es in meinem Buch geht: Traumatisierte Menschen, die mit Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit erst zurechtkommen müssen, klagen die Falschen an.

Für mich liegt die Wurzel dieser Probleme in der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen; darin sehe ich aber auch Ansätze zu einer Lösung. Global ist ein sehr destruktives Konzept von Loyalität verbreitet, das auf einem nationalistischen Modell beruht. Liebe, Loyalität und Zugehörigkeit werden demnach demonstriert, indem wir die Menschen verletzen, die auch von denen verletzt werden, mit denen wir identifiziert werden wollen. Die Logik entspricht der eines verlassenen Menschen, der sagt: Ich bin nicht mehr mit meinem Freund zusammen, also sei bitte auch du gemein zu ihm. Man kann also Loyalität zeigen, indem man auch gemein zu diesem Exfreund ist. Das lässt sich auf Konstruktionen von „guter Staatsbürgerlichkeit“ oder auch Freundschaft ausdehnen, und diese Konstruktionen lassen sich rassistisch oder natio-nalistisch bestimmen. Die eigentliche Frage ist: Wie können wir den Menschen, mit denen wir identifiziert werden, helfen, selbstkritisch zu sein?

Ryan Trecartin, „Comma Boat“, 2013, Videostills aus 3-Kanal-HD-Video

Texte zur Kunst: Dieses Modell des Ausschließens als Strafe und des Kurzschließens von Debatten ist gerade auch im Kontext von Texte zur Kunst sehr relevant. Im Kunstfeld vermischen sich persönliche und öffentliche oder berufliche Beziehungen oft sehr stark. Negative soziale Beziehungen können schlimme Folgen für Künstler/innen oder andere Beschäftigte in diesem Feld haben; Netzwerke werden leicht in Mitleidenschaft gezogen. Wer es wagt, sich selbst oder eine befreundete Person offen zu kritisieren, riskiert eine Menge. Das produziert Übereinstimmungen und falschen Konsens, selbst wenn Positionen vordergründig verschieden sind.

Das Internet hat es zwar leichter und schneller gemacht, mit Personen außerhalb des eigenen unmittelbaren Kontexts zu sprechen, aber es kanalisiert die Kommunikation auch sehr stark entlang von Linien gemeinsamer Glaubenssätze. Was wäre deine Haltung zur effektiven Kommunikation mit jemandem, dessen Weltanschauung du überhaupt nicht teilen kannst? Anders gefragt: Gibt es legitime Gründe, in solchen Fällen nicht mit Konfliktparteien zu kommunizieren? Zum Beispiel in Fällen, in denen man erst erklären müsste, dass „Rassismus keine Meinung ist“?

Schulman: Das hängt von den Umständen ab und davon, was das Ziel ist. Ich bin keine Pazifistin, so verstehe ich mich nicht, aber man muss auch nicht dauernd mit allen die Auseinandersetzung suchen und den Leuten ihren Standpunkt ausreden wollen. Auch wenn man einem politischen Gegner mit einer Vorherrschaftsideologie entgegentritt, muss man nicht zuerst einen Mehrheitskonsens schaffen, um einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Ich bin Aids-Historikerin, und wenn man den Aids-Aktivismus in Amerika betrachtet, sieht man, dass es eine sehr kleine Gruppe von Leuten war, die die Haltung des Staates gegenüber den an Aids erkrankten Menschen veränderte. Aus großen politischen Debatten hält sich die Mehrheit der Menschen meistens heraus.

Texte zur Kunst: In der Aids-Krise versuchten Aktivisten und Aktivistinnen gezielt, die öffentliche Meinung zu verändern, was schließlich wirklich gelang. Im Zusammenhang mit den Wahlen 2016 sahen wir in vergleichbarer Form, wie kleine Gruppen die Aufmerksamkeit der Masse lenkten – von der Graswurzelbewegung zur Unterstützung von Bernie Sanders über den Aufstieg der sogenannten alternativen Rechten bis schließlich zum Wahlsieg von Trump. Wenn du die Gegenwart mit den 1980er Jahren vergleichst: Siehst du einen Unterschied zwischen den Wahlsiegen von Reagan und Trump? Vor allem vor dem Hintergrund, dass beide anfangs von der Republikanischen Partei nicht unterstützt wurden.

