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Supernature Amanda Schmitt im Gespräch mit Loretta Fahrenholz, Madeline Hollander und Monica Mirabile

Das Böse lauert im Hintergrund der meisten Horrorfilme, ein Genre, das in den letzten Jahren immer ausgefeilter geworden ist und die Untoten oder Besessenen mit komplexen Choreografien zum Leben erweckt. Auch Fans müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass die für den Horrorfilm – vom Slasher-Streifen bis zu Filmen mit übernatürlichen Phänomenen – typischen Spektakel seit jeher auf einem gewissen Chauvinismus beruhen; der weibliche Körper wird äußerster physischer Zwangsgewalt bis hin zu Folter und Verstümmelung unterworfen. Jüngst sind mehrere neue Horrorfilme in die Kinos gekommen, in denen es um ausgefallene Formen dysmorpher Störungen geht, wiederum bei Frauen. Amanda Schmitt setzte sich mit zwei Choreografinnen und einer experimentellen Filmemacherin zusammen, um über diese Filme und deren Bedeutung für die Geschichte der Folter des weiblichen Körpers im Film zu diskutieren. Das Gespräch bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen auf Gesten und Bewegungen, die in durchdachten Arrangements für die Leinwand übersetzt werden.

Diese Gesprächsrunde bringt drei Künstlerinnen – Loretta Fahrenholz, Madeline Hollander und Monica Mirabile – zusammen, um über zwei Filme zu diskutieren, die im vergangenen Jahr in die Kinos kamen: Luca Guadagninos Remake des Kultklassikers Suspiria (der von Thomas De Quinceys Essay aus dem Jahr 1845 inspiriert ist und 1977 unter der Regie von Dario Argento verfilmt wurde) und Jordan Peeles origineller Hollywood-Blockbuster Us. Beide Filme haben etwas gemeinsam: Sie setzen Choreografie als Thema und Technik ein, um den (oftmals weiblichen) Körper in grauenvollen Zuständen zu zeigen. Im Gespräch mit der Kuratorin Amanda Schmitt nehmen die Künstlerinnen die drei Rollen der Filmemacherin, Choreografin und Tänzerin ein, die im Verlauf der Diskussion untersucht werden. Fahrenholz ist Filmemacherin und Regisseurin zahlreicher Filme mit dokufiktionalen Figuren, darunter auch Tänzer*innen; Mirabile ist Tänzerin und die eine Hälfte des kooperativen Performance-Duos FlucT; Hollander ist Tänzerin und Choreografin und hat in Peeles Filmcrew als Choreografin und Bewegungsregisseurin an Us mitgewirkt.

AMANDA SCHMITT: Ihr drei arbeitet als Filmemacherin (Loretta Fahrenholz), als Tänzerin und Choreografin (Monica Mirabile) und in einem Fall als Künstlerin, die als Choreografin und Bewegungsregisseurin am Set von Jordan Peeles Us mitgewirkt hat (Madeline Hollander). Sprechen wir also über ein Genre, das in Mode gekommen ist und in dem die radikale Verdrehung, Deformation und Entstellung des Körpers als symbolisches Mittel dient, um eine kollektive Psychose nach der Jahrtausendwende (und vielleicht auch nach #MeToo) aufzuzeigen. Extreme körperliche Ausdrucksformen werden dabei als eine Art Katharsis eingesetzt. In beiden Filmen haben die Regisseure Choreograf*innen engagiert, um mit ihren Tänzerinnen/Schauspielerinnen eine Körpersprache zu entwickeln, die im Medium des weiblichen Körpers die Psyche als eine zerbrochene Form interpretiert. In Beispielen gibt es erschreckende Bilder von Frauen, die innerlich besessen, von inneren Kräften deformiert und zu monströsen Taten fähig sind.

LORETTA FAHRENHOLZ: Mich hat an den neuen Filmen beeindruckt, wie der Körper und die Bewegungen des Körpers die Sprache und den Plot ersetzen. Diese Filme werden nicht von einer „guten Story“ getragen, sondern von Körpern, die innerhalb einer sehr losen Erzählstruktur kollektiven Schrecken, Konflikte und Entfremdung transportieren wie in einer neuen Stummfilm-Ära.

