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Peter Rehberg

QUEERE AUTOFIKTION ALS KÖRPERPROTOKOLL

Wu Tsang, „Wildness“, 2012

Wu Tsang, „Wildness“, 2012

Wenn Schriftsteller*innen über sich selbst schreiben, nehmen sie eine doppelte Position ein: Sie sind sowohl Autor*innen als auch Figuren ihrer Texte. Als Medium der erzählenden Stimme ist das Schreiben eine Bekräftigung des Ichs, wegen seiner unvermeidlichen Fiktionalität zugleich aber auch eine Arbeit an diesem. Was passiert jedoch, wenn das Subjekt des Textes – diese Autor*in – neben den Umformungen der eigenen Gedanken und Gefühle im Prozess der Aufzeichnung eine radikale biologische Verwandlung durchlebt? Peter Rehberg richtet sein Augenmerk auf Schriftsteller*innen, die im Format der Autofiktion eine physische Metamorphose durchlaufen und aufzeichnen: eine Schwangerschaft im einen, eine Geschlechtsumwandlung im anderen Fall. Können uns ihre Memoiren dabei helfen, die Wandelbarkeit der Sprache sowie unserer eigenen Körper besser zu verstehen?

Am Anfang dieses Buches habe ich Testosteron genommen (statt Hegel, Heidegger, Simone de Beauvoir oder Butler zu kommentieren); ich wollte mich selbst enthaupten, mir den Kopf, der von einem Geschlechts-Programm geprägt war, abschneiden, ich wollte einen Teil des molekularen Modells sezieren, das in mir wohnt. Dieses Buch ist die Spur, die von diesem Schnitt geblieben ist. Paul B. Preciado, Testo Junkie

Unter den medientechnischen Bedingungen des Internets ist die „Autofiktion“ in den letzten Jahren zu einem populären literarischen Genre aufgestiegen. [1] Während dabei auf den ersten Blick der Selbstbezug einer narzisstischen Selfiekultur zum Tragen zu kommen scheint, das „Ich“ also zum privilegierten Referenzpunkt der Erzählung wird, verweist „Fiktion“ an dieser Stelle programmatisch auf ein im Schreiben ausgetragenes Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Imagination: Denn was heißt es, wenn ausgerechnet das Ich zum Teil einer fiktiven Erzählung wird? Wird es zum allmächtigen Ausgangspunkt einer erfundenen Welt? Oder ist das Verhältnis genau umgekehrt zu denken: Geht erst aus dem Kontext immer schon gegebener Fiktionen überhaupt ein Ich hervor?

In beiden Fällen – Fiktion als Fantasieleistung oder als Annahme schon existierender Erzählungen – ergibt sich die Frage, in welchem Sinne es sich in diesen Konstellationen noch um ein Ich handelt. Denn gegenüber einer fiktiven Welt, die ihm seine Position nicht zurückspiegelt, lässt sich ein wahres Ich nicht länger behaupten. Wenn das Ich nicht von seiner Realität Bericht erstatten kann, droht ihm, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Im zweiten Fall, wenn wir also davon ausgehen, dass das Ich die Fiktionen nicht erst selbst produziert, sondern sich immer schon inmitten von Fiktionen aufhält, tritt das Ich unter Bedingungen an, die ebenfalls an seiner Autorität zweifeln lassen. Das Ich ist dann gegenüber der Fiktivität des Textuellen immer schon sekundär, ein Effekt.

Diese beiden Varianten im Versuch, das der Kategorie Autofiktion innewohnende Spannungsverhältnis auszulegen, sind literaturgeschichtlich zu verschiedenen Zeitpunkten als Verfahren für unterschiedliche Anliegen realisiert worden. Sie markieren sehr grundlegende Möglichkeiten der literarischen Produktion. Ein naheliegender Gebrauch der Variante einer Autofiktion als Fantasieleistung besteht darin, über die Ich-Perspektive zwar die Intimität und das Authentizitätsversprechen der Erzählung aufrechtzuerhalten, ohne sich jedoch dem Bekenntniszwang der Autobiografie zu fügen. Autofiktion kann hier auch zu einem einfachen literarischen Trick werden; eigene Erfahrungen werden zum literarischen Stoff, aber nur unter dem Deckmantel des Fiktiven, der sie verschleiert, aussprechbar. Von der Fiktivität des Sprachlichen auszugehen, bevor das Ich überhaupt auftritt, ist hingegen eine Annahme, die vor allem im Kontext diskursgeschichtlicher, postmoderner und dekonstruktivistischer Theorien Bedeutung gewann. Anstatt Regisseurin oder Regisseur der Bedeutungsproduktion zu sein, stellen sich mit dem Ich vielmehr die jeweiligen historischen Bedingungen von Subjektproduktion aus.