Ryan Trecartin, „Comma Boat“, 2013, Videostill aus 3-Kanal-HD-Video

Schulman: Ich beschäftige mich seit den 1980ern mit der Rechten, seit 1979 arbeite ich als Journalistin. In der Wahlkampagne von Ronald Reagan hat die Republikanische Partei die bewusste Entscheidung getroffen, eine Koalition mit evangelikalen Christen zu bilden. Davor hatten die Evangelikalen in den USA nicht gewählt und waren politisch nicht organisiert. Aber Reagan und die Kapitalisten hinter ihm setzten auf einen Pakt mit dem Teufel. Sie setzten auf Antiabtreibungs- und antimuslimische Politik, also auf Themen, die den Kapitalisten selbst egal waren.

Texte zur Kunst: Es ist also eine strukturell ähnliche Logik erkennbar. Ein Mann wie Donald Trump führt das Leben der Reichen und Schönen, ist das dritte Mal verheiratet und scheint plötzlich Wählern aus der Seele zu sprechen, die für anständige Arbeit und christliche Werte stehen. Wie hat Trump diesen Dreh hinbekommen? Die Medien funktionieren doch heute ganz anders als zu Zeiten von Reagan, oder nicht?

Schulman: Nun, offenbar ist bei dieser Wahl eine Menge „schiefgegangen“. Aber das Versagen der Medien hat selbst eine große Rolle gespielt. Sie haben nicht wirklich berichtet, sondern ständig nach Zuschauerzahlen geschielt. Selbst MSNBC oder Rachel Maddow, das vermeintlich fortschrittliche Fernsehen, haben sich zu Komplizen gemacht: Sie haben dauernd über Trump berichtet, weil er unterhaltsam war und weil er die Einschaltquoten in die Höhe getrieben hat. Maddow hat sich seither wieder gefasst und konzentriert sich jetzt ganz auf die Russlandverbindungen, aber die Medien geben Trump nach wie vor unverhältnismäßig viel Platz.

Und dann ist da noch der in Amerika allgegenwärtige Sexismus. Ja, Hillary Clinton ist eine Kriegstreiberin und sie kommt aus einer Dynastie (das mögen die Leute nicht), aber sie war für das Amt der Präsidentin qualifiziert wie wahrscheinlich niemand vor ihr. Sie hätte die Entwicklung des Landes signifikant verbessert. Aber sie war eben keine gute Kandidatin. Sie kam einfach nicht an. Sie war steif und abgehoben und spielte keine feminine Rolle.

Texte zur Kunst: Das heißt, sie war nicht „sympathisch“, weil eine Frau nicht konfrontativ sein soll? Weil, wenn es einen Konflikt gibt, das als Frau dein persönliches Problem ist, das du dir immer selbst zuzuschreiben hast?

Schulman: So in etwa, ich würde es allerdings anders einordnen. Meine Analyse (darum geht es auch in meinem Buch) deutet darauf hin, dass Leute die Macht des Staates stärken, wenn sie sich in Konflikten unbeteiligt geben.

Texte zur Kunst: Genau. Wenn Leute mit einer Situation nicht umgehen können und die Autoritäten um Hilfe rufen, dann ist das der Moment, in dem die Polizei an Macht gewinnt.

Ryan Trecartin, „Mark Trade“, 2016, Videostill aus 1-Kanal-HD-Video

Schulman: Ich wurde 1958 in New York City geboren. Damals galt die Aussage einer Frau, die vergewaltigt worden war, vor Gericht nicht als hinreichend. Sie musste Zeugen haben. Wenn man das strukturell begreift, dann war der Staat damals den Frauen gegenüber ein Feind. Die feministische Bewegung gegen männliche Gewalt entstand aus dieser Atmosphäre heraus, wie auch andere radikale Bewegungen, die dramatisch veränderten, wie Menschen miteinander umgehen – Antikolonialismus, die Schwulenbewegung, Black Power etc. In diesem Kontext wurde männliche Gewalt als Ausdruck einer patriarchalen Ordnung, aber auch von Armut und Rassismus begriffen. Und die Organisationsarbeit, die diese Bewegungen leisteten – z. B. Beratungsstellen für Vergewaltigungsopfer, Frauenhäuser, illegale Abtreibungsnetzwerke –, konzentrierten sich auf Lösungen, die auf Graswurzelstrukturen basierten, nicht auf staatlichen Strukturen. Heute würden wir diese Organisationsformen als restorative justice, als „wiederherstellende Gerechtigkeit“ bezeichnen. Damals kannte man dieses Konzept noch nicht. Der Schwerpunkt lag interessanterweise auf der Ermächtigung von Frauen, nicht auf der Bestrafung von Männern.