MADELINE HOLLANDER: Am Anfang von Us sieht man eine Rückblende, in der die Protagonistin des Films, Adelaide, eine traumatische Kindheitserfahrung macht. Nach diesem Vorfall hört das junge Mädchen auf zu sprechen, und ihre besorgten Eltern bringen sie zu einem Therapeuten. Er rät ihnen, dass das Kind Tanzunterricht nehmen solle, um eine alternative Ausdrucksweise zu fördern. Mich interessiert als Choreografin nicht, wie Tanz als solcher eine Form von Kommunikation sein kann, sondern wie all unsere Bewegungen – wie wir (im Alltag) gehen, uns bewegen, gestikulieren und auftreten – all die Dinge widerspiegeln, die wir nicht aussprechen oder nicht aussprechen können: das, was verdrängt ist.

SCHMITT: Madeline, du hast als Choreografin und Bewegungsregisseurin unmittelbar an Peeles Us mitgewirkt. In diesem Film wird eine vierköpfige amerikanische Mittelschichtsfamilie auf gewaltsame und verstörende Weise mit einer anderen vierköpfigen Familie konfrontiert, die ihr auf unheimliche und erschreckende Weise ähnelt – als ihre verkommenen Doppelgänger. Deine Arbeit bestand nicht nur darin, am Ende des Films eine ikonische, schockierende Tanzszene (zu Tschaikowskys „Pas de deux“ aus dem Ballett Nussknacker) zu choreografieren; du hast auch die Körperbewegungen aller Figuren im Verlauf des gesamten Films choreografiert. Wie hast du die Erzeugung dieses subtilen Horrors in jeder Figur mit Peele diskutiert?

HOLLANDER: Wir haben viel über das Unheimliche gesprochen und darüber, wie man daran feilen kann, etwas Normales in etwas Erschreckendes zu transformieren. Eine meiner wichtigsten choreografischen Techniken besteht darin, die Aufmerksamkeit auf die differenzierten, einzigartigen Bewegungen aller Beteiligten zu lenken und das Unbewusste daran zu erhellen. Daraus wird dann ein choreografischer Mechanismus: Wenn ich einen Bewegungsablauf mit Tänzer*innen (oder einem anderen beweglichen Objekt) in Gang setze, beispielsweise ein einfaches Bewegungsmuster oder eine Tanzsequenz, kommen diese durch ständige Wiederholung zwangsläufig in eine „Autopilot“-Phase, und dann treten irgendwann Störungen auf. Diese Störungen sind unvorhersehbar und höchst kreativ.

SCHMITT: Diesen Aspekt des Technischen finde ich interessant, vor allem im Hinblick auf aktuelle Tendenzen und Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz, wo die Kompetenzen nicht mehr unbedingt im Bereich traditionellerer Formen von Anmut oder Beweglichkeit liegen, sondern im technischen Bereich und teilweise sogar im Bereich digitaler Technologien.

Loretta, du hast 2013 den Film Ditch Plains herausgebracht, für den du mit dem Tänzer und Choreografen Corey Batts zusammengearbeitet hast. In dieser Dokufiktion folgst du Corey und den Mitgliedern seiner Ringmasters Crew, einer ausschließlich männlichen, Schwarzen Tanzgruppe, mit der Kamera durch dystopische Traumlandschaften in New York City. Du hast diese Tänzer wegen ihres Tanzstils ausgesucht, den sie Ende der Nullerjahre entwickelt haben und der mit bone breaking oder flexing arbeitet; dabei verdrehen und verzerren sie ihren Körper auf gewaltsam wirkende, aber technisch behutsame Weise. Wie bist du filmisch an die Zusammenarbeit mit Batts und seiner Truppe und an ihre Choreografien herangegangen?

FAHRENHOLZ: Oft stammen Ideen aus Science-­Fiction-Filmen wie Matrix, oder die Tänzer verkörpern Alter Egos bestimmter Charaktere, wie z. B. den Joker. Die Tänze entstehen meistens während des Filmens. Sie existieren also nur in Verbindung mit der Kamera und den Bewegungen und Effekten des Objektivs. Störungen, Verzerrungen und Tempowechsel werden nicht in der Postproduktion hinzugefügt, sondern in enger Verbindung mit der Technologie in Körperbewegungen übersetzt. Die Ringmasters haben mir erklärt, dass ihr Körper von einer bestimmten Energie bewegt wird und dass eigentlich diese Kraft die Bewegungen erzeugt. Es geht dabei nicht unbedingt um Improvisation, sondern um etwas, das esoterischer ist.

MONICA MIRABILE: Als zeitgenössische Choreografin kann ich mich heute so mechanisch bewegen und mechanisch denken, wie es Choreograf*innen des 20. Jahrhunderts nicht möglich war. Wenn ich beispielsweise in meinem Studio – am Computer – arbeite, sehe ich mir oft Aufzeichnungen eines Tanzes an und bewege meinen Körper (oder den Körper der Tänzer*innen) im iMovie-Playback vorwärts und rückwärts.

SCHMITT: Wir könnten also untersuchen, wie Choreograf*innen bestimmte Muster erzeugen und warum Störungen entstehen, wenn Tänzer*innen von einem Muster abweichen – Störungen, die schließlich zum Unheimlichen führen.

Luca Guadagnino, „Suspiria“, 2018, Filmstill / film still

Luca Guadagnino, „Suspiria“, 2018, Filmstill / film still

HOLLANDER: Ich glaube, es gibt noch viel mehr darüber zu sagen, wie sich die Ästhetik des Unheimlichen in den vergangenen zehn Jahren durch neue Technologien und Social Media verändert hat. Das hängt unmittelbar mit Bewegungen im Hinblick auf Erwartungen und Antizipation zusammen und damit, was passiert, wenn man sieht, wie Tänzer*innen etwas tun, was einen aus dem Gleichgewicht bringt – etwas, das man nicht vorhersehen konnte. Es gibt z. B. diese Szene in Us, wo die Charaktere über der Erde in einem Vergnügungspark sind und das Verhalten der Charaktere unter der Erde (die an ihre Pendants gekoppelt sind) widerspiegeln. Die Figuren über der Erde machen zusammen eine Achterbahnfahrt. Unter der Erde werden die anderen als Gruppe zusammengequetscht wie in einer Sardinenbüchse. Sie lehnen sich zurück, schleudern die Arme hoch und imitieren den Akt des Schreiens, obwohl sie keinen Ton von sich geben. Ich habe wirklich nur etwas aus dem realen Leben übernommen und dann die wichtigsten Elemente entfernt. Das macht es vielleicht so verstörend, weil die Synchronizität zwischen Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung, Verhalten und Sound aufgehoben ist.

SCHMITT: Das ist womöglich auch das Schockierende und affektiv Aufrüttelnde an den Tänzern in Ditch Plains: Sie verdrehen ihre Körper so extrem, dass man sich anfangs nicht richtig vorstellen kann, wie sie das eigentlich machen.

FAHRENHOLZ: Ein Tanzstil wie bone breaking, bei dem die Gelenke aus- und wieder eingerenkt werden, setzt den Körper ganz realen Schmerzen und Verzerrungen aus.

SCHMITT: Die Tänzer*innen gehen körperlich so an ihre Grenzen, dass es das Menschenmögliche scheinbar übersteigt. Beim Tanz geht es in vieler Hinsicht um Schmerz. In Suspiria oder Us zeigt sich das an der Figur der Ballerina. In diesen Filmen werden Balletttänzerinnen zwar explizit gefoltert, aber beim Training von Ballerinen – oder anderen Extremsportler*innen – geht es grundsätzlich oft um die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten. Die Vorstellung von Schmerz als Ermächtigung ist natürlich auch mit der Machtdynamik im Sadismus und Masochismus verknüpft, und in den beiden Filmen ist der Schmerz oft eine heftige Reaktion auf Unterdrückung. Die Charaktere wurden von einer immateriellen Kraft unterdrückt, die sie verinnerlicht haben. Wir sehen also keinen ideologischen Kampf, sondern vielmehr die inneren Widersprüche des Subjekts in Form von Verdrehungen und Verzerrungen.

MIRABILE: So ist es! Auch wenn sich die Geschichte des Körpers hinter erlernten Verhaltensweisen versteckt, gibt es immer Nahtstellen, und diese Nähte brechen oft auf. Der Körper reagiert immer! Durch erlernte Verhaltensweisen werden unsere Reaktionen auf Unterdrückung unsichtbar, aber das Übel hat immer eine Wurzel, und oft hängt es damit zusammen, wie jemand von einem anderen in der hierarchischen Machtstruktur, die wir alle kennen, behandelt worden ist: Wer oben ist, ruht sich auf der Ohnmacht desjenigen aus, der unten ist. Der Schmerz, der einem die Stärke gibt, um sich vorwärtszubewegen, wird auch zu einer Kraft, um gegen das, was einen verletzt hat, zurückzuschlagen.

SCHMITT: Die Unterdrückung, die in diesen Filmen dargestellt wird, geht tatsächlich über die Geschlechtergrenzen hinaus. Oft geht es um Formen sozioökonomischer Unterdrückung, und die Regisseure beschäftigen sich mit der Klassenfrage. Es gibt ein Motiv in Us, das sich durch den Film hindurchzieht, nämlich die sardonische Anspielung auf den Werbegag „Hands Across America“ aus der Reagan-Ära, ein nationaler Spendenaufruf, der angeblich dazu dienen sollte, Hunger und Obdachlosigkeit in den USA zu bekämpfen. In Us haben alle wichtigen Protagonisten mit einem Mittelschichtslifestyle (wie die Kernfamilie, die in Santa Cruz Urlaub macht) einen Schattencharakter, ihr „angekettetes“ anderes Selbst, wie du es genannt hast.

HOLLANDER: Diese „angeketteten“ Charaktere bewohnen in dieser Geschichte die „Unterwelt“ und inszenieren einen Aufstand gegen ihre Unterdrücker, oder allgemeiner gesagt, gegen das System, das sie in Ketten hält.

FAHRENHOLZ: Das hat mich an diesem Film wirklich verblüfft. Die Mittelschicht ist verunsichert, weil sie sich von ihren Unterschichtsavataren angegriffen fühlt; gleichzeitig verübt sie an diesen Avataren viele Grausamkeiten und rechtfertigt das damit, dass sie bedroht wird.

SCHMITT: Ich fand interessant, dass es in Us diese bösen „Anderen“ gab und zwischen beiden solange hin- und hergewechselt wurde, bis unklar war, wer eigentlich „böse“ ist. Im Grunde deutet das auf eine gesellschaftliche Abkopplung der Mittelschichtsidentität hin. Es ist eigentlich offensichtlich, aber vielleicht sollte man trotzdem darauf hinweisen, dass Us auch die US, die Vereinigten Staaten bedeutet.

HOLLANDER: Die Frage ist doch: Ist das Monster die Person, die (aufgrund der sozioökonomischen Wirklichkeit) in einer zutiefst beunruhigenden Lage steckt, oder ist das Monster die Person, die daran vorbeigeht und nichts dagegen unternimmt und die andere für ein Monster hält? Diese Spiegelung ist wichtig, weil man dadurch erkennt, dass die Privilegierten – die Besitzenden – monströs sind. Im Fall von Us repräsentiert die Figur der Adelaide viele Versionen dieser Rolle. Sie ist das Monster; sie ist wir.

SCHMITT: Wir haben die Beziehung zwischen den Charakteren in Us als „Ankettung“ bezeichnet – als zwei Seiten, die untrennbar miteinander verbunden sind. Das wird sehr deutlich in einer der letzten Szenen des Films, die du, Madeline, choreografiert hast. In dieser Szene wird die großartige Bühnenperformance einer Figur als Ballerina direkt verknüpft mit der Performance einer anderen Figur im Untergrund. Eine Parallele zu dieser Verknüpfung findet sich in Suspiria, in der unvergesslichsten Szene des Films, in der die Protagonistin Susie gebeten wird, einen körperlich sehr anspruchsvollen improvisierten Tanz aufzuführen, der irgendwie mit einer anderen Figur, Olga, verbunden ist, die in einem darunterliegenden Raum eingeschlossen wurde. Während Susie springt und sich dreht, sich streckt und tritt, wird Olgas Körper – der quasi an Susies Gliedmaßen gefesselt zu sein scheint – gegen die Wände geschleudert und quälend langsam zerfetzt. In beiden Filmen werden diese Charaktere buchstäblich zu Brei gemacht. Ein vergleichbares Ausmaß an visueller Aggression gegen den weiblichen Körper hat man in den letzten Jahren nicht gesehen.

HOLLANDER: Der schockierendste Aspekt dieser Szene ist, dass das Mädchen seine Handlungsmacht verliert. Die Choreografie und Regie sollten die Vorstellung vermitteln, dass ihr anderes, oberirdisches Selbst die Kontrolle hatte und dafür verantwortlich war, dass sie wie eine Marionette umhergeschleift und zerschmettert wurde. Als ich mit den Schauspieler*innen an der Choreografie dieser Sequenzen gearbeitet habe, ging es mir weniger darum, neue Bewegungsformen für sie zu entwickeln, sondern mit dem zu arbeiten, was für die Darsteller*innen ganz natürlich war, um dadurch den Charakter ihrer Filmfiguren zu evozieren. Als Erstes habe ich ihnen die Aufgabe gestellt: Geht ganz normal zehn Schritte vorwärts und rückwärts. So konnte ich sehen, welche Bewegungen sie von selbst machten, und diese Anlagen habe ich dann verstärkt. Es war, als ob ich einen starken Farbsättigungsfilter über alle Charaktere gelegt hätte, anstatt neue Sachen zu entwickeln.

Jordan Peele, „Us”, 2019, Filmstill / filmstill

Jordan Peele, „Us”, 2019, Filmstill / filmstill

FAHRENHOLZ: Ich mag diese Vorstellung vom Tanz als Grading-Filter.

SCHMITT: Du arbeitest also mit dem, was schon da ist, und setzt linkische Bewegungen frei, die man unbewusst vielleicht unterdrückt, um normal und angepasst zu wirken und nicht aufzufallen?

HOLLANDER: Regisseur*innen arbeiten mit Choreograf*innen zusammen, um die Anzeichen zu entwickeln, an denen man erkennt, dass eine Figur die Grenze der Normalität überschreitet. Man nutzt den Körper, um zu zeigen, wann sie diesen Punkt erreicht haben. Das beruht auch auf gesellschaftlichen Normen und auf der Gesellschaftsstruktur.

MIRABILE: Einverstanden! Ich habe in meiner Arbeit auch oft Anlass, etwas über die Gesellschaftsordnung zu sagen, wie wir sie kennen. Ich nutze auch ganz gewöhnliche soziale Interaktionen und übertreibe diese Bewegungen, um diese Motive weiterzuverwenden und sie dadurch vielleicht bewusst zu machen.

HOLLANDER: Bei den angeblich schockierenden Charakteren, die (in Us) die „Anderen“ darstellen, bin ich so vorgegangen, dass die persönlichen Eigenarten der Schauspieler*innen nicht ausgebremst wurden. Es gibt deshalb praktisch keine Spiegelung – kein Feedback, keine Kritik, keine Beurteilung.

SCHMITT: In diesem Fall versuchen die Choreografien also, ein Gefühl zu evozieren, das von einer inneren Kraft angetrieben ist, anstatt ein von außen vorgegebenes ästhetisches Ideal zu erreichen. Das war auch einer der Gründe für die Entstehung des Ausdruckstanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Suspiria spielt ausdrücklich auf diese Zeit an: Tilda Swintons Figur ist an Mary Wigman angelehnt, eine wegweisende Choreografin und Tänzerin der Moderne. Ihre Tanzbewegungen galten als hässlich und verzerrt, weil Wigman Ausdruckskraft wichtiger war als Schönheit. Man hat sie tatsächlich einmal wegen der „idiotischen Verrenkung der Gelenke“ in ihren Stücken kritisiert.

MIRABILE: Vielleicht ist Ausdruckstanz als Phänomen im Westen bekannter. Ich bin inspiriert von der Praxis des Butoh, einer Technik oder Antitechnik, die in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg aufkam. Die beiden wichtigsten Begründer des Butoh, Tatsumi Hijikata und Kazuo Ohno, reagierten damit anfangs auf die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki. Die Bewegungen im Butoh-Tanz wirken grotesk. Manche Leute übersetzen ihn mit „Tanz der Finsternis“. Er beruht auf der Vorstellung, dass die Bewegungen aus dem Inneren kommen, und das ist eben oft der finsterste Ort. Diese Praxis zelebriert den Versuch, durch Externalisierung mit den Kräften im Inneren umzugehen. Und ich glaube, es ist einer der schönsten Tänze, die ich je gesehen habe.

SCHMITT: Wir haben über die Vorstellung gesprochen, dass die „Besessenheit“ oder das Grauen von innen kommt, aber was ist mit den Kräften, die von außen einwirken?

HOLLANDER: Ich finde, eine der faszinierendsten Eigenschaften von Besessenheit ist, dass sie so unterschiedliche Formen annehmen kann. Ballett ist ein (für den menschlichen Körper) in vieler Hinsicht unmöglicher Sport. Es scheint fast, als würde die Musik – in diesem Fall Tschaikowsky – durch den Körper in eine andere Form gebracht.

SCHMITT: Wie eine Transmutation des Mediums?

HOLLANDER: Also, es muss nicht unbedingt die Musik sein. Es kann irgendeine Art von Energie sein. Es kann eine andere Person auf der Bühne sein oder die Beleuchtung oder das Vermächtnis der Rolle, die man einnimmt.

MIRABILE: Wenn ich tanze, fühle ich mich definitiv wie eine transformierte Version meiner selbst. Ich glaube, auf der körperlichen Ebene wird dabei ein Stresshormon wie Adrenalin ausgeschüttet. Der älteste Teil unseres Körpers ist der Hirnstamm. Wenn man eine traumatische Erfahrung macht, reagiert zuerst der Hirnstamm und schüttet Stresshormone aus, bevor der präfrontale Cortex überhaupt verstehen kann, was passiert ist. Die Stresshormone sollen zu Höchstleistungen verhelfen. Sie geben einem Superkräfte wie Stärke oder Geschwindigkeit, sodass man den Bedrohungen für Körper oder Geist entkommen kann. Das ist eine physiologische Reaktion, die nicht kognitiv gesteuert ist.

Was Besessenheit und das Erbringen von Opfern betrifft, habe ich die romantische Vorstellung, dass der Körper ein Vehikel dafür ist, was es bedeutet, lebendig zu sein und nicht einfach nur zu existieren. Ich stelle es mir gerne so vor, dass ich letztlich eine erlernte Verhaltensweise, die ich nicht mehr brauche, für etwas opfere, das poetischer und peripherer ist.

SCHMITT: Loretta, ich würde gerne genauer auf den Aspekt der Dokufiction deiner Arbeit zu sprechen kommen. Dokufiktion-Filme können unstimmig wirken, weil sie reale Personen und Orte in Realzeit zeigen, ihre Elemente jedoch als Fiktion darstellen. Es ist fast so, als würde die Wahrheit einer anderen Person zum Spektakel gemacht, weil man sie durch die Macht des eigenen Objektivs zeigt.

Loretta Fahrenholz, „Ditch Plains“, 2013, Filmstill / film still

Loretta Fahrenholz, „Ditch Plains“, 2013, Filmstill / film still

FAHRENHOLZ: Für mich geht es beim Filmemachen, wenigstens im postkinematischen Sinne, darum, mit der Realität so umzugehen, dass man Konflikte nicht schon glättet, bevor man überhaupt zu drehen anfängt. Ich glaube, dass die Reibungen im Film selbst sein müssen und nicht in einer vorgegebenen Botschaft oder Position. Die Ideen und Choreografien in Ditch Plains sind spontan entstanden. Die Herangehensweise, dass sich die Dinge vor und hinter der Kamera auf diese Weise entwickeln können, kann zu unvorhersehbaren, komplizierten Ergebnissen führen, aber das finde ich nicht negativ. Deshalb ermutige ich die Tänzer*innen auch, direkt in die Kamera zu sehen, weil es auch sehr darum geht, sich mit seinem eigenen Bild zu konfrontieren. Durch die Bewegungen und die Reaktionen darauf entsteht eine Feedback-Schleife. Aufgrund dieser Kreislaufbeziehung zur Kamera bekamen die Bewegungen der Tänzer*innen einen eher maschinellen, technischen Ausdruck und erinnerten weniger an einen emotionalen Selbstausdruck (der eher mit typischen Vorstellungen von modernem Tanz übereinstimmt).

SCHMITT: Das ist aufgrund der Beziehung zwischen Videodokumentation, Social Media und Dance Communities etwas entschieden Zeitgenössisches.

MIRABILE: Meine unmissverständliche Einstellung dazu lautet, dass die Kamera oft hinderlich ist, weil das Endprodukt der Dokumentation (im Bereich der Performance Art) fast nie zeigt, was in der schweißtreibenden Hitze der Situation im Raum wirklich passiert ist. Das ist eine ständige Enttäuschung.

SCHMITT: Der Anlass zu diesem Gespräch war allerdings das wiederkehrende, etablierte Verhältnis zwischen Kinofilm und Tanz, also einem Tanz, der nicht auf der Bühne stattfindet, sondern für den Film inszeniert wird (oder in deinem Fall selbst aufgezeichnet und archiviert wird). Sobald eine Kamera im Spiel ist, geht es darum, ein Bild zum Zweck der Vervielfältigung und Wiederholung zu erzeugen und aufzuzeichnen.

MIRABILE: Ich finde, dass man beim Film die Kontrolle über das Bild hat, in dem Bewegung und Tanz zu einem Teil der Komposition werden, was die Aussagekraft nicht verringert, sondern sie zwangsläufig steigert. Das filmische Bild hat ein Motiv, das die Psychologie des Körpers in einem bestimmten Kontext einfängt. Wenn ich an Performances arbeite, die gefilmt werden, bitte ich die Performer*innen oft, in die Kamera zu sehen wie in ein Gesicht, auf das sie reagieren. Der Gesichtsausdruck spielt in meiner Praxis eine große Rolle. Ich möchte beim Gegenüber eine Reaktion auslösen.

SCHMITT: Das ist interessant, weil Madeleine, soweit ich weiß, die Konzentration auf den Gesichtsausdruck oft verhindert oder einschränkt.

MIRABILE: Jemandem in die Augen zu sehen, ist sehr wirkungsvoll. Ich glaube, es hat damit zu tun, gesehen und gehört zu werden und jemand anderen zu sehen und zu hören. In der Theorie klingt das weniger aggressiv, als es in der Praxis ist, vielleicht weil wir gelernt haben, Bemerkungen zu ignorieren. Ein Statement zu machen, indem man den Blick erwidert, ist ein politischer Akt, weil es bedeutet: „Ich bin wertvoll“ oder „Ich bin hier“, „Ich bin lebendig“. Vielleicht ist es auf poetische Weise idealistisch und gleichzeitig ein Kick, aber im wirklichen Leben ist es immer noch gefährlich. Im Film oder in den durchgeplanten darstellenden Künsten ist es sicherer. Ich würde gerne glauben, dass wir damit heute schon weiter sind, aber ich bin mir da nicht sicher.

Übersetzung: Barbara Hess

Titelbild: Luca Guadagnino, „Suspiria“, 2018, Filmstill