Victoria Sin, „If I Had the Words to Tell You We Wouldn’t Be Here Now“, 2019

Victoria Sin, „If I Had the Words to Tell You We Wouldn’t Be Here Now“, 2019

Die dem Verhältnis von „Auto“ und ­„Fiktion“ damit eingetragene Widersprüchlichkeit ist innerhalb der letzten 40 Jahre für ein queeres Projekt nutzbar gemacht worden. Ein Bezugspunkt gegenwärtiger queerer Autofiktion sind die Texte des schwulen französischen Schriftstellers Hervé Guibert [2] , der vor allem mit seinem Aids-Roman Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat bekanntgeworden ist. Der Text dramatisiert, wie sehr das Überleben HIV-Positiver in der westlichen Welt in den 1980er Jahren von Entwicklungen und Entscheidungen der Pharmaindustrie abhängig war. Das Buch funktioniert auch als roman-à-clef der französischen Kulturszene. Celebrities wie Michel Foucault und die Schauspielerin Isabelle Adjani gehören in kaum verhüllter Gestalt zum Personal des Textes. Wenn Guibert auch vom literarischen Trick einer fiktiven Darstellung mit Namensänderungen Gebrauch macht, ist das Geständnishafte seines Textes allerdings so übermächtig, dass die Markierung als Fiktion fast verpufft. Zum Skandal wurde sein „Roman“, weil Aids als Ursache von Foucaults Tod − eine Information, die 1984 auf Drängen von Foucaults Familie verschwiegen wurde − sechs Jahre später hier zu einem der zentralen Themen wurde. Die Popularität von Guiberts Text ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass es hier eine heimliche Übereinkunft zwischen Autor und Publikum gibt, Fiktion als Vorwand zu benutzen, um die „Wahrheit“ aussprechen zu können.

Genau diese Verbundenheit von Wahrheit und Sexualität und den sich daraus ergebenden Subjektivitätseffekten war es natürlich, die im Zentrum von Foucaults Überlegungen zu einer Geschichte der Sexualität standen. Doch während Foucault niemals aus der Perspektive des Ichs über Homosexualität schrieb, trieb Guibert – unter dem Deckmantel der Autofiktion – die sexuelle Geständnishaftigkeit sozusagen auf die Spitze. Guibert scheint es dabei weniger um eine parodistische Dekonstruktion eines problematischen Geständnisparadigmas zu gehen. Sein Verfahren ähnelt Rosa von Praunheims Outing-Strategien Anfang der 1990er Jahre: Die Ausnahmesituation von Aids verlangt ethisch und politisch nach der geständnishaften Bekanntmachung sexueller Subjektivität, um die ideologische Fiktion uneingeschränkter Heterosexualität innerhalb der Medienöffentlichkeit und die daraus folgenden Diskriminierungen durchbrechen zu können.

Eher im Sinne Foucaults verfahren hingegen jene Autoren wie Robert Glück, Bruce Boone und Dodie Bellamy, die sich als New-Narrative-Bewegung schon Ende der 1970er gruppierten. [3] Das Ich des Textes ist bei diesen Autor*innen immer schon unter den Bedingungen des Fiktiven gegeben, insofern Sprache einem strukturalistischen Verständnis entsprechend die Bedingungen vorgibt, unter denen sich die Artikulation eines Ichs ereignen kann. In der Perspektive des Poststrukturalismus können diese sprachlichen und kulturellen Formen allerdings nicht im Sinne eines neutralen Wissens verstanden werden, Machtverhältnisse werden immer schon mittransportiert. Zwar büßt das Ich gegenüber der Allgegenwärtigkeit dieser Struktur seine Autonomie als kritische Instanz ein, dennoch kann es zum Schauplatz von Kritik werden, nämlich als der Ort, an dem der Umstand seiner Gemachtheit mit ausgestellt wird. Die Rede vom Ich geht dann stets einher mit einer Problematisierung dieses Ichs. Der Text spielt nicht mit dem Gewicht einer durch das Ich-Sagen verbürgten Geständnishaftigkeit, sondern macht sich die Enttäuschung über ein Ich, das nicht als verlässliche Quelle und Ursprung des Textes gelten kann, zunutze. Von hier aus werden dann Strategien wie Pastiche, Parodie und Ironie, also Ausdrucksmodi der Uneigentlichkeit und Zitathaftigkeit, bedeutsam, wie sie auch insgesamt für die Postmoderne als charakteristisch gelten. [4]