Infolge der Wahl von Reagan 1980 wurden diese Hilfsdienste dem Staat unterstellt. Der Staat gab das Geld dafür, und das Personal wurde nach den Kriterien des Staates ausgewählt. Das produzierte eine massive Sinnkrise, denn der amerikanische Staat ist einer der größten Urheber von Gewalt in der Welt. Er beruht auf männlicher Vorherrschaft, auf Armut und auf Rassismus. Es überrascht also nicht, dass die Themen Patriarchat, Armut und Rassismus in den 1980er Jahren aus der öffentlichen Diskussion verschwanden. Der Schwerpunkt verschob sich: Vorher hatte man sich gefragt, was die Ursachen für bestimmte soziale Probleme sind, und nun suchte man Täter, denen man die Schuld geben konnte. Denn einen individuellen Täter kann der Staat mit seinem Apparat bestrafen, was im Gegenzug wiederum die Macht des Staates vergrößert.

Ryan Trecartin, „Comma Boat“, 2013, Videostill aus 3-Kanal-HD-Video

Texte zur Kunst: Das ist eine sehr hilfreiche Analyse: Der Staat übernahm in den 1980er Jahren soziale Dienste, sodass die strukturellen Ursachen von Gewalt – patriarchale Ordnung, Armut, Rassismus – hinter einem staatlich kontrollierten Mechanismus von Bestrafung und Inhaftierung von Individuen aus dem Blick gerieten, einem Mechanismus, der vorrangig Auswirkungen auf arme und nichtweiße Männer hat.

Schulman: Richtig. Und dann sieht man, wie soziale Propaganda dieses Narrativ zu verstärken beginnt. Fernsehsendungen wie „Law and Order: Special Victims“ wiederholen Woche für Woche, dass es einen bösen Täter und ein unschuldiges Opfer gibt und die Polizei die Lösung ist. Dieses Konzept eines Staates, der als der angemessene Schlichter in zwischenmenschlichen Angelegenheiten gilt, entsteht in dieser Zeit. Das ist ein großer Unterschied zu einer Gruppe von Frauen, die sich zusammentut und einen Beratungsdienst für Vergewaltigungsopfer installiert. Das sind ganz gegensätzliche Strategien.

Heute konzentriert sich alles darauf, einen Täter zu finden. Er muss benannt werden, damit man ihn bestrafen kann. Mikrokritik in den eigenen Reihen zielt darauf ab, ebenso die callout culture , die in sozialen Netzwerken öffentlich anprangert. Und auch bei den rules of consent (also dass man zu Sex ausdrücklich zuerst ja sagen muss und nicht betrunken sein darf) geht es um die Täterfrage. Ginge es uns stattdessen eher darum zu verstehen, was passiert ist, dann wäre das eine ganz andere Orientierung: eine an Problemlösungen, die auch Selbstkritik einen Stellenwert einräumt und in der soziale Gruppen selbstkritisch sein können. Ich habe es noch nie erlebt, dass Dinge durch Bestrafung besser wurden. Für mich ist es klar, dass Strafen nicht funktionieren.

Texte zur Kunst: Wie passt das mit der Unterdrückung oder Vermeidung von Konflikten zusammen, die wir in der neoliberalen Kultur beobachten? Man soll offen und verfügbar sein, man soll Dinge mögen, man soll Konflikte kleinhalten. Lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen der Aversion des Neoliberalismus gegenüber Konflikten und den Gründen dafür, dass wir der Polizei eine so weitreichende Schiedsrichterrolle zugewiesen haben? Warum suchen wir immer noch vergleichsweise unverhältnismäßig nach individuellen Tätern, anstatt strukturelle Ursachen in den Blick zu nehmen (Patriarchat, Armut, Rassismus etc.)?

