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Ein kurzes Glossar zum sozialen Sadismus von Ana Teixeira Pinto und Kerstin Stakemeier

In der heutigen Kunstwelt flirten so manche Künstler*innen nur zu gern mit der Sprache, der Symbolik und den Memes der Alt-Right-Bewegung. Bei einigen von ihnen ist das Koketterie, die viele nicht ernst nehmen. Wenn Menschen sich durch Kunstwerke und Ausstellungen tatsächlich verletzt fühlen und auf den privilegierten Status und die Machtstellung einiger Künstler*innen hinweisen, wird von diesen argumentiert, es handle sich lediglich um eine spielerische Auseinandersetzung, die durch das Recht auf Redefreiheit geschützt sei. Doch so einfach ist es nicht. Eine beliebte Form solcher Kunst besteht in Werken, die als eine Art Trolling auftreten und sich die sozialen Medien zunutze machen, um Kampagnen gegen bestimmte Figuren in der Kunstwelt zu lancieren, die sich solche Anfeindungen zu Herzen nehmen. Natürlich steht dahinter eine Tradition – die durch die Redefreiheit gedeckte Grenzüberschreitung –, und um eine historische Perspektive auf die jüngsten Tendenzen zu gewinnen, geben Ana Teixeira Pinto und Kerstin Stakemeier im Folgenden eine dringend nötige Analyse bestimmter Künstler*innen und Arbeiten, die unter diese Kategorie fallen.

Der Liberalismus ist von jeher durch die Subjekte, die er hervorbringt, als offener Horizont aus Potenzialen (fehl-)gedeutet worden. [1] Seine enttäuschenden Versprechungen führen zur fortgesetzten Produktion und Reproduktion seiner inneren Differenzen, und, damit verbunden, zur Hervorbringung unzähliger illiberalisierter Leben, enteignet und entkapitalisiert inmitten eines Horizonts possessiver Individuation. [2] Die Vermittlung dieser Kluft zwischen projizierter Subjektivität und materieller Unterwerfung bleibt bis heute die vordringliche Aufgabe von Bildung, Kultur und Kunst. In jüngerer Zeit wurde die zeitgenössische Kunst jedoch erneut als Austragungsort epistemischer Kämpfe erprobt, als derjenige Ort, an dem sich diese Kluft verstärkt sichtbar machen lässt und an dem deren materielle Grundlagen und Unlebbarkeiten artikuliert werden. Was von der Whitney Biennale 2017 in Erinnerung bleibt, sind die Interventionen gegen Dana Schutz’ malerische Aneignung der Fotografie des durch grausamen Lynchmord entstellten Leichnams von Emmett Till aus der Zeitschrift Jet. [3] Was von der Whitney Biennale 2019 zurückbleibt, ist vor allem der (erfolgreiche) Streit dafür, den Waffenproduzenten Warren Kanders aus dem Board des Museums zu verdrängen. [4] In den USA haben sich diese Kämpfe um Repräsentationspolitik – unter Beteiligung von Gruppen wie W.A.G.E. oder Decolonize This Place [5] – auf weithin medialisierte Weise abgespielt, während parallel laufende Organisierungsversuche von Künstler*innen und anderen Kulturarbeiter*innen, obwohl ebenso zentral, auf einen weit weniger öffentlich sichtbaren Horizont beschränkt bleiben. Zeitgleich gelang es antifaschistischen Organisationen in Großbritannien, die Schließung der Galerie LD50 zu erzwingen („Shut Down LD50 Gallery“) und diese Auseinandersetzung als erweiterte Plattform zu nutzen, um eine radikale Kritik der Politik zeitgenössischer Kunst zu popularisieren und auch über das Kunstmilieu hinaus Allianzen einzugehen (etwa in Bezug auf die ­Wohnungsfrage). Demgegenüber erscheinen in Deutschland von Künstler*innen geführte Kampagnen, die auf Fragen der Repräsentation abzielen, [6] weithin isoliert und von antifaschistischen ebenso wie gewerkschaftlichen Organisationen grundlegend abgekoppelt, während antikoloniale und antifaschistische Infragestellungen der zeitgenössischen Kunst entweder in den sozialen Medien oder in institutionellen Rahmen, wie etwa dem Haus der Kulturen der Welt, SAVVY Contemporary oder District Berlin, stattfinden – und daher zwangsläufig als kulturell statt als politisch greifbar werden. [7] Eben hierin könnte auch der Grund dafür liegen, dass der aktuelle Widerstand gegen die Repolitisierung der zeitgenössischen Kunst gerade in Deutschland, wo sich viele Positionen um die kategorische Zurückweisung jeglicher Form sozialer Verantwortlichkeit künstlerischer Praxis geschart haben, institutionelles Kapital anhäufen konnte. Was sie eint, ist eine Ablehnung jeder Beschäftigung mit der eigenen Verwicklung in die ständige Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Unterwerfung, eine Ablehnung, die unter dem Deckmantel der „künstlerischen Freiheit“ oder der „Meinungsfreiheit“ antritt. [8] Hierin kommt unserer Ansicht nach ein verletzter Narzissmus zum Vorschein, der nicht in der Lage ist, sich von der genussvollen Einbettung in die zunehmend unter Druck geratene Vorstellung der eigenen liberalen Universalität zu trennen. Während er seine Wunden leckt, fügt er anderen neue zu. Was folgt, ist ein kurzes Glossar zu Figuren des „sozialen Sadismus“, der in die von dieser narzisstischen Kränkung gefeierte „Meinungsfreiheit“ eingelassen ist:

1. Sozialer Sadismus

Anhaltende Abgrenzungsstreitigkeiten und damit einhergehende Panikreaktionen haben viele Künstler*innen und Institutionen dazu verleitet, zur Verteidigung der „Freiheit der Kunst“ oder der „Meinungsfreiheit“ aufzurufen – so z. B. bei der Athen Biennale 2018 („ANTI“) [9] , der geplanten Ausstellung von Boyd Rice in der New Yorker Greenspon Gallery [10] oder der Sommerausgabe des Spike Art Magazine über „Immorality“ –, gegen deren angebliche Bedrohung durch moralistische Dogmen. Der Rekurs auf Freiheit in diesem abgrenzenden Sinne kann mit dem Kampf um Freiheit in einem erweiterten Sinne in Konflikt geraten (und tut dies oft) und so zur Verstärkung politischer Unfreiheit beitragen. Wie Keston Sutherland kürzlich argumentierte, [11] ist „Meinungsfreiheit“ aufs Engste mit der Freiheit verbunden, wo nötig Normen zu überschreiten und dabei möglicherweise andere zu verletzen. Wie sonst könnte die Freiheit ihre Autonomie sichtbar machen? Sutherland zufolge wird bei vielen der leidenschaftlichen Verteidigungen der „Meinungsfreiheit“ die Verbindung zwischen diesen beiden Momenten – entgrenzter Freiheit einerseits, überschreitender Transgression andererseits – „als beiläufiger Zusatz vorgestellt, auf dem jedoch unbedingt bestanden werden muss: Wir können die Meinungsfreiheit nicht bestimmen, ohne sogleich hinzuzufügen, dass das Erregen von Anstoß wesentlich mit ihr verbunden ist oder verbunden sein kann.“ [12] Üblicherweise wird dieses Erregen von Anstoß als ungewollte, aber unvermeidliche Nebenwirkung davon dargestellt, dass man „sagt, wie es ist“. Aus dieser Perspektive ist leicht zu erkennen, wie es, um Sutherland zu paraphrasieren, unter Umständen als moralische und historische Pflicht betrachtet werden könnte, andere Menschen zu verletzen, damit die Rede sich von den Einschränkungen des Anstands befreien kann. Die Logik dieses Arguments lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn das Maß der Freiheit in der transgressiven Überschreitung liegt, dann bemisst sich diese Transgression letztlich anhand des Ausmaßes des Schmerzes, den man jemandem mit ihr zufügen kann.

Statt jedoch die „Redefreiheit“ (oder deren Mangel) zu diskutieren, halten wir es für wichtiger, die Bedingungen zu untersuchen, unter denen der Schmerz anderer zum Maß der eigenen Freiheit wird; wir wollen uns also mit den anhaltenden Versuchen beschäftigen, ästhetische Erfahrung als direkte Fortsetzung solch sadistischer Objektbesetzungen, misszuverstehen, und die sozialen Funktionen in den Blick nehmen, die dies gegenwärtig hat. Wir sind interessiert daran, die Umstände darzustellen, unter denen sich solche Grausamkeit als prinzipientreuer Standpunkt präsentiert, der eine Rhetorik der (Gegen-)Moral – die Verteidigung der „Freiheit“ – für sich nutzbar macht, um mit ihr ein immoralisches Herrschaftsgefüge zu stützen.

Hierfür möchten wir den Begriff des „sozialen Sadismus“ vorschlagen, der nicht einfach nur eine Form der zielgerichteten, investierten Grausamkeit bezeichnen soll: Er umfasst auch die Verdopplung der materiellen Unterwerfungen auf symbolischer Ebene. Privilegiert zu sein, bedeutet immer, das Vorrecht zu haben, den Rahmen der Interaktion zu definieren und zu kontrollieren. Sadistische Beschimpfungen hängen von dem ab, was Gregory Bateson eine komplexere Form des Spiels nannte: Einfach gesagt, müssen sich die Teilnehmer*innen eines Spiels, damit es ein Spiel sein kann, über die Protokolle einig sein, die den Rahmen für ihren Austausch setzen. Edgelords der Kunstwelt, die davon leben, dass sie die Flammen der Kontroversen schüren, erklären ihre Interaktionen gerne zu einem Spiel, während ihre Verhaltensweisen tatsächlich etwas anderes nahelegen. Ihr „Spiel“ basiert nicht auf der Prämisse, dass das, was sie betreiben, tatsächlich ein „Spiel“ ist, sondern sie drehen sich vielmehr um die Frage, ob es wirklich ein „Spiel“ sei: eine Art der Interaktion, deren rituelle Form in Aufnahme- oder Initiationspraktiken besteht. [13]

Athen Biennale 2018, Anzeige / Athens Biennale 2018, Advertisement

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2. Narzisstische Transgression

Der verletzte Narzissmus, der sich oft als „Verteidigung“ der „Kunst“ aufspielt, nährt sich an dem Glauben, er habe ein Recht auf unsere Gegenwart, auf unsere ganze Gegenwart – ein Impuls, der den reißerischen Sentimentalismus von Dana Schutz’ Open Casket (2016) mit der hiervon ansonsten disparaten boshaften Kinderei von Mathieu Maloufs Tankie Meme (2019) verbindet. Während das Vokabular politisch ist, ist die Rhetorik der Akteure häufig persönlich: Dem Selbstbild nach ein Freiheitskämpfer, ist ihre soziale Wirkung letztlich die eines Sadisten. [14] Ihre Freude an Enthemmungen basiert tatsächlich auf der Hemmung anderer. In der Spike Magazine-Ausgabe zu „Immorality“ behauptet der New-York-Redakteur Dean Kissick, dass wir „mehr unmoralische Kunst [brauchen]; schwierige Kunst von Künstlern, die bereit sind, die konventionelle Moral auf irgendeine Weise herauszufordern oder sie einfach zu ignorieren“ [15] . Was Kissick moralisch komplexe Arbeiten nennt, ist nichts anderes als eine Kunst, die systematische Herabsetzungen reproduziert, wenn auch individualisiert und ästhetisiert. Im Weiteren verteidigt er Christoph Büchels Recht, den Schmerz anderer als seine Plattform zu nutzen, und rekurriert dazu auf Georges Bataille und die Gruppe Acéphale – eine militante antifaschistische Geheimorganisation, die 1936 gegründet wurde – sowie auf Pier Paolo Pasolini, den radikalen kommunistischen Filmemacher. Deren historische Praktiken der Überschreitung richteten sich dezidiert gegen die brutalisierenden Kulturen der modernen Herrschaft und deren kolonialen Kern. Wie Michel Foucault in einem Bataille gewidmeten Text ausführte, meint Überschreitung hier, „sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt (genauer vielleicht, sich darin zum ersten Mal zu erkennen), und […] ihre tatsächliche Wahrheit in der Bewegung ihres Untergangs zu erfahren“ [16] . Hier ist die Überschreitung letztlich eine Selbstüberschreitung, die nicht an ihrer Wirkung auf andere gemessen wird, sondern anhand derjenigen Grenzen, auf die man im Prozess der Selbstabschaffung stößt. [17] Die Art von Überschreitung, die die Verfechter*innen der „Freiheit“ feiern, ist hingegen nicht auf eine Selbstabschaffung gerichtet, sondern zielt nach außen, gegen ausgewiesene Ziele. Während Batailles und Pasolinis Verausgabung der eigenen Identität dem Selbst entsagt, entsagt Kissick vielmehr dessen sozialer und historischer Relativierung. Kissicks Angst, „gecancelled zu werden“, [18] ist nichts anderes als die Weigerung – und die Furcht –, seine eigene Position und die der Kunst in demjenigen umfassenderen imperialistischen Kontext zu verstehen, in dem sie ihre Form gewinnt und durch den sie sich immer weiter ausdehnt. Seine Forderung, „die konventionelle Moral einfach auf irgendeine Weise zu ignorieren“, ist letztlich bloß der Versuch, eine tröstliche Amnesie zu etablieren, sich dadurch jeglicher Verantwortlichkeit zu entledigen und einen endlosen Horizont narzisstischer Transgressionen zu schaffen, in dem „die beste Art und Weise, etwas zu sagen, darin besteht, ein geschmackloses Spektakel zu gestalten“ [19] .

Nicht dass in der zeitgenössischen Kunst je ein Mangel an diesem Typus männlicher Performance bestanden hätte. Viele Karrieren – von Santiago Sierra bis Artur Żmijewski – gründeten auf der Verwechslung des „Luxus des Zynismus mit der Rhetorik der Aufrichtigkeit“ [20] . In seinem Artikel „Der Künstler als exemplarischer Alkoholiker“ [21] von 1989 schilderte der Kunstkritiker Wolfgang Max Faust in Bezug auf den seinerzeitigen Meister des „geschmacklosen Spektakels“, Martin Kippenberger, wie „[h]inter Kippenbergers aufgekratzt anarchistischer Oberfläche […] ein Reaktionär sichtbar [wird], der immer wieder dieselben Vorurteile vorführt. Zynismus schlägt um in eine Langeweile, die sich von Gag zu Gag, von Zote zu Zote hangelt.“ [22] Eine solche ästhetische Politik des Zynismus wurde auch für die folgende Generation (männlicher) Künstler charakteristisch, die ihre eigene Coolness in der Erniedrigung anderer entdeckten. Die Erben dieser Form der sadistischen Transgression führten ein beispielhaftes Leben in dem Kunstwelt-Blog Jerry Magoo, auf dem die Künstler Sam Pulitzer und Mathieu Malouf halbanonym ihre Art Observations publizierten. [23] Maloufs analog ausgerichtete Instagram- und Twitter-Profile verliehen solchen Verunglimpfungen zusätzliche Sichtbarkeit, die auch in der Kunst, wenn nicht als Kunst, re-produziert wurden, etwa in Arbeiten von Michael Krebber, Kippenbergers ehemaligem Assistenten, der in seinen C-A-N-V-A-S, Uhutrust, Jerry Magoo, and guardian.co.uk Paintings (2011) Screenshots von Jerry Magoo auf Leinwand übertrug, auf denen er selbst als Referenz auftauchte. [24]

Was die Ü60-Generation dieser Erblinie der Transgression mit ihrem Second Life bei den Ü30 gemein hat, ist das, was Kippenberger einst als Günther Förgs „Beleidigungsprogramm“ [25] bewunderte; ein von Kippenberger in einem Interview triumphierend ausgemaltes systematisches Schikanieren, das sich in Antisemitismus, Homophobie und Misogynie ergeht. Faust schreibt, dass beider Männer „Hang zur Übernahme autoritärer Vorurteile“ schlichtweg das Ausleben einer „‚autoritären Charakterstruktur‘ [ist], die [bereits] Adorno und Horkheimer […] untersucht haben“, deren Kultivierung im Kunstbereich jedoch neu sei. Neu ist sie inzwischen nicht mehr. Der Unterschied heute besteht darin, dass nicht „der Alkohol verzerrt ermöglicht und masochistisch entschuldigt“, [26] sondern die Bullies der Gegenwart völlig nüchtern sind. Und während sie auf ihr eigenes „Beleidigungsprogramm“ genauso stolz sind – einschlägiges Beispiel: Maloufs Ausstellung bei Jenny’s in Los Angeles trug den Titel „#LUKETURNERISRETARDED“ und zeigte das bereits erwähnte Tankie Meme, eine Skulptur, die ein von den Nazis popularisiertes jüdisch-bolschewistisches Klischee wiederholt –, scheint dessen einzige konzeptuelle Geste in dem Versuch zu bestehen, Andy Warhol an Arno Breker anzugleichen. [27] Während Kippenberger und Förg ihre Überschreitungen nicht als Kunst, sondern als private Ausschweifungen präsentierten, verfügen ihre zeitgenössischen Klone über kein Werk, das über diese narzisstischen Transgressionen hinausreichen würde. Vielleicht ist es nicht zuletzt der Irrglaube, der bereits in Krebbers Kunstblogserie aufblitzt, nämlich dass die Fortsetzung der „Beleidigungsprogramme“ von Förg und Kippenberger bis zu Pulitzer und Malouf eine künstlerische Erblinie sei, dem heute entgegenzutreten ist. [28]

Protestaktion gegen Dana Schutz von Parker Bright / Protest against Dana Schutz , „Open Casket (2016)” by Parker Bright, Whitney Biennal, 2017

Protestaktion gegen Dana Schutz von Parker Bright / Protest against Dana Schutz , „Open Casket (2016)” by Parker Bright, Whitney Biennal, 2017

3. Ironischer Nihilismus

Der ironische Nihilismus ist die existenzielle Philosophie der Alt-Right. Diese Tatsache ist so allseits anerkannt, dass sie sich sogar im Urban Dictionary findet. Der ironische Nihilismus ist jedoch auch, und zwar bereits seit einigen Jahrzehnten, eine Standardhaltung der Popkultur. Doch wie jede andere kulturelle Repräsentationsweise ist auch Ironie kontextspezifisch. Die zeitgenössische Ironie muss als wesentlicher Bestandteil einer umfassenderen historischen Entwicklung verstanden werden, in der der Kapitalismus als Weltökologie sich von einer schwachen Utopie zu einer starken Dystopie entwickelte. Wie David Foster Wallace ausführte, reflektiert die Hinwendung zur Ironie eine Verschiebung vom Verständnis der Kunst als kreativer Konkretisierung realer Werte hin zu ihrem Verständnis als kreativer Abweichung fingierter Werte. Doch diese selbstgefällige Feier der eigenen Fähigkeit, Täuschung und Heuchelei zu durchschauen, hat nicht notwendigerweise eine ausschließlich negative Funktion. Jeder jedoch, der eine Ironiker*in fragt, was er oder sie wirklich meint, wird, wie Foster Wallace es formulierte, „am Ende als Hysteriker oder als der letzte Schnösel da[stehen]“ [29] . Dadurch, dass die Ironie in der Lage ist, ethische Fragen zu durchkreuzen, wird die Umkehrung der ihr anhängigen sozialen Funktionen ermöglicht, sodass sie im Aufgeben des Politischen die Herrschaft nicht mehr hinterfragt, sondern sie affirmiert. Ironie bestätigt hier diejenige Ideologie, die sie abzuwerten oder zu ignorieren vorgibt, indem sie jede potenzielle oder vermeintliche Alternative negiert. [30] Davon lebte Jerry Magoo ebenso wie das, was sich heute als – wenn auch brutalisierende und eigennützige – Institutionskritik ausgibt. [31] Diese Form der abgestumpften und bösartigen Ironie dient gleichzeitig einer Individuierung, die Kollektivbildungen verhindert, indem sie das Objekt des (kollektiven) Einsatzes minimiert und gleichzeitig die Selbstzufriedenheit und das Überlegenheitsgefühl des Subjekts maximiert. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Entwestlichung, bei der der Druck auf die modernen Formen privilegierten Lebens wächst, hat dieser ironische Nihilismus eine erneuerte, heftige Intensität erreicht. Für Friedrich Nietzsche war der Nihilismus – der Sparringspartner der Ironie – eine Frage der Wertung, ein zweifelhaftes Kompliment an die Überzeugung. Die Funktion dieses diskursiven Apparates (des ironischen Nihilismus) besteht letztlich darin, die totalisierende Dimension einer weißen Eschatologie (nun einfach ins Negative gekehrt) zurückzugewinnen und Forderungen nach Beseitigung von Ungerechtigkeit abzuwerten und so letztlich wieder eine Trennung entlang rassistischer Stereotype zu befestigen.

4. Überidentifikation, Affirmation, Pastiche, Mimikry

Der rasante Aufstieg der als Alt-Right bekannten Bewegung war eher durch ihre Ästhetik als durch ihre Politik befeuert. Trotz wiederholter Versuche, Allianzen mit der traditionellen extremen Rechten zu schmieden, bleibt die Alt-Right-Bewegung stark im Überbau verhaftet. Das Milieu der zeitgenössischen Kunst erwies sich als besonders empfänglich für dieses schleichende Anwachsen der neuen extremen Rechten, weil einige seiner Konventionen der Formbarkeit und seiner Mittel der Bedeutungsproduktion – wie Ironie, Überschreitung, Überidentifizierung, Affirmation und Pastiche – eben aufgrund ihrer Ambivalenz einen unverkennbaren Nutzen für die Alt-Right-Bewegung haben. Die zeitgenössische Kunst war bisher nur unzureichend in der Lage, die Widersprüche zu erfassen, die sich zwischen dem auftun, was sie zu tun vorgibt, und dem, was sie ungewollt tut, da die oben genannten Mittel und Modi der Ideation sich für diesen Zweck besonders schlecht eignen.

5. Autonomie

Die Kategorie „Kunst“ kennzeichnet in der westlichen Moderne eine Entfremdung der künstlerischen Arbeit von anderen Formen der Arbeit, wodurch sie im Horizont einer sich ständig erweiternden imperialen Grenze zu etwas systematisch Nichtgesellschaftlichem wird. [32] Künstlerische Autonomie ist eine ideologische Kategorie, die ein Element von Wahrheit (die Praxis der Kunst ist nicht vollständig der gesellschaftlichen Praxis assimiliert) mit einem Element von Unwahrheit (die Hypostasierung dieser Tatsache, Ergebnis eines historischen Prozesses, wird als „Wesen“ der Kunst missverstanden) vermischt. Um Nicole Demby zu zitieren: „Dieser Konzeption zufolge ist die formale Entwicklung der westlichen Kunst sowohl teleologisch wie von der Geschichte abgetrennt, das Produkt einer ödipalen Bewältigung oder einer individuellen psychologischen Reaktion oder die Laune eines Genies.“ Es ist dieser Begriff der Kunst, gefeiert als unanfechtbares Reich des kulturellen Ausdrucks, der durch seine fingierte Ahistorizität als Vehikel für einen (il-)liberalen Begriff der absoluten Freiheit fungieren kann. [33]

Das Postulat einer solchen absoluten Freiheit in und von künstlerischen Ausdrucksformen überlässt jedoch das, was als ihr Objekt überlassen wird, einer unausweichlichen Historizität. Um Isabelle Stengers’ Unterscheidung zwischen dem Denken „in major keys“ [34] – das „eine Konvergenz zwischen [seiner] Freiheit und Wahrheit“ [35] voraussetzt – und dem Denken „in minor keys“, das heißt dem Agieren jenseits eines verbindlichen Legitimationsrahmens in veränderlichen „Testerfahrungen“, aufzugreifen, sehen wir in vielen Positionen der zeitgenössischen Kunst die ständige Vermischung des einen mit dem anderen. In Heji Shins Kanye West (2019), einer Reihe von überlebensgroßen Fotodrucken, isoliert die Künstlerin ihr Subjekt, eine aktuelle Pop-Ikone der politischen Reaktion, in einem Ästhetizismus, der West als handlungsunfähigen Melancholiker darstellt. [36] In den meisten der stark kolorierten Drucke posiert West stirnrunzelnd, als wäre er von unerklärlichem Zweifel ergriffen – überdimensionale porträtartige Nahaufnahmen eines ausgehöhlten Musikers, der zu einem kulturellen Signifikanten geworden ist. In einem Interview zu diesen Arbeiten stellt Shin fest: „Ich bewundere in der Kunst nicht gute Manieren oder die ,richtigen‘ politischen Ansichten.“ [37] Und während dies ihre Wahl des Subjekts West rechtfertigen soll, sagt es letztlich mehr über ihre ästhetische Behandlung von ihm als Objekt aus. Shins (ästhetische) Freiheit basiert darauf, West von jeder möglichen ästhetischen „Testerfahrung“ abzutrennen. Dies ist eine aktualisierte Institutionskritik, die sich „in major keys“ einrichtet: West wird als das Objekt von Shins Wahrheit gefasst, als ein historisches Opfer, das ihrer Freiheit dargebracht wurde.

Texte zur Kunst, Artikel: „Micaela Durand über Heji Shin bei Real Fine Arts, New York”  (Heft 105), „Jakob Schillinger über Sam Pulitzer im Artists Space, New York" (Heft 95), „Karlheinz Lüdeking über Mathieu Malouf in der Galerie Lars Friedrich, Berlin (Heft 88), Bilderstrecke: Mathieu Malouf, "Untitled (Apology to David Joselit)“ (Heft 98) / “Micaela Durand on Heji Shin at Real Fine Arts, New York,” (issue 105), “Jakob Schillinger on Sam Pulitzer at Artists Space, New York,” (issue 95), “Karlheinz Lüdeking on Mathieu Malouf at Lars Friedrich, Berlin,” (issue 88), Image Spread: Mathieu Malouf,  "Untitled (Apology to David Joselit),” (issue 98)

Texte zur Kunst, Artikel: „Micaela Durand über Heji Shin bei Real Fine Arts, New York” (Heft 105), „Jakob Schillinger über Sam Pulitzer im Artists Space, New York" (Heft 95), „Karlheinz Lüdeking über Mathieu Malouf in der Galerie Lars Friedrich, Berlin (Heft 88), Bilderstrecke: Mathieu Malouf, "Untitled (Apology to David Joselit)“ (Heft 98) / “Micaela Durand on Heji Shin at Real Fine Arts, New York,” (issue 105), “Jakob Schillinger on Sam Pulitzer at Artists Space, New York,” (issue 95), “Karlheinz Lüdeking on Mathieu Malouf at Lars Friedrich, Berlin,” (issue 88), Image Spread: Mathieu Malouf, "Untitled (Apology to David Joselit),” (issue 98)

6. Das (Un-)Darstellbare

Während der gesellschaftliche Druck gegenüber diesen modernen Formationen anwächst, begegnen uns immer häufiger privilegierte randalierende Subjekte, die in der Öffentlichkeit Amok laufen, da sie spüren, dass ihre Selbstdarstellungen nicht mehr die Legitimität und Autorität erlangen, die sie einst allein aufgrund ihrer Entsprechungen liberaler Ideale innehatten (sprich: den Besitz eines national sanktionierten, „gesunden“ Cisgender-Körpers), und die beginnen, jedwede Abweichung von ihrer Norm, die in ihr Blickfeld gerät, zu attackieren. In seinem Beitrag zur Spike Magazine-Paneldiskussion zu „Cancel Culture“ sagt Malouf, dass er eigentlich nicht verstehe, wie Freiheit Unterdrückung reproduzieren würde, da „Freiheit etwas Neutrales ist, an der sich jeder, der sie hat, erfreut“ [38] . Unbekümmert oder ignorant gegenüber dem, was unsichtbar bleiben muss, damit diese „Freiheit“ ihre Hegemonie wahren kann, scheint der Künstler unfähig zu sein, zu verstehen, inwiefern „Freiheit“ das grundlegende Phantasma einer Form der Subjektbildung ist, die ganze Gesellschaften zerstört hat, um diese Freiheiten zu erzwingen.

Solche kulturalisierten Episteme der kontinuierlichen Mutationen des modernen Lebens (um den Begriff Fortschritt hier zu vermeiden) operieren unter der Maßgabe, sich ständig von der rassistischen Ontologie abzugrenzen, die gewaltsam jenen angehängt wird, die den enteignenden Unterwerfungen des Liberalismus zum Opfer fallen. David Lloyd zufolge „scheint jede Annäherung an das Subalterne vom Gespenst der Gewalt heimgesucht zu werden“ [39] . Die Machtlosen und Marginalisierten erscheinen, so Lloyd, aufgrund ihrer Undarstellbarkeit innerhalb der Kategorien der Repräsentation nicht einfach als gewaltsam oder als in Gewalt verfangen, sondern als Gewalt, als „verlorenes Objekt der Repräsentation“ – als eine genuin illiberalisierte Individualität. Durch Repräsentationspolitik wird der privilegierte Bereich des liberalen Lebens geschützt und als Widerstand * gegen diese Gewalt legitimiert: Das unendliche Potenzial, das seiner liberalen *Humanität zugeschrieben wird, setzt sich somit fort, trotz der Transgressionen, die diese systematisch – und, wie in den genannten Fällen, individuell – bewirkt. Aimé Césaire und Frantz Fanon hatten diese Tatsache bereits als die Dynamik der Entmenschlichung im Kern der Subjektivität des Kolonisierenden identifiziert, [40] als Kern der Genozide, der Verelendung und des unaufhörlichen Raubbaus durch die Modernisierung. Die eklatante Entpotenzialisierung, die tödliche Banalität, die, um erneut Lloyd zu zitieren, den „disjunktiven“ [41] Leben angehängt wird, die gegenüber „einem Subjekt, das repräsentativ ist“, [42] verloren sind, stützen einen höchst selektiven Humanismus, der durch die Fähigkeit seiner Subjekte gekennzeichnet ist, „Subjektheit als solche“ [43] individuell zu repräsentieren. Das Beharren auf dem ererbten Privileg, als diese „Subjektheit als solche“ auftreten zu können, durchzieht die oben genannten Beispiele. Subjekte, deren Rationalität, Robert Hullot-Kentor zufolge, „Wahrheit nur dadurch ermittelt, dass sie das Wissen von dessen Objekt trennt“, [44] die sich daher für die Gewalt, die sie zufügen, als nicht mehr verantwortlich erklären. Dieser (selbst-)enthumanisierende Kern des modernen Humanismus schuf ein Subjekt, dessen Isolation ebenso eine Funktion seines Privilegs ist, wie es durch es selbst destabilisiert wird: Ein Subjekt, dessen aufgeblasene und dennoch haltlose Selbstdarstellung in einer Art Paranoia des Besitzes zerfällt, heimgesucht von der ständigen Angst, ununterscheidbar von seinen Objekten zu werden. Diese aufgeblähten Subjektivitäten können immer noch darauf zählen, dass öffentliche Formen der Repräsentation im politischen und kulturellen Diskurs zu ihren Gunsten aufgewandt werden, wie etwa im Fall der Athen Biennale „Anti“, die einem völlig undialektischen Spiel der Transgression zwischen Gesetzgebung und Gesetzesbruch gewidmet war: losgelöst von Politik oder Geschichte wurden hier diejenigen, die die Transgression erleiden, und diejenigen, die sie ausüben, ästhetisch ununterscheidbar.

Texte zur Kunst, Artikel: „Sven Lütticken: Zur Gegenwärtigkeit Günther Förgs” (Heft 108), „Isabelle Graw befragt Julia Gelshorn, Sebastian Egenhofer, Fiona McGovern und Chris Reitz zur Aktuellen Rezeption Martin Kippenbergers” (Heft 90), „Sabeth Buchmann und Isabelle Graw: Kritik der Kunstkritik” (Heft 113) /  “Sven Lütticken: On the Contemporaneity of Günther Förg,” (issue 108),“Isabelle Graw asks Julia Gelshorn, Sebastian Egenhofer, Fiona McGovern, and Chris Reitz about the current reception of Martin Kippenberger,” (issue 90), “Sabeth Buchmann and Isabelle Graw: The Critique of Art Criticism,” (issue 113)

Texte zur Kunst, Artikel: „Sven Lütticken: Zur Gegenwärtigkeit Günther Förgs” (Heft 108), „Isabelle Graw befragt Julia Gelshorn, Sebastian Egenhofer, Fiona McGovern und Chris Reitz zur Aktuellen Rezeption Martin Kippenbergers” (Heft 90), „Sabeth Buchmann und Isabelle Graw: Kritik der Kunstkritik” (Heft 113) / “Sven Lütticken: On the Contemporaneity of Günther Förg,” (issue 108),“Isabelle Graw asks Julia Gelshorn, Sebastian Egenhofer, Fiona McGovern, and Chris Reitz about the current reception of Martin Kippenberger,” (issue 90), “Sabeth Buchmann and Isabelle Graw: The Critique of Art Criticism,” (issue 113)

7. „Es ist nicht rassistisch, weil ich es nicht so meine!“

Variationen dieser Art von Aussage werden derzeit mit ermüdender Beharrlichkeit wiederholt und verweisen auf eine sozial entfremdete Psychologie, unbeschwert von Jahrhunderten der Unterdrückung – eine psychologische Konstitution, die ihre Inhalte als ihren Privatbesitz beansprucht und die Versuche, ihre Bedeutungen zu situieren, als eine Form der Grenzüberschreitung ansieht, als Gewalt gegen die Unantastbarkeit ihres individuellen Ausdrucks. Für jene, die alles haben können, erscheint die Vorstellung, dass etwas, auch nur irgendetwas, tabu sei, dass etwas nicht als Rohmaterial oder als auszubeutende Ressource verwendet werden könne, wie eine Form der Unterdrückung. In kaum einer der Erwiderungen auf Hannah Blacks offenen Brief gegen die Ausstellung von Open Casket [45] wurde dieser als politische Intervention behandelt. Stattdessen gab es vielmehr die beinahe einhellige Zurückweisung von Blacks Forderung nach Kontextualisierung, nach einem Verständnis der Subjekte der Kunst als materielle Beispiele eines sozialen Bewusstseins. Hier, im Augenblick ihrer historischen Abdichtung, nähert sich die Vorstellung der künstlerischen Autonomie der kolonialen Siedlerpsychologie, um gewaltsam gegen die auszuteilen, die von jener zuvor ihres Eigentums und ihrer Würde beraubt wurden, weil sie den Wunsch äußern, dass ihre Grenzen respektiert werden.

8. Ironischerweise

ist der Einsatz der eigenen Identität als Waffe, um sich in eine unangreifbare Position zu bringen, die Strategie der Wahl von jenen, die die „Identitätspolitik“ anprangern.

9. Paranoide Ideation

Forderungen nach ästhetischer und sozialer Verantwortlichkeit, die sich an diese Arbeiten richten, werden hartnäckig entweder als „moralistisch“ (sprich: soziales Gewissen) oder als „persönliche Hexenjagd“ (sprich: persönliche Verantwortlichkeit) verunglimpft. Dementsprechend bestehen die Erwiderungen zumeist in Gesten der Selbstviktimisierung: einer scheinbaren Unfähigkeit, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dafür infrage gestellt zu werden, sich auf „major keys“ zu beziehen, um sich selbst als „minor“ darzustellen. Eine andere Teilnehmerin des bereits erwähnten Panels zur „Cancel Culture“, die Autorin Nina Power – eine ehemals über viele Jahre organisierte Linke –, verschreibt sich nun ebenfalls derartigen Strategien. Kritiken am renaturalisierten Konzept der Weiblichkeit, das sie neuerdings verficht, werden als Angriffe auf sich als „Frau“ [46] zurückgewiesen und somit verschoben. Dadurch immunisiert sich Power gegen jede Forderung nach sozialer oder politischer Verortung. [47] Hullot-Kentor hat solche aggressive Entleerung der eigenverantwortlichen Subjektivität zuletzt in der Figur Donald Trumps ausfindig gemacht: „Es findet kein Denken statt, nur die verkündete Selbstverständlichkeit der eigenen Vorrangstellung und eine geheuchelte Bescheidenheit, die den Angriff vorübergehend hinausschiebt. Der Sprecher ist selbstlos […], in überladener Selbstreferenz ist er unfähig zur Selbsterkenntnis.“ [48] Wir sehen die rachsüchtigen Handlungen eines Subjekts „Auge in Auge in dem Spiegelsaal, den er ganz allein bewohnt […], dieser ‚Loser‘, der in einer virtuellen Welt lebt und dem es letztlich ums Heimzahlen geht“ [49] , Statt ihre Position mit Argumenten zu vergesellschaften, sehen wir in diesen Fällen die Aufführung einer paranoiden Subjektivität. In Jon Rafmans brutal misogynem Dream Journal (2016–17), [50] das europaweit in Galerien, auf Biennalen und Kunstmessen und in Institutionen ausgestellt wurde, finden wir uns in einer digitalen Welt, die von einem verbitterten Geek bewohnt wird. Als wäre er der Welt selbst beraubt worden, ist er darauf fixiert, es den pornografisierten weiblichen Figuren „heimzuzahlen“, die gegen ihn gerichtet zu sein scheinen und daher, wenn auch negativ, nur für ihn existieren. Auch hier wirkt es, als würde ein Mangel (an Empathie) als Exzess (an Verfolgung) erlebt, unfähig, sich auf bedeutungsvolle Weise anders mit der Gegenwart zu verbinden als durch eine Scharade von Selbstablenkungen und Ressentiments. So oder so gelingt es dieser überreizten Selbstdarstellung nicht, irgendeine bedeutungsvolle – ästhetische oder andere – Bewegung hervorzubringen, die eine Abkehr von derjenigen Wunschpsychologie ankündigen könnte, die der neoliberalen Matrix zugrunde liegt.

Übersetzung: Robert Schlicht

Anmerkungen

[1]Zum Illiberalismus des Liberalismus vgl. etwa Erik Swyngedouw, „The Perverse Lure of Autocratic Postdemocracy“, in: South Atlantic Quarterly, 118(2), 2019, S. 267–286.
[2]Vgl. etwa Jared Sexton, Amalgamation Schemes. Antiblackness and the Critique of Multiracialism, Minneapolis 2008.
[3]Vgl. etwa Aruna d’Souza, „Who Speaks Freely?“ (Mai 2018), online unter: https://www.theparisreview.org/blog/2018/05/22/who-speaks-freely-art-race-and-protest/.
[4]Vgl. Hrag Vartanian, „After Kanders“ (Oktober 2019), online unter: https://hyperallergic.com/521412/after-kanders-podcast/
[5]Vgl. https://www.artforum.com/slant/a-statement-from-hannah-black-ciaran-finlayson-and-tobi-haslett-on-warren-kanders-and-the-2019-whitney-biennial-80328.
[6]Vgl. Soup du Jour (Berlin), https://twitter.com/sdjcollective.
[7]Dies war nicht immer so. Vgl. etwa Art in Ruins, Stephan Geene, Büro Bert, Projekt Trap, Kunst-Werke Berlin e.V. (April–Juni 1993), Messe 2ok (Köln, 1995) oder die Gruppe Rosa Perutz (Berlin, 2008–12).
[8]Vgl. etwa Saidya Hartman, Scenes of Subjection, Oxford 1997.
[9]Vgl. Ana Teixeira Pinto, Roee Rosen, „‚You are Right But I Disagree!‘ An email exchange on current issues of artistic and curatorial freedom“, in: Springerin, 2, 2019: „Illiberal“, online unter: https://www.springerin.at/en/2019/2/du-hast-recht-aber-ich-sehe-das-anders/.
[10]Vgl. https://www.artforum.com/news/after-backlash-greenspon-gallery-scraps-show-by-alleged-neo-nazi-boyd-rice-76547.
[11]Keston Sutherland, „Free Speech and the ‚Snowflake‘“ (April 2019), online unter: https://www.metamute.org/editorial/articles/free-speech-snowflake.
[12]Ebd.
[13]Vgl. John Durham Peters, „U Mad?“, Logic, 6, 2019: „Play“, online unter: https://logicmag.io/play/u-mad/.
[14]Vgl. Gilles Deleuze, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, in: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Mit einer Studie zum Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt/M. 1980, S. 176, wo er zwischen dem „sadistischen ‚Schulmeister‘“ und dem „masochistischen ‚Erzieher‘“ unterscheidet. 2015 charakterisierte China Miéville "sozialen Sadismus" in einem Text für das online Journal Savage, as "bewusste, gut angelegte, öffentliche oder zumindest halb-öffentliche Grausamkeit" und beschrieb weiter wie diese Form von "Surplus Grausamkeit" alle Beispiele dessen durchzieht was in neoliberalen Gesellschaften Kultur genannt wird: Vgl. https://salvage.zone/in-print/on-social-sadism/
[15]Dean Kissick, „The Art We Deserve“, in: Spike Art Magazine, 60, 2019, S. 48.
[16]Michel Foucault, „Vorrede zur Überschreitung“, in: Dits et Ecrits. Bd. 1, Frankfurt/M. 2001, S. 320–342, hier: S. 325.
[17]In Batailles und Pasolinis Fall eine Verpflichtung, die sich ausschließlich der hartnäckigen Auseinandersetzung mit den abgründigen Konsequenzen ihrer eigenen ungewollten, jedoch unausweichlichen Komplizenschaft mit der Gesellschaft, die sie bekämpften, widmet.
[18]Dean Kissick, „The Art We Deserve“, S. 48.
[19]Ebd., S. 50.
[20]Stephen Squibb, „Santiago Sierra’s ‚NO, Global Tour‘“, Art-Agenda, 6. Juli 2012.
[21]Publiziert in der Frankfurter Zeitschrift Wolkenkratzer Art Journal.
[22]Wolfgang Max Faust, „Der Künstler als exemplarischer Alkoholiker“, in: Wolkenkratzer Art Journal, 3, 1989, S. 21.
[23]See “MUD CLUB: Jakob Schillinger on Sam Pulitzer at Artists Space, New York,” in: Texte zur Kunst, 95, 2014, p. 227f.
[24]See Antek Walczak, “Michael Krebber’s ‘C-A-N-V-A-S, Uhutrust, Jerry Magoo, and guardian.co.uk Paintings’ at Greene Naftali October 20–November 19, 2011,” https://www.art-agenda.com/features/233110/michael-krebber-s-c-a-n-v-a-s-uhutrust-jerry-magoo-and-guardian-co-uk-paintings.
[25]Faust, „Der Künstler als exemplarischer Alkoholiker“, S. 20.
[26]Ebd., S. 21.
[27]Der Titel „Tankie Meme“ spielt auf die im Englischen verwendete antikommunistische Beleidigung „Tankie“ an.
[28]In Fällen wie Lars Friedrich etwa, Maloufs Berliner Galerie, wird seine Position nicht nur neben ähnlich denkenden Künstlern wie Pulitzer präsentiert, sondern auch neben jenen, deren Praktiken, wie die von Georgie Nettel oder Georgia Sagri, innerhalb der Linie einer gesellschaftlich ausgerichteten Institutionskritik diskutiert werden könnten.
[29]David Foster Wallace, „E Unibus Pluram. Fernsehen und Literatur in den USA“, in: Der Spaß an der Sache. Alle Essays, Köln 2018, S. 231–300, hier: S. 286.
[30]Vgl. auch Claire Colebrook, „The Meaning of Irony“, in: Textual Practice, 14(1), 2000, S. 5–30.
[31]Vgl. Schillingers oben zitierte Besprechung von Sam Pulitzers Schau im Artist’s Space von 2014.
[32]Zu diesem Kontext vgl. etwa Anselm Franke/Tom Holert (Hg.), Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930, Zürich/Berlin 2018.
[33]Nicole Demby, „Art, Value, and the Freedom Fetish“, Mute Magazine, 28, 2015), online unter: https://www.metamute.org/editorial/articles/art-value-and-freedom-fetish-0.
[34]Astrid Deuber-Mankowsky, „Die Wahrheit des Relativen in der Krise der Fake News“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 19, 2018: Klasse/Faktizitäten, S. 29–41, hier: S. 33.
[35]Ebd.
[36]Zu Wests politischer Positionierung vgl. Ashon ­Crawley, „Forgotten. The Things we lost in Kanye’s Gospel Year“ (Oktober 2019), online unter: https://www.npr.org/2019/10/23/771864891/forgotten-the-things-we-lost-in-kanyes-gospel-year?t=1572174605358.
[37]Siehe Alex Greenberger, „I don’t Admire Good Manners“ (Februar 2019), online unter: http://www.artnews.com/2019/02/01/heji-shin-kunsthalle-zurich-kanye-west/.
[38]See Round Table Cancel Culture, Spike Art Magazine, 60, 2019, S. 73.
[39]David Lloyd, Under Representation. The Racial Regime of Aesthetics, Fordham 2018, S. 77f.
[40]Vgl. Fadi A. Bardawil, „Césaire with Adorno. Critical Theory and the Colonial Problem“, in: South Atlantic Quarterly, 117 (4), 2018: „The Authoritarian Personality“, S. 773–789, hier: S. 777f.
[41]Lloyd, Under Representation, S. 99.
[42]Ebd., S. 106.
[43]Ebd.
[44]Robert Hullot-Kentor, „Metric of Rebarbarization. Real Time in The Authoritarian Personality“, in: South Atlantic Quarterly, 117(4), 2018: „The Authoritarian Personality“, S.721–756, hier: S. 722.
[45]Vgl. https://blackcontemporaryart.tumblr.com/post/158661755087/submission-please-read-share-hannah-blacks.
[46]Vgl. den Podcast, den Power zusammen mit DC Miller und Justin Murphy unter dem Titel „Hate Speech, Feminism & Paganism“ aufgenommen hat, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=yvUcO8sQZSI.
[47]Zusammen mit Daniel C. Miller, der seinen eigenen Worten zufolge vor allem dafür bekannt ist, dass er „gegen eine Kampagne von […] antifaschistischen Aktivisten protestiert hat, die die Londoner Kunstgalerie LD50 bekämpfte“, unternahm Power einen nächsten Schritt und startete den Versuch, per Crowdsourcing Geld zu akquirieren, um den Künstler Luke Turner dafür zu verklagen, dass er Miller als Faschisten bezeichnet hatte, indem er dessen Äußerungen und Aktionen mit deren politischen Implikationen in Zusammenhang stellte. Vgl. https://www.crowdjustice.com/case/dc-millers-case/.
[48]Hullot-Kentor, „Metric of Rebarbarization“, S. 725.
[49]Ebd., S. 726.
[50]Vgl. http://www.spruethmagers.com/exhibitions/457.

Titelbild: William Henry Margetson, "Henry Irving als Mephistopheles und George Alexander als Faust in ,Faust`von W.G. Wells, nach Goethe", 1885 / "Henry Irving as Mephistopheles and George Alexander as Faust in ,Faust`by W.G. Wells, adapted from," Goethe, 1885