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FLORIAN SCHNEIDER (1947–2020) Uwe Schütte

Florian Schneider, 1978

Florian Schneider, 1978

Für den Guardian bedeutete der Tod von Florian Schneider front-page news. Kein Wunder, gilt Kraftwerk doch in Großbritannien als so einflussreich wie die Beatles. Offiziell verließ Schneider die Band 2008 – nach nahezu 40 Jahren kreativer Kooperation mit Ralf Hütter –, doch das Interesse an Kraftwerk hatte er wohl schon viel früher verloren. Schneider, das zeigten die zahlreichen Reaktionen auf seinen Tod, galt als innovativer Kopf hinter der ‚industriellen Volksmusik‘ aus Düsseldorf. Pionier einer revolutionären Musikform zu werden, schien ihm durchaus in die Wiege gelegt: die privilegierte Herkunft war jedoch Segen und Fluch zugleich. Sein Vater, der Nachkriegs-Star­architekt Paul Maximilian Heinrich Schneider von Esleben nahm den längst verlorenen Adelstitel aus Renommiergründen wieder an; sein Sohn wiederum legte den zweiten Familiennamen ab. Ein Signal, um als Künstler Unabhängigkeit vom übermächtigen Vater zu demonstrieren, wobei Schneider durchaus mit einem gewichtigen Pfund seiner Herkunft zu wuchern verstand: der engen Vertrautheit mit Kunst und Kultur.

Nicht nur Beuys, auch andere Koryphäen der Düsseldorfer Kunstakademie gingen in der elterlichen Villa ein und aus. Was der Vater aus Glas und Stahl baute (etwa den Flughafen Köln/Bonn), formte der Sohn quasi in synthetischen Klangkathedralen mit eminentem Gespür für Minimalismus und Modernismus nach. Kraftwerks nüchterne Ästhetik, überhaupt die Idee, die neue ‚industrielle Volksmusik‘ als Beitrag zur transnationalen Sprache der Popmusik durch ein Denken in Designkonzepten hervorzubringen, war wesentlich das Verdienst Schneiders.

Dies auch deshalb, weil er es war, der den Beuys-Schüler Emil Schult als inoffizielles Mitglied an Bord holte. Schult trug maßgeblich dazu bei, dass Kraftwerk eine verkunstete Form der Popmusik entwickelte, die die Band ab Ralf & Florian (1973) einen Sonderweg beschreiten ließ, der im 21. Jahrhundert – dank Unterstützung durch Sprüth Magers – im MoMA und in anderen Hochkulturinstitutionen mündete. Schults unverzichtbare Rolle bei der Erarbeitung des Gesamtkunstwerks Kraftwerk aber unterschlugen Schneider und Hütter in derselben gutsherrlichen Weise, mit der sie ihre angestellten Mitmusiker Karl Bartos und Wolfgang Flür behandelten, ohne deren Beiträge die bahnbrechenden Alben von Trans Europa Express (1977) bis Computerwelt (1981) nicht hätten entstehen können.

Nichtsdestotrotz ist unbestreitbar, dass Kraftwerk der Popmusik nur deshalb ab der zweiten Hälfte der 1970er eine neue Richtung vorgeben konnte, weil die Partnerschaft von Hütter/Schneider den kreativen Kern bildete. Letzterer übernahm dabei den Part des Tüftlers, Bastlers, Fricklers: Schneider war der Techniker im Kling-Klang-Labor und der Sounddesigner von Kraftwerk. Gerade aber der so unerhört neue Elektroniksound war für die epochemachende Bedeutung von Kraftwerk wichtiger, als die Melodien und Rhythmen es waren, für die eher Hütter samt der Bandmitglieder zweiter Klasse zuständig war. Für nichts Geringeres als für eine Revolution der Popmusik war Schneider durch seine Faszination für Sprachsynthese verantwortlich: Als er Mitte der 1970er Jahre damit zu experimentieren begann, konnte er kaum ahnen, dass die künstlichen Vocals einen bis heute andauernden Siegeszug im Pop antreten würden.

Schneider besaß eine unersättliche Neugier auf neue Synthesizer, Musikmaschinen, Effektgeräte und so weiter. Genug Geld für deren Anschaffung war vorhanden. Viele Jahre konnte Kraftwerk nicht zuletzt deswegen die Avantgarde der elektronischen Popmusik bilden. Allerdings kam es darauf an, was man mit den Geräten anstellte. Beispielsweise ergab sich aus Schneiders Experimenten mit einem neuen Frequency Shifter der gnadenlos hämmernde Track „Nummern“, und damit nichts weniger als die Vorwegnahme von Techno im Jahre 1981. Populäre Gadgets hatten es ihm besonders angetan: die putzige Anschaltmelodie seines Speak & Spell-Geräts sampelte Schneider kurzerhand für Computerwelt, mit „Taschenrechner“ schrieb er eine Apotheose an seinen Texas Instruments-Kalkulator. Die Textzeile „Am Heimcomputer sitz ich hier / Programmier die Zukunft mir“ konnte er dichten, da er einen PC besaß, als diese für die meisten noch unerschwinglich waren.