Schulman: In meinem Buch suche ich darauf eine Antwort im Zusammenhang mit einer Fallstudie über die Kriminalisierung von HIV. Obwohl Menschen mit HIV, die krankenversichert sind, heute einen hohen Standard medizinischer Betreuung erwarten können, ist es noch immer sehr stigmatisiert, infiziert zu sein. Hinter einem Stigma findet sich immer eine Angst, und wenn Menschen Angst haben, vor allem dann, wenn es um Sexualität geht, verringert das eine selbstkritische Wahrnehmung. Anfangs ging man vor allem davon aus, dass Menschen, die HIV-negativ sind, selbst dafür verantwortlich wären, auch negativ zu bleiben. Aber der Staat hat diese Sichtweise in der letzten Dekade verändert. Nun heißt es: Nein, die Verantwortung liegt nicht bei dir, jemand kann dich in die Irre führen, und das ist eine kriminelle Handlung. So bekommt die Gruppe der HIV-Negativen die Möglichkeit, sich als Opfer zu begreifen. Das ist Viktimologie. Der Staat sieht HIV-negative Personen als potenzielle Opfer, anstatt sie in ihrer Entscheidungsfreiheit zu begreifen. So wurde eine ganz neue Gruppe von Personen geschaffen – HIV-negative Menschen, die sich die Macht anmaßen, HIV-positive Menschen ins Gefängnis zu stecken. Und dabei wächst wieder die Macht des Staates. Stattdessen wäre es doch wichtig, dass man in Cliquen, Communities, Familien, Religionsgruppen und staatlichen Behörden anders über diese Angelegenheiten spricht: Hey, du bist nervös wegen Sex? Also, ganz ruhig, lass uns offen über diese Ängste sprechen. Aber nein, man sagt den Leuten, sie sollten die Polizei rufen und ihre Liebhaber ins Gefängnis bringen.

Texte zur Kunst: In deinem Buch beschreibst du auch eine Figur, der es sehr stark darum geht, jeder Art von Anschuldigung zu entgehen. Das ist ihr wichtiger als die Vermeidung von Fehlern. Du verwendest für diesen Archetyp den Begriff ethical virgin, der „ethischen Jungfräulichkeit“. Er ist deswegen besonders nützlich, weil er über das gesamte politische Spektrum hinweg passt. Den social justice warrior kann man darunter genauso fassen wie „neoreaktionäre“ Rechte, denn beide haben diesen Reflex, jemanden anzuprangern, die Schuld bei jemand anderem zu suchen, ohne einen Versuch zu machen zu verstehen, wo diese Person herkommt. Wo ordnest du diese „ethisch Jungfräulichen“ im Spektrum deiner Viktimologie ein?

Schulman: Eine der Quellen für mein Buch ist Catherine Hodes, eine Sozialarbeiterin in New York, die seit mehr als 25 Jahren mit Menschen mit Gewalterfahrungen zu tun hat. Sie war es, die die Beobachtung gemacht hat, dass Konflikt und Misshandlung in eins geworfen werden. Für Hodes ist ein Konflikt ein Machtkampf, während es bei Misshandlung darum geht, Macht über jemanden auszuüben. Wenn dir etwas geschieht, was du nicht verursacht hast und was du nicht kontrollieren kannst, dann ist das Misshandlung. Wenn du selbst Teil des Problems bist, dann ist das ein Konflikt. Sie sagt, dass wir in einer Situation sind, in der die Menschen reflexhaft ihr Leiden übertreiben und alles, was als Widerspruch wahrgenommen wird, sofort mit einer Unschuldsbehauptung beantworten anstatt mit einer Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Wenn man nicht vollkommen und 100 Prozent unschuldig ist, verdient man in unserer gegenwärtigen Kultur kein Mitgefühl. Dabei sollte jedes menschliche Wesen, das Hilfe braucht, auch Hilfe bekommen; alle sollten auf Mitgefühl zählen können. Aber wenn man nur aus einer Position vollkommener Unschuld Ansprüche auf Mitgefühl stellen kann, dann wird jeder versuchen, diese Position zu erreichen.

Ryan Trecartin, „Comma Boat“, 2013, Videostill aus 3-Kanal-HD-Video

Texte zur Kunst: 100-prozentige Unschuld bedeutet aber auch 100-prozentige Machtlosigkeit, oder? Das wäre dann auch ein Problem.

Schulman: Ja. In einer gesunden Situation würde man sich freuen, wenn man versteht, dass und wie man Teil des Problems ist, denn das würde bedeuten, dass man auch in der Lage ist, es zu lösen. Heute darf man aber nicht so tun, als hätte man dazu die Macht. Denn dann bekommt man keine Unterstützung mehr von den Menschen, die einen umgeben.

Klassenstrukturen verstärken diesen Effekt. Ich bin Professorin am College of Staten Island der University of New York. Die meisten der Studierenden stammen entweder aus Einwan-dererfamilien oder aus jener weißen Arbeiterklasse, die überwiegend für Trump gestimmt hat. Meine weißen Studenten/Studentinnen sind zumeist irischstämmig oder Italoamerikaner/innen, in manchen Fällen schon in dritter Generation bei der New Yorker Polizei oder in einer anderen Position für die Stadt tätig. Da gibt es Loyalitätskonflikte. Wenn diese Studierenden anders zu denken beginnen, wirkt das, als wären sie der Familie gegenüber illoyal. Und selbst dann, wenn die alte Denkweise den Interessen der Familie und der Community schadet. Sie sind emotional an bestimmte Interpretationen gebunden, auch wenn das überhaupt nicht mit dem zusammenpasst, wie sie eigentlich leben. Dieser Anspruch auf Loyalität macht es sehr schwierig, die eigene Realität zu konzeptualisieren. Das ist ein religiöses Gehorsamkeitsmodell. Die Idee, dass man das wiederholen soll, was einem gesagt wurde, und dass man, wenn man sich weigert, das Band zur Familie zerreißt – so funktionieren Religionen.

Texte zur Kunst: Und in einer prekären Situation verlässt man sich zuerst auf die Familie. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ könnte man hier ins Spiel bringen. Er schreibt darüber, als Homosexueller in einer französischen Arbeiterfamilie aufgewachsen zu sein und wie der Bruch mit der Familie es für ihn möglich gemacht hat, sich zu outen. Aber für sein Coming-out musste er wiederum die Klasse, aus der er kam, verschweigen. Das stellt vielleicht eine Parallele zu den Studierenden dar, die aus der Arbeiterklasse kommen, auf ein College gehen und dort mit liberalerem oder linkem Gedankengut vertraut gemacht werden und dann mit ihren nach rechts tendierenden Familien brechen müssen.

Schulman: Klasse ist doch ein Konzept, das ganz und gar auf Familie und der ganzen Idee eines „Erbes“ basiert, oder nicht? Die Identifikation mit einer Hautfarbe kommt auch aus der Familie, aus der Gruppe, mit der man biologisch verbunden ist. Familie bildet auch das Modell für Nationalismus. Alle Vorherrschaftssysteme beruhen auf dem Modell der Familie. Historisch war es so, dass Homophobie weiße schwule Menschen den weißen Familien entfremdet hat. Eine weiße schwule oder lesbische Person, die in der Familie mit Homophobie zu kämpfen hatte, wurde, auch wenn sie deren Rassismus teilte, aus einem weißen Nationalismus, aus einer weißen Vorherrschaft auf Grundlage familiärer Identität ausgeschlossen …

Texte zur Kunst: Ja, und unter den Trump-Anhängern wird familiäre Loyalität durch einen geteilten Opferstatus demonstriert. Trump selbst spielt immer wieder das Opfer, und er tut das, weil – wie du zuvor gesagt hast – er sich davon Vorteile versprechen kann. Aber auch, weil ihn sein Opferstatus seinen Wählern näherbringt. Er ist zwar ein reicher Mann, aber er ist ebenso „traumatisiert“, wie es de facto seine Wähler sind – das ist seine Markenidentität. Die Wähler glauben, dass Trump ihre Bedürfnisse versteht. Wie kann dieser Zusammenschluss über Klassengrenzen hinweg funktionieren? Warum glauben Menschen an Trumps Opferstatus, wenn doch inzwischen buchstäblich ein ganzer Staatsapparat hinter ihm steht?

Ryan Trecartin, „Mark ­Trade“, 2016, Videostill aus 1-Kanal-HD Video

Schulman: Trump bezeichnet sich als Opfer, und die Leute glauben ihm, weil sie tatsächlich Opfer sind – aber sie sind seine Opfer und das machen sie sich nicht klar. Stattdessen schieben sie das auf die falsche Partei. Das ist wie bei jemanden, der als Kind misshandelt wurde und das später im Leben an einem Partner auslässt. In diesem Fall beschuldigt der arbeitslose weiße Arbeiter den Zuwanderer, auch wenn seine Probleme nichts mit Immigration zu tun haben. Aber Trump gibt den weißen Arbeitern das Gefühl, dass er sie ernst nimmt, indem er im Fernsehen verkündet, dass mehr Immigranten zu mehr Kriminalität führen. Immigranten sind aber nicht die Ursache von Kriminalität. In Amerika kommt Kriminalität von der Armut oder von der Gier.

