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Nadja Abt

SEEFRAUEN

Als Tochter einer ehemaligen Flugbegleiterin und eines ehemaligen Matrosen beschäftige ich mich seit Kindesalter mit der See und transozeanischen Überquerungen. Als Künstlerin unternahm ich daher 2011 die erste Reise mit einem Frachter von Varna, Bulgarien, nach Batumi, Georgien – 2017 folgten eine transatlantische Containerschifffahrt von Hamburg nach Santos, Brasilien, und eine Fischfangfahrt in Porto, Portugal. Den Frauen, die an Bord des Hamburger Containerschiffes arbeiteten, widmete ich daraufhin einen Kurzfilm und diesen Text.

Der Beruf der Seefahrerin stellt einen der stärksten Gegensätze zur domestizierten Arbeitswelt der „Hausfrau“ bzw. dem mit Arbeitnehmerinnen konnotierten Sektor der sozialen Berufe dar. Eine Gemeinsamkeit läge wohl darin, dass sie, für die Öffentlichkeit unsichtbar, das Mühlrad der Globalisierung und des Kapitalismus antreiben – um dabei völlig unterbezahlte, nicht anerkannte oder nicht rechtlich geschützte Arbeit zu verrichten. Die auf den Meeren herrschende anonyme, isolierte okkulte Welt der Einsamkeit behandelte in größter Ausführlichkeit der amerikanische Künstler Allan Sekula in seinen Filmen und Fotografien. [1] Und obwohl er den Arbeitern von modernisierten Frachtschiffen zum ersten Mal in der Kunstgeschichte derart viel Aufmerksamkeit widmete, spielt in seinen Recherchen und Filmen die Figur der Frauen auf See keine Rolle. Ihr Arbeitsumfeld ist seit Jahrhunderten von Männern geprägt und dominiert − erst in den vergangenen Jahren haben Reedereien wie MAERSK und Hamburg Süd Kampagnen zur Rekrutierung von weiblichen Besatzungsmitgliedern gestartet. Der Prozentsatz von Frauen an Bord [2] liegt immer noch bei etwa einem Prozent. Ungenügende ärztliche Versorgung und Absicherungen, beispielsweise im Falle einer Schwangerschaft, lassen den Beruf äußerst unattraktiv erscheinen. [3] Bis in die 2000er Jahre untersagten maritime Ausbildungsstätten Frauen die Einschreibung (in China etwa bis 2016), obwohl beispielsweise für die Navigation von Containerschiffen aufgrund der hochtechnisierten Computersteuerung heutzutage keine hohen physischen Kräfte mehr notwendig sind.

Arbeit und Leben in einer männlich dominierten Welt auf einem Schiff, in der die Frau als Eindringling gilt und dem Aberglauben folgend Unglück an Bord bringt, sind nach wie vor fast unbeschrieben. Dies gilt sowohl für die Realität, in der wenige Studien und Vereinigungen für die Rechte der Frauen an Bord kämpfen, als auch für fiktionale Erzählungen oder Darstellungen der Schifffahrt. Das Schiff als Ort von Projektionen und Metaphern in Kunst und Literatur: Imaginiert als geheime Gesellschaft von Männern, als Spiel zwischen Rohheit und Romantik, als Ort homosexueller Fantasien von Matrosen und dunklen Hafenbars, wie etwa bei Jean Genet oder Hubert Fichte. „Was auf dem Schiff passiert, bleibt auf dem Schiff“ ist eine Regel, die auch heute noch gilt – und die so auch der Autorin beim Betreten des Frachters von Hamburg nach Santos Anfang Februar 2017 eingebläut wurde. Diese Anweisung, als Tradition legitimiert, beflügelt zwar die Imagination der an Land Gebliebenen, ganz real nimmt sie jedoch den Mitreisenden sogleich das Recht der Anklage, was de facto zu vielen Fällen der Diskriminierung und zu sexuellen Übergriffen innerhalb der Crew führt, die nicht gemeldet werden. [4] Es gibt wohl kaum einen anderen Ort, an dem Aberglaube, Seemannsgarn und Romantik derart hart auf einen realen Arbeitsalltag prallen – ein Ort, an dem von den Schiffsarbeiter*innen selbst die Mythen und Geschichten am Leben gehalten werden, vielleicht gerade um derart brutale Arbeitsbedingungen ertragen zu können. Zur physisch anstrengenden Arbeit ohne Tageslicht im Maschinenraum kommt die psychische Belastung der „Eintönigkeit“. Lediglich von Meer umgeben, verliert sich schnell das Gefühl für Zeit, Proportionen, Geschwindigkeiten und Entfernungen. So wäre der Übergang von Realität zu Fiktion innerhalb der Welt auf See nicht weit, könnte man meinen. Doch welche Rolle ist der Frau an Bord in diesem Zwischenraum zugedacht? Sie dringt in die imaginäre Welt einer melvillesken männlichen Besatzung mit ihren eigenen Regeln ein und erschließt diese − indem sie, literaturhistorisch gesprochen, ihre Rolle von der Prostituierten in den Häfen oder der wartenden Ehefrau/Hausfrau an Land gegen die eines effektiven Besatzungsmitglieds eintauscht. Wie lässt sich diese Erschließung in einer Kulturgeschichte des Meeres nachvollziehen? Hier nur einige Beispiele:

"Call me …“ − mit diesen Worten beginnt der wohl bekannteste Roman über die Seefahrt von Herman Melville. Er eröffnet der Leser*in zunächst eine Option, „nennt mich …“, und nimmt ihr diese Option im gleichen Moment, indem der Name des Erzählers eindeutig als ein männlicher, nämlich Ismael, vorgeschlagen wird. Wie wären jener Roman und all die anderen Seefahrerromane rezipiert worden, hätte Ismael einen genderneutralen Namen getragen?

Dies fiel zuletzt auch René Pollesch auf: In seinem jüngst uraufgeführten Stück Black Maria am Deutschen Theater Berlin beschreibt eine der Schauspielerinnen die Inszenierung des Romanklassikers Moby Dick als Paradebeispiel der empty stage wie sie einst der Regisseur Peter Brook definierte, die Raum lässt für Imagination. So sei damals sowohl Zuschauer*innen und Kritiker*innen als auch dem Regisseur selbst der Wal und das Meer auf der leer gelassenen Bühne deutlich vor ihrem inneren Auge erschienen – dass die gesamte Schiffsmannschaft der Pequod jedoch auch von acht Schauspielerinnen und nicht ausnahmslos von männlichen Darstellern hätte besetzt werden können, dies hätte wohl jenseits jeglicher Vorstellungskraft gelegen.

Über Frauen und das Meer (nicht auf dem Meer) ist hingegen vielfach geschrieben worden, wie bereits die Studie von Margaret S. Creighton und Lisa Norling Iron Men, Wooden Women. Gender and Seafaring in the Atlantic World, 1700−1920 (1996) festhält. Zur Hochzeit der Seestücke und See-fahrerromane ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auch einige Frauen, die das Meer als Hauptmotiv und Metapher menschlicher Beziehungen nutzten, darin jedoch vornehmlich die Rolle der Frau als an der Küste Verweilende und die des Mannes als Abenteurer auf See reproduzierten. [5]

Eine kulturhistorisch weit zurückgehende Verbindung der Frau zur See stellt hingegen die Figur der Meerjungfrau dar. Sie sorgt als Galionsfigur für den Schutz des Schiffes, und ist etwa in der afrobrasilianischen Religion Candomblé die Göttin des Meeres, genannt Yemanjá. Halb Frau, halb Fisch, manchmal mit und manchmal ohne Beine mit der See verbunden, sehnt sich das Wasserwesen namens Undine in den Dramen von Friedrich de la Motte Fouqué über Henrik Ibsen bis hin zu Ingeborg Bachmanns Kurzgeschichte zurück in seine eigentliche Lebenswelt. Als sensibles Geschöpf mit allen überbordenden romantischen Eigenschaften ausgestattet, die traditionell dem weiblichen Geschlecht sowie auch dem astrologischen Sternzeichen Fisch zugeordnet werden, kämpft es stets mit seinen Emotionen. Es sehnt sich nach der Häuslichkeit mit dem Manne, kann sich aber seinem inneren Freiheitsdrang nicht entziehen. Am Ende siegt die Freiheit mit Einschränkungen für die weibliche Figur, wie etwa eine späte Adaption des Ibsen-Dramas Die Frau vom Meer (1826) von Susan Sontag [6] zeigt. Die Protagonistin Ellida entschließt sich, bei ihrem Mann Hartwig zu bleiben, der ihr zuvor die Freiheit eingeräumt hatte, zu gehen, wann immer sie wolle. Ernüchtert ob der falschen Entscheidung spricht sie am Ende zu sich selbst: „I will just finish this last bit of embroidery and then I will get up and I will go to the sea and jump in. / Or better yet, I’ll take Hartwig down to the shore with me and point to the horizon to distract him and then smash his head in with a flat rock, and then I will jump into the sea and swim and swim …“ [7]

Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden Hans Christian Andersens Die kleine Meerjungfrau (1837) und Herman Melvilles Moby Dick (1851) aus zwei völlig unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Meer. Ringt das Wesen aus der Wasserwelt in konstruierten Romantizismen mit der unerfüllten Liebe zum Mann an Land, so buhlen Kapitän Ahab und seine Crew um die Aufmerksamkeit des weißen Wals, dem sie durch die Ozeane folgen. Der Vergleich hinkt, da bei den Meerjungfrau-Erzählungen das Motiv des Schiffes als Heterotopie nicht vorkommt, er zeigt dennoch gerade deshalb die Leerstelle einer Literatur, in der Frauen sowohl die männlich erdachten Regeln der See als auch die des Schiffes beherrschen.

Sieht man sich nun aktuellere Beispiele von Autorinnen an, die mit dem Motiv umgehen, so ist es fast bedauerlich, dass der Ansporn, als Seefahrerin auf das Meer zu fahren, anscheinend immer noch mit den gleichen Voraussetzungen assoziiert wird. In Marguerite Duras’ Roman Der Matrose von Gibraltar (1952) hat zwar eine − sehr reiche − Frau das Kommando über das Segelschiff, jedoch sind Rechtfertigung und Ansporn für all die erlebten Abenteuer in ihrer Liebe zu eben jenem titelgebenden Decksjungen zu finden. Die Frau ist auch hier eigentlich keine Seefahrerin im wahrsten Sinne, sondern ein Produkt des Ich--Erzählers: die Imagination der -„unabhän-gi-ngen“ abenteuersuchenden Frau aus männlicher Perspektive. Auch im zuletzt erschienenen Roman Die Seefahrerin von Catherine Poulain (2016) verkommt eine zunächst interessante Geschichte einer Frau, die auf einem Fischkutter in Alaska anheuert, zu romantischem Kitsch.

Um folglich dem einen Prozent Seefahrerinnen und ihrer Arbeitsrealität gerecht werden zu können, sollten wir das Meer von neuen Perspektiven aus betrachten, neue Geschichten fern von Romantizismen erzählen und den Frauen Achtung schenken, die für uns Tausende Container über ferne Ozeane sowohl im Maschinenraum als auch auf der Brücke verschiffen. Denn mag die Öffnung der maritimen Berufe für Frauen auf einem rein kapitalistischen Prinzip der akzelerierten Globalisierung begründet sein, so brachte sie dennoch die Möglichkeit, Frauen auf See und deren Geschichten neu zu denken.

Images: Bilder in abgedruckter Reihenfolge / images in the following order „Der Tag einer Seefrau an Bord / A Seawoman`s Day on Board“, 2017, film stills poster, Undine I (Susan Sontag „Lady from the Sea“) & Undine II (Ingeborg Bachmann „Undine geht“), 2017

Anmerkungen

[1]Vgl. Allan Sekula, Ship of Fools / The Dockers’ Museum, hg. von Hilde Van Gelder, Leuven 2015.
[2]Der folgende Text bezieht sich auf die Frachtschifffahrt. Der Kreuzfahrtsektor wird aufgrund völlig anderer Bedingungen an Bord ausgeklammert.
[3]Genauere Arbeitsbedingungen von Frauen an Bord beschreibe ich in meinem Fotofilm Der Tag einer Seefrau an Bord (2017).
[4]Vlg. den Bericht der International Labour -Organisation: „Recruitment and retention of seafarers and the promotion of opportunities for women seafarers“, Report for discussion at the Sectoral Meeting on the Recruitment and Retention of Seafarers and the Promotion of Opportunities for Women Seafarers, Geneva, 25. Februar bis 1. März 2019.
[5]Siehe hierzu: Melody Graulich, „Opening Windows toward the Sea. Harmony and Reconciliation in American Women’s Sea Literature“, in: M. Creighton/L. Norling (Hg.), Iron Men, Wooden Women. Gender and Seafaring in the Atlantic World, 1700−1920, Baltimore 1996.
[6]Susan Sontag, Lady from the Sea, uraufgeführt 1997.
[7]Dies., Lady from the Sea, São Paulo, 2013.