Das konzeptuell ambitiöseste Album Kraftwerks, Radio-Aktivität (1975), trägt den Soundstempel von Schneider am deutlichsten: ein Avantgarde-Hörstück, das die elektronischen Sprachforschungen eines Werner Meyer-Eppler sowie Stockhausens Klangexperimente im Umfeld des legendären WDR-Studios für elektronische Musik aufgriff, um daraus eine epochal neuartige Musik zu schaffen, die Kunstansprüchen genügte, zugleich aber eminenten Pop-Appeal besaß.

Nicht nur übersetzten Hütter und Schneider auf genialische Weise „E“ in „U“, Avantgarde in Pop sowie Kunst in Unterhaltung. Sie schufen damit zugleich auch ein Klangdesign, an das in den 1980ern erst britische Synthie-Bands und dann afroamerikanische Producer höchst produktiv anknüpfen konnten. Der posthumane Elektrosound der Kraftwerk’schen Mensch-Maschine war kalte Computermusik. Für die späteren Technomusiker aus Detroit jedoch klang sie wie eine Offenbarung – wundersame Zukunftsmusik ohne ‚Wurzeln‘, ohne racial connotations. „European art music, cast in the role of an alien power source“ [1] , wie der Technoforscher Robert Fink formulierte.

„Europäische Kunstmusik“ machte Kraftwerk aber auch deshalb, weil die Musiker, angeregt durch die Düsseldorfer Galerienszene, früh schon die Pop Art von Warhol entdeckt hatten und mit dem Kling-Klang-Studio eine Art rheinische Version der Factory entwickelten. Die Pylonen auf den Covern der drei Frühphase-Alben von 1970 bis 1973 zitierten Warhols Serialität; der mit Pop Art vertraute Emil Schult half dem Kernduo dabei, das Konzept von Popmusik als Kunst fortzuentwickeln. Mit Autobahn (1974) begann der Paradigmenwechsel durch Kraftwerks elektrifizierte Krautrock-Abspaltung; Hütter und Schneider machten die Musik, Schult schrieb den berühmten Text und malte das ikonische Covergemälde – fertig war das erste kleine Pop-Gesamtkunstwerk.

Das Œuvre retrospektiv betrachtend, ist es schwierig, vielleicht unmöglich zu sagen, wer stärker zum Gelingen von Kraftwerks Konzeptkunst beitrug – Ralf & Florian bildeten eine Einheit wie Gilbert & George. Dass Schneider seinem Kollegen zunehmend die Rolle von Frontmann und Bandsprecher überließ, war weniger einem Dominanzstreben Hütters geschuldet, als vielmehr der Menschenscheu von Schneider. Er verkörperte den Typ des Nerds: Was ihn interessierte, betrieb er obsessiv, so wie etwa die Sprachsynthese. Oder wie das Rennradfahren: Nachdem er durch Gründung der Radsportgruppe Schneider den Rennradvirus eingeschleppt hatte, investierten er und Hütter ab den 1980er Jahren mehr Zeit und Energie ins Fahrradfahren als in die Musik von Kraftwerk.

Nach Schneiders Ausstieg aus der Band 2008 schickte Hütter ihr gemeinsames Performance-Kunstprojekt Kraftwerk auf eine Art globale Dauertournee. Als audiovisuelles Spektakel samt retrofuturistischer 3-D-Videos und kristallklarem Elektrosound aus 38 Kanälen manifestierte sich das einstige Versprechen der Band in einem neuen Höhepunkt ihrer eigenen Geschichte: „Es wird immer weitergeh’n / Musik als Träger von Ideen“. Es steht freilich zu vermuten, dass Schneider die Kuratierung des Kraftwerk’schen Œuvre in den beiden Der Katalog-Boxen von 2009 und 2017 als eine Art ‚Nachlass zu Lebzeiten‘ ebenso unvereinbar mit seinen eigenen Vorstellungen vom einstmals bahnbrechenden Kunstprojekt Kraftwerk ansah wie die von Hütter betriebene Musealisierung der Band durch Selbstübertreffungs-Performances in den Kunsttempeln.

Schneider beschäftigte sich nach seinem Bandausstieg vielmehr mit Industriedesign und sammelte alte Lampen. Zwar tauchte er noch regelmäßig auf Synthesizer-Fachmessen auf und veröffentlichte 2015 den passablen Track „Stop ­Plastic Pollution“ zugunsten einer Umweltschutzorganisation, pflegte aber in seinem letzten Jahrzehnt den zurückgezogenen Lebensstil eines Privatiers, der – oft skurril gekleidet wie ein exzentrischer Gentleman – unerkannt und unbehelligt durch Düsseldorf vazierte, um Eisdielen zu besuchen oder mit seinem Scooter auf dem Markt am Carls­platz einzukaufen. Düsseldorf – das war nicht nur Schneiders Heimatstadt. In Düsseldorf hatte damals auch, maßgeblich durch ihn beeinflusst, die Zukunft der elektronischen Musik begonnen.

Uwe Schütte

Anmerkungen

[1]Robert Fink, „The Story of ORCH5, or, the Classical Ghost in the Hip-Hop Machine“, in: Popular Music, 24, 2005, S. 352.