Außerdem hält sich eine so dominante Figur wie Trump für unhinterfragbar. Wenn andere Leute darauf pochen, dass auch einer, der sich aufgrund seiner Hautfarbe für überlegen hält, an die Regeln gebunden ist, dann ist das für ihn ein ungerechtfertigter Angriff oder eine Schmähung. Menschen, die von ihrer eigenen Überlegenheit und berechtigten Vorherrschaft überzeugt sind, wollen sich nicht hinterfragen. Wenn sie sich unwohl fühlen, erfahren sie das wie einen Angriff auf die eigene Persönlichkeit. In ihrem Buch „The Purpose of Happiness“ (2010) schreibt Sara Ahmed, dass das angebliche Recht, sich immer wohlzufühlen, ein Konzept der neoliberalen Oberschicht ist. Man kann sich nicht immer wohlfühlen , es sei denn auf Kosten anderer Leute. Eigentlich sollte man danach trachten, sich unwohl zu fühlen. Aber die Überlegenheitsdenker haben das Gefühl, sie hätten ein Recht, sich immer wohlzufühlen. Wenn das also nicht der Fall ist, glauben sie, dass jemand ihnen etwas Schlimmes antut, und fühlen sich verletzt und angegriffen.

Eine traumatisierte Person kennt diese Gefühle auch, aber aus anderen Gründen. Manchmal werden wir sehr zerbrechlich, wenn wir leiden. Es wird ungeheuer schwierig, nicht vollständig auseinanderzufallen. Wenn dann jemand kommt und uns auffordert, uns noch weiter zu hinterfragen, wir das Gefühl haben, auf Widerstand zu stoßen oder auf ganz normale Differenzen, dann ist das wie eine Bedrohung. Innere Angst und äußere Bedrohung geraten durcheinander, auch wenn es sich um ganz unterschiedliche Dinge handelt. Dann kann die traumatisierte Person auch falsche Behauptungen aufstellen, wie es die zuvor genannten Menschen tun, die von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt sind: Sie behaupten eine Misshandlung, einfach weil sie das Unwohlsein nicht aushalten.

Obwohl das „Unwohlsein“ für eine traumatisierte Person etwas anderes bedeutet als für jemanden, der sich als überlegen versteht, macht es für die, die dafür verantwortlich gemacht werden, keinen Unterschied. Wenn man zu Unrecht angeklagt oder fälschlich beschuldigt wird, wenn man gesagt bekommt, dass man in einem Konflikt die Ursache des Leids ist, dann fühlt man sich schrecklich und komplett ohnmächtig. Und wenn man in einem Szenario als der alleinige Auslöser hingestellt wird, wenn die Partei, mit der man es zu tun hat, für ihr Verhalten jegliche Verantwortung zurückweist, dann kann das sehr nachteilig werden. Das kann mit Gefängnis enden oder im schlimmsten Fall sogar mit einem Todesurteil. Zum Beispiel sperrt unsere Gesellschaft Schwarze Menschen aufgrund von weißem Rassismus ein.

Texte zur Kunst: Diese Anschuldigung, man sei misshandelt worden, kann so als ein Versuch gelesen werden, eine unmarkierte Position aufrechtzuerhalten; ein Versuch, der Bindung an eine Identität oder ein Profil zu entgehen, der man nicht entkommen kann …

Schulman: Richtig. Das trifft es ganz gut.

Texte zur Kunst: … was wiederum erklären würde, warum derzeit das Wissen darum, wie man ein Narrativ in diese Richtung wendet, so ungeheuer machtvoll ist.

Schulman: Ja, doch dabei wäre es in einer gesunden Situation die Aufgabe der anderen Partei zu fragen: Wie konnte das passieren? Und: Was geschah dann als Nächstes? Das ist es, was echte Freunde tun, und auch das, was Liebe ist: Man hilft der anderen Person, ihre Rolle in einer Situa-tion oder in einem Konflikt zu verstehen, um sie dazu zu ermächtigen, eine Lösung zu finden.

Übersetzung: Bert Rebhandel