Caio Amado Soares, „Club Splendida“, 2019

Caio Amado Soares, „Club Splendida“, 2019

Für Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten wie die queeren Autor*innen der New-Narrative-Bewegung ergeben sich daraus produktive Möglichkeiten. Denn wie spätestens seit Foucault und Judith Butler klar geworden ist, kann es für sie nicht darum gehen, sich den bestehenden Wissenskategorien über Sexualität und Geschlecht zuzuordnen − ein queeres Projekt definiert sich ja gerade durch den epistemologischen Bruch mit solchen Identitätsangeboten wie „Heterosexualität“ und auch „Homosexualität“.

Allerdings zeichnet sich heute in der autofiktionalen queeren Gegenwartsliteratur gegenüber ihren Vorläufern in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren eine bedeutende Verschiebung ab. In den beiden Texten – Paul B. Preciados Testo Junkie und Maggie Nelsons Die Argonauten −, die im Folgenden etwas genauer betrachtet werden sollen, wird Queerness nämlich nicht nur als Destabilisierung der sprachlichen Verortung des Subjekts in Szene gesetzt. Vielmehr sind die Morphologie des Körpers und seine Affekte zentraler Bezugspunkt eines autofiktionalen Schreibens.

Testo Junkie und Die Argonauten lassen sich als Protokolle körperlicher Veränderungen lesen: in einem Fall als Protokoll einer selbstautorisierten Hormonbehandlung, im anderen einer Schwangerschaft. Über seinen hormonellen Selbstversuch schreibt Paul B. Preciado: „[I]ch trage etwas Testogel auf meine Haut auf und reibe es ein, eine Dosis von 50 mg, ich will dieses Buch schreiben.“ [5] Als autofiktionale Projekte nehmen diese Texte die Materialität des Körpers zum Anlass, Queerness zu artikulieren. „Im Inneren“, so Nelson, „waren wir zwei menschliche Tiere, die miteinander Transformationen durchmachten und einander dabei ungebunden zuschauten.“ [6] Es handelt sich um Körperprotokolle, die die Auswirkungen hormoneller Veränderungen aufzeichnen. „Das Buch protokolliert die vorsätzliche Vergiftung des Körpers und der Affekte von P. P.“ [7] Für dieses Vorhaben können auch die Aufzeichnungen von Sigmund Freud, Ernst Jünger und Walter Benjamin zu ihren Drogenexperimenten als Vorläufer gelten.

Josephine Pryde, „It's Not My Body“, 2011

Josephine Pryde, „It's Not My Body“, 2011

Wie lassen sich die Projekte von Preciado und Nelson nun unter dem Blickwinkel von Autofiktion einordnen? Testo Junkie kombiniert kulturgeschichtliche und theoretische Erörterungen mit autofiktionalen Passagen. In seinen theoretischen Schriften hat Preciado schon früher auf eine Grenze von Butlers Diskurs zu Gender und Sex hingewiesen. Zwar wird bei Butler über Gender hinaus auch das „biologische Geschlecht“ als performativ verstanden, insofern auch seine Bedeutsamkeit und Kohärenz erst durch Bezeichnungspraktiken zustande kommen. Wie aber konkrete morphologische Phänomene, z. B. die körperlichen Veränderungen HIV-Positiver oder jene von Transgender-Personen, die eine Hormonbehandlung durchlaufen, mit dem Performativitätsparadigma verstanden werden können, bleibt mit Butler unklar. Arbeiten auch Hormone performativ?

Hier setzt Preciados Projekt an, das Kritik nicht länger auf begriffliche Arbeit beschränkt, sondern in seiner Machtanalyse den von ihm identifizierten „pharmakopornografischen“ Komplex miteinbezieht. „Eine Philosophie, die den Körper nicht als aktive Plattform technovitaler Transformation betrachtet, tritt auf der Stelle. Ideen reichen nicht.“ [8] Autofiktion bedeute hier, dass es wie bei den Experimenten von New Narrative nicht um die Verifizierung eines Ichs im Text geht, sondern dass das Ich die Gelegenheit darstellt, Machteffekte, die den Körper treffen, deutlich zu machen. „Einer zeitgenössischen Kritik muss es darum gehen, unsere conditio als pharmapornografische Arbeit bzw. Konsumtion zu explizieren.“ [9] Diesmal eben nicht nur jene von Gender und Sexualität als diskursives Gerüst, sondern auch als biochemischer Code. [10] Aus diesem Repertoire an Zeichen setzt sich bei Preciado der Werkzeugkasten für die Konstruktion und Kritik von Subjektivität zusammen. [11] Autofiktion ist für dieses Vorhaben insofern eine Notwendigkeit, als für diese experimentelle Praxis, die Ideen und Hormone in Bewegung versetzt, kein glaubwürdiger Wissensdiskurs vorhanden ist, auf den sich das schreibende Subjekt verlassen könnte. Die Geschichte der Hormonbehandlung und der Pornografie und ihre Interpretationen werden abgerufen; aber nur, um diesen Wissens- und Darstellungsformationen die Autorität zu entziehen, die Verfasstheit des schreibenden Subjekts zu definieren.

Das Buch trägt philosophische Überlegungen zusammen und stellt sie neben Aufzeichnungen von Hormonbehandlungen und Details sexueller Praktiken. Wenn es darauf verzichtet, sie in einer höheren Logik aufzulösen, dann einfach deshalb, weil genau das die Form ist, als die Subjektivität konstruiert ist – und dekonstruiert. [12] In den von Eve Kosofsky Sedgwick vorgeschlagenen Kategorien gesprochen, bleibt Preciados autofiktionale Artikulation dem Register des Paranoiden verhaftet, ohne Aussicht auf das Reparative als alternativen Modus des Weltbezugs. Ein Code der Intimität kommt nicht zum Einsatz, auch gerade dann nicht, wenn es um Emotionen geht. „Ich interessiere mich nicht für meine Gefühle, weil es meine sind, weil sie mir und nur mir allein gehören.“ [13] Stilistisch und stimmungsmäßig ergibt sich daraus ein rauschhafter Diskurs der Härte und des Phallischen. „Erst dann stellt sich nach und nach eine außergewöhnliche Klarheit ein, begleitet von der explosiven Lust zu ficken, nach draußen zu gehen, auszugehen, quer durch die ganze Stadt.“ [14]

An einem solchen radikalen Selbstversuch ist Maggie Nelson in ihrem Text Die Argonauten nicht interessiert. Sie schreibt: „Ich nehme an, ich war nicht bereit, mein eigenes Ich schon aus dem Blick zu verlieren, denn seit sehr langer Zeit war das Schreiben für mich der einzige Ort, an dem die Möglichkeit plausibel schien, es zu finden (was auch immer ‚es‘ ist).“ [15] Für eine queere und feministische Position versprach das Schreiben, einen Ort der Zugehörigkeit für das Ich anzubieten, der innerhalb der sozialen Realität sonst nicht zu finden war. Nelson will ihn nicht gegen die queere Heimatlosigkeit Preciados eintauschen.

Verwandt ist Nelsons Projekt dem Preciados, auf den sie sich auch direkt bezieht [16] , aber insofern, als auch hier körperliche Veränderungen im Mittelpunkt eines autofiktionalen Schreibprozesses stehen. [17] Nelsons Schwangerschaft und die female-to-male-Transition ihres Partners Harry bieten die beiden Anlässe, jene Diskurse abzurufen, die den Körper mit geschlechtlichen Zuschreibungen versehen. Der Trans-Position der Hormonbehandlung mit Testosteron wird in ihrem Text die Cis-Position der eigenen Schwangerschaft zur Seite gestellt. Was ergibt sich aus dieser Paarkonstellation? Zunächst geht es auch bei Nelson darum, sich dem diskursiven Gerüst der Mythen z. B. über Weiblichkeit und Mutterschaft entgegenzustellen: „[…] the pregnant woman who thinks. Which is really just a pumped-up version of that more general oxymoron, a woman who thinks.“ [18]

Der Entfremdungseffekt von Diskursen über Gender, die für feministische und queere Subjekte nicht als Angebot der Identifizierung und Entlastung des Subjektes wirksam werden, sondern wie bei Preciado als Quelle der Gewalt entlarvt werden, hat bei Nelson allerdings nicht zur Folge, dass das Ich zu einem paranoiden Kampfschauplatz aufgerüstet wird. Nelsons Text ist versöhnlich. Dieser Schritt vollzieht sich bei ihr mit Verweis auf Sedgwicks Vorschlag, dem Einzelnen den Vorrang vor dem Universellen zu geben. Die Kritik an Wissenssystemen von Gender und Sexualität eröffnet den Raum für ein Affektleben, dem in seiner Besonderheit Bedeutung zugesprochen wird: „[I]ch fand es immer auch romantisch, weil die individuelle Erfahrung des Begehrens Vorrang hat vor der kategorischen.“ [19] Folgerichtig heißt es bei ihr dann schließlich: „Ich will gar nichts repräsentieren.“ [20] Mit der Verwirrung darüber, ob Nelson eine schwangere lesbische Frau ist und ihr Partner ein Trans-Mann, ob diese Beziehung homo- oder heterosexuell ist, wird das queere Paar in sozialen Situationen, z. B. beim Einchecken an der Hotelrezeption, immer wieder konfrontiert. Nelsons Erzählung schlägt daraus Kapital, indem sie den geschlechtlichen und sexuellen Kategorisierungszwang im Insistieren auf der Einzigartigkeit der Begegnung mit Harry hinter sich lässt. Ihr Schreiben protokolliert eine Lebensführung, die behauptet, den Macht- und Wissensformen einer Geschichte der Sexualität entkommen zu können.

Gerry Bibby, „Auto Fictions“, 2016

Gerry Bibby, „Auto Fictions“, 2016

Auf diese Weise handelt es sich bei Nelsons Buch nicht nur um ein epistemologisches, sondern auch um ein affektives und ästhetisches Projekt. Wiederum mit Bezug zu Sedgwick lässt sich sagen: Im Unterschied zu Preciado hält Nelson einen reparativen Weltbezug für möglich. Queeres Schreiben wird hier nicht zur rigorosen Abrechnung mit heteronormativen Formen von Gewalt, sondern spricht ästhetischen Praktiken die Kraft zu, Gegenwelten hervorzubringen. „Mehr als eine Philosophin oder Pluralisiererin bin ich vielleicht eine Empirikerin, sofern es nicht mein Ziel ist, etwas Ewiges oder Universelles wiederzuentdecken, sondern den Umständen nachzuspüren, unter denen etwas Neues produziert wird (schöpferische, kreative Kraft).“ [21] Ästhetischer Bezugspunkt ist für das Schreiben Nelsons hier vor allem die Poesie, wie sie z. B. auch mit Verweis auf ihre Auseinandersetzung mit dem US-Dichter James Schuyler berichtet.

Autofiktion ist bei Nelson wie bei Preciado einerseits ein Aufdecken der das Subjekt des Textes determinierenden Kräfte, die sich sowohl sprachlich als auch physisch manifestieren. Auf der anderen Seite heißt Autofiktion bei Nelson aber auch, der Sprache eine poetische Kraft abzuringen, die dem queeren Subjekt eine nicht paranoide affektive Position in der Welt anbietet. Diese Strategie bezieht sich auch auf den Weltbezug, der sich über Geschlecht und Sexualität ergibt. Für Nelson erweist sich die Transition ihres Partners damit als ein prekäres Projekt, das sie an einem Glücksversprechen misst, dessen Erfüllung nicht gewiss ist. „Und was, wenn du dich, nachdem du die großen äußeren Veränderungen vorgenommen hattest, immer noch unwohl in deinem Körper fühlen würdest und unwohl in der Welt?“ [22] Die reparativen Effekte ästhetischer Strategien werden also auch für den prothetischen Umbau des Körpers beansprucht. Motivation einer Transition ist in ihrer Darstellung anders als bei Preciado kein politisch verstandener Selbstversuch, sondern ein Weg, der auf individuelles Glück hoffen lässt – etwa so wie eine Schwangerschaft? Die Parallelisierung von Schwangerschaft und Testosteronbehandlung funktioniert hier jedenfalls in beide Richtungen: Während die Schwangerschaft in Bezugnahme auf die Transition dekonstruiert wird, wird die female-to-male-Transition am Prozess der Schwangerschaft als einer möglichen Selbsterfüllung gemessen.

Auch wenn sowohl Preciado als auch Nelson die Wandelbarkeit des Körpers zum Ausgangspunkt ihrer Schreibexperimente machen, ergeben sich daraus unterschiedliche soziale und politische Absichten eines queeren autofiktionalen Projekts. Nelsons individualisierende poetische Absicht eröffnet sich in einem imaginierten Raum, den sie sich zunächst ohne Adressaten vorstellt. Zum Bestandteil ihres Verfahrens gehört es, wie sie zu Beginn ihres Textes sagt, „[zu] [l]ernen, im Schreiben niemanden anzusprechen“ [23] . Ein soziales und politisches Verständnis von Diskurs tritt bei ihr in den Hintergrund, um einer intimen Stimme Raum zu verschaffen, die der Besonderheit ihrer Beziehung zu ihrem Partner Harry und ihrem Sohn Iggy gerecht wird.

Preciados Projekt ist weit entfernt von einem solchen Bild einer queeren Kleinfamilie, das auf dem Wege textlicher Poesie auf eine Verwirklichung hinarbeitet. Sexuelle und affektive Begegnung pflastern bei ihm den Weg der Verwandlung des Testo-Ichs. Diese Erfahrungen richten sich aber niemals im intimen Raum der Sprache, Gefühle und Körper ein. Es kommt zu keiner Beruhigung. „Das Schreiben ist der Ort einer heimlichen Sucht und hier ist es auch, wo, zur gleichen Zeit, ein Pakt möglich wird mit Vielen, mit einer Multitude.“ [24] Preciado bejaht die Nichtzugehörigkeit zu seinem Körper ebenso wie die Nichtzugehörigkeit innerhalb der Sprache, die den rauschhaften Antrieb seiner Sprach- und Körperarbeit ausmachen. Nur unter diesen Bedingungen gibt es für ihn die Chance auf soziale und politische Veränderung: „[W]as ich für eine kommende pansexuelle Revolution halte: die Auflösung der sexuellen Identität in einer Multiplizität praktischer und ästhetischer Bedürfnisse, neuer Sensibilitäten, neuer Formen des kollektiven Lebens.“ [25]

Somit zeichnen sich in den gegenwärtigen queeren Schreibweisen zwei sehr unterschiedliche Projekte ab: Während Nelson die Entfremdung gegenüber einer heteronormativen symbolischen Konstruktion des geschlechtlichen und sexuellen Subjekts über eine affektbezogene Körperpolitik kompensiert, wird diese bei Preciado gerade dafür benutzt, die Enteignung geschlechtlicher und sexueller Identität weiter voranzutreiben.

Image credits: 1. Courtesy of the artist and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin; 2. Courtesy of Chi-Wen Gallery, photo: Ivy Tzai; 3. Courtesy of Caio Amado Soares and Chisenhale Gallery, London; 4. Courtesy of the artist and Taylor Macklin, Zürich

Anmerkungen

[1]Vgl. Alex Kitnick, „I, etcetera“, in: October 166 (Fall), 2018, S. 41, 47.
[2]Hervé Guibert, Dem Freund, der mir nicht das Leben gerettet hat, übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel, Reinbek 1992.
[3]Vgl. Kitnick, „I, etcetera“, S. 43.
[4]Vgl. hierzu z. B. die Diskussion von Pastiche und Parodie bei Fredric Jameson, in: Ders., Postmodernism, Or the Cultural Logic of Capitalism, Durham/London 1992.
[5]Paul B. Preciado, Testo Junkie. Sex, Drogen, Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie, Berlin 2016, S. 17.
[6]Nelson, Die Argonauten, S. 108.
[7]Preciado, Testo Junkie, S. 11.
[8]Ebd., S. 356.
[9]Ebd., S. 49.
[10]Vgl. ebd., S. 369.
[11]Vgl. ebd., S. 41.
[12]Ebd., S. 12.
[13]Ebd., S. 11.
[14]Ebd., S. 22.
[15]Nelson, Die Argonauten, S. 62.
[16]Vgl. ebd., S. 144.
[17]Vgl. auch Kitnick, „I, etcetera“, S. 51.
[18]Nelson, The Argonauts, London 2015, S. 113. Die dt. Übersetzung ignoriert diese Stelle. Dort heißt es nur: „Es ist doch immer Verlass darauf, dass der alte, weiße Patrizier die Lady, die da spricht, an ihren Körper erinnert, so dass ja niemandem das wilde Spektakel dieses Oxymorons entgeht: Eine Frau, die denkt.“ (Nelson, Die Argonauten, S. 118).
[19]Nelson, Die Argonauten, S. 14f.
[20]Ebd., S. 126.
[21]Ebd., S. 133.
[22]Ebd., S. 68.
[23]Ebd., S. 10.
[24]Preciado, Testo Junkie, S. 58.
[25]Ebd., S